Betriebsräte als GAU für Unternehmen

Florian Rustler
creaffective
Published in
7 min readDec 10, 2018

Als externe Facilitator und Berater arbeiten wir mit unseren Kunden oft in Form von moderierten Workshops, in denen wir mit Vertretern unserer Kundenunternehmen Lösungen auf Fragestellungen der Organisationen entwickeln. Die Teilnehmer dieser Workshops sind dabei nicht immer lediglich Führungskräfte, sondern Vertreter aus unterschiedlichsten Hierarchieebenen.

In vielen Workshops kommen wir dann an einen Punkt, an dem wir mit den Teilnehmern bereits ein Lösungskonzept erarbeitet haben und nun überlegen, wie die nächsten Schritte der Umsetzung im Unternehmen aussehen.

Es gibt dann einen Satz, der wie eine Killerphrase wirkt und den Teilnehmern schnell die Energie entzieht, an der Lösung weiterzuarbeiten: „Dafür müssen wir den Betriebsrat einbinden.“ Dieser Satz ist kürzlich in einem Kreativworkshop gefallen als es darum ging, einen Raum für flexibles Arbeiten zu pilotieren. Da es sich bei einem Raum um Arbeitsmittel handele, müsse der Betriebsrat eingebunden werden, auch wenn es sich um ein komplett abteilungsinternes Projekt handelt.

Inzwischen habe auch ich Angst vor diesem Satz. Denn immer, wenn ich ihn höre bedeutet dies lange Wartezeiten, Aufwand, Bürokratie und Machtrituale. Es wird verhindert, dass effektiv und in angemessener Zeit gehandelt werden kann.

Ich hoffe sehr, dass es in der Zukunft in Unternehmen keine Betriebsräte mehr geben wird, weil wir diese nicht mehr brauchen. Wir brauchen sie nicht mehr, weil Menschen in einer zukunftsbereiten Organisation eine Form der Zusammenarbeit gefunden haben, welche den Grund der Existenz heutiger Betriebsräte besser adressiert als Betriebsräte dies heute tun.

Wenn sie doch wieder entstehen würden, dann wäre das der GAU für ein jedes Unternehmen, weil es zeigen würde, dass die Organisation doch wieder dysfunktional und krank geworden ist und die grundlegende Steuerung des Unternehmens nicht mehr funktioniert.

Aber nun der Reihe nach.

Ich erkenne an, dass es in den meisten Unternehmen heute diese Krücke des Betriebsrats braucht. Die Art, wie in vielen Organisationen Kollaboration stattfindet, ist so dysfunktional, dass es absolut logisch und gerechtfertigt ist, dass sich Betriebsräte bilden.

source: gary vin / Shutterstock.com

Warum sind Betriebsräte entstanden?

Ein Betriebsrat ist ein institutionalisierter Weg, der es ArbeitnehmerInnen ermöglicht, in einem Unternehmen bei Fragestellungen mitzubestimmen, die die Arbeitnehmer betreffen. Es geht also darum, Menschen die Möglichkeit zu geben, Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen, von denen sie betroffen sind.

Von der Zeit an, als die ersten Betriebsräte entstanden sind, bis heute gibt es in vielen Organisationen eine Denkweise, die durch die beginnende Industrialisierung geprägt wurde: In einer Organisation gibt es eine kleine Kaste an Menschen, die Entscheidungen trifft und einen Großteil an Menschen, die die Entscheidungen einfach auszuführen hat. Das kam einmal aus dem Umstand, dass es in einem hierarchisch organisierten Unternehmen in einem stabilen Umfeld am effizientesten ist, wenn oben eine Entscheidung getroffen wird und der Rest der Organisation diese umsetzt. Zum anderen entsprach diese Vorstellung auch der damals verbreiteten, patriarchalischen Denke, dass man die Betroffenen nicht einbinden müsse, weil ihnen, genau wie kleinen Kindern, die geistige Reife für solche Entscheidungen fehlt. Außerdem würden die Arbeiter ja gegen das Wohl des Unternehmens entscheiden. Daher könne man die Mitarbeiter als Unternehmensführung nicht an Entscheidungen beteiligen.

Diese Zentralisierung von Macht auf eine kleine Gruppe von Menschen führte irgendwann dazu, dass es eine Gegenbewegung aus dem System gab und „Arbeiter“ sich gegen die systematische Missachtung ihrer Interessen zur Wehr setzten. Daraus sind Betriebsräte entstanden, die nun auch gesetzlich verankert dafür sorgen, dass die Interessen von Arbeitnehmern im Unternehmen berücksichtigt werden.

Betriebsräte sind also deshalb entstanden, weil in der Vergangenheit systematisch das Prinzip der Gleichstellung verletzt wurde und Entscheidungen getroffen wurden, die die Bedürfnisse der Arbeitnehmer zu wenig berücksichtigten.

Das Prinzip der Gleichstellung besagt, dass Menschen, die von einer Entscheidung betroffen sind in die Entwicklung der Entscheidung einbezogen werden müssen.

Bis heute ist es weit verbreitet, dieses Prinzip zu missachten, oft aus einer Unkenntnis, wie das praktisch zu organisieren ist: „Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder mitreden könnte?“, „Da bricht ja totales Chaos aus und jeder kann machen was er will.“

Weil dieses zentrale Prinzip ständig verletzt wurde, haben sich Betriebsräte als ein Weg herausgebildet, um es zu gewährleisten.

Die Form des Betriebsrates ist aus meiner Sicht eine Krücke, um das Prinzip der Gleichstellung zu adressieren. Diese Krücke war bislang das Beste, was uns als Gesellschaft eingefallen ist. Dennoch ist und bleibt es eine Krücke, deren Unzulänglichkeiten für mich immer offensichtlicher werden:

  • Betriebsräte werden für das ganze Unternehmen gewählt und haben den Anspruch die Interessen aller Arbeitnehmer zu vertreten. Die Interessen der Arbeitnehmer können jedoch von Situation zu Situation sehr unterschiedlich sein. Je nach Kontext sind „die Arbeitnehmer“ keine einheitliche Gruppe. Damit verletzen auch Betriebsräte das Prinzip der Gleichstellung! Es sind nun nicht die von einer konkreten Entscheidung Betroffenen in der Lage, die Entwicklung der Entscheidung zu beeinflussen, wie im obigen Beispiel des Raumkonzeptes. Stattdessen gibt es erneut ein abstraktes Gremium, dass eine Entscheidung für die Betroffenen angeblich in deren Interesse trifft. Die Infantilisierung einzelner Menschen findet also weiterhin statt.
  • Dieses Repräsentationsprinzip führt automatisch dazu, dass Interessen von Einzelnen abstrahiert werden und der Betriebsrat dem einzelnen Kontext oft nicht gerecht werden kann. Es werden dann Entscheidungen getroffen, die im konkreten Kontext suboptimal sind.
  • Die Institutionalisierung des Betriebsrats führt wiederum zur Konzentration von Macht auf wenige Betriebsräte. Menschen sind nicht dafür gemacht, zu viel Macht zu haben und diese Macht integer zu nutzen. Meist führt dies dazu, dass die Mächtigen korrumpiert werden und an Ihrer Macht als Selbstzweck festhalten. Dies ist bei Betriebsräten nicht anders.
  • Ein institutionalisierter Betriebsrat, der in einem großen Unternehmen eine große Zahl an Menschen und deren Interessen vertreten soll, muss Prozesse der Steuerung und Entscheidungsfindung organisieren, um eine gewisse Effizienz zu gewährleisten. Dies führt dann wiederum zu Bürokratie und zu, für die Betroffenen, sehr unbefriedigenden und ineffizienten Entscheidungsfindungsprozessen. Allein einen Termin beim Betriebsrat zu bekommen dauert Wochen, um sein Anliegen überhaupt vorzustellen. Dann dauert es ein paar weitere Wochen, bis sich das Gremium erneut getroffen hat, um über das Anliegen zu beraten. Die Idee, ein Raumkonzept zu pilotieren, das alle Beteiligten der Abteilung mittragen wollten, hat so fast fünf Monate warten müssen. Der Betriebsrat musste eingebunden werden, um seine Zustimmung zu einer Entscheidung zu geben, die die wirklich Betroffenen schon längst gefällt hatten.

Menschen können Zusammenarbeit besser organisieren!

Zusammengefasst behaupte ich, dass Betriebsräte zwei große Pferdefüße haben:

Sie verletzen durch ihre Struktur das Prinzip der Gleichstellung, das sie eigentlich wahren möchten.

Betriebsräte verletzten das Prinzip der Gleichstellung deshalb, weil sie — wie die meisten Unternehmen auch — von einer Zentralisierung von Entscheidungsmöglichkeiten gedacht sind. Die Wahrung der Interessen der Arbeitnehmer wird zentralisiert in das Gremium eines Betriebsrats.

Dieses Prinzip der Zentralisierung hat zu Beginn der Industrialisierung und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gut funktioniert, weil sich Unternehmen in einem relativ stabilen Umfeld mit bekannten Einflussgrößen befunden haben.

Heute funktioniert dieses Steuerungsweise von Unternehmen in immer mehr Kontexten immer weniger. Das haben viele Unternehmen erkannt und versuchen nun mit agilen Methoden, das operative Tagesgeschäft besser zu organisieren.

Das ist ein erster Schritt und greift trotzdem zu kurz! Es wird auch in Unternehmen, die nun agil arbeiten, immer offensichtlicher, dass es nicht nur eine andere Art braucht, wie die operativen Prozesse organisiert werden. Es benötigt eine andere Art der Unternehmens-Steuerung, die es dem ganzen Unternehmen erlaubt, sich schnell und effektiv an sich verändernde Umstände anzupassen (= Agilität). Das bedeutet konkret, dass auch die Art der Entscheidungsfindung, die zukünftige Entscheidungen und Handlungen des Unternehmens steuern (= Governance) dezentral organisiert werden kann und in vielen Fällen müsste. Das bedeutet, es braucht mehr Selbstorganisation, nicht nur im operativen Tun des Unternehmens, sondern auch in der Struktur und der Entscheidungsfindung im Unternehmen.

Leuchttürme besserer Zusammenarbeit

Ich glaube, dass wir die Zukunft menschlicher Zusammenarbeit und Organisationen nicht mit den gewohnten Herangehensweisen aus dem 19. Jahrhundert organisieren können. Es braucht andere Methoden, die der sich dynamisch verändernden Zeit gerecht werden. Das ist kein Wunschdenken und keine Utopie. Diese dezentraleren Formen, um die Zusammenarbeit von Menschen zu organisieren, gibt es bereits, wenn auch nicht sehr verbreitet. Sowohl in großen Unternehmen mit tausenden von Mitarbeitern (z.B. Semco, W. L. Gore & Associates), als auch in mittelständischen Organisationen (12 davon habe ich in meinem Buch Innovationskultur der Zukunft vorgestellt) und in Kleinunternehmen (wie wir von creaffective).

Es gibt dazu kodifizierte Systeme, wie eine solche Zusammenarbeit zu organisieren ist, wie die klassische Soziokratie, die seit einigen Jahren bekannte Holakratie oder das aus meiner Sicht flexibelste Ansatz der Soziokratie 3.0, einer Weiterentwicklung der klassischen Soziokratie mit Elementen aus dem Lean Management und agiler Arbeitsweisen.

Diese zukunftsbereiten Organisationen arbeiten mit anderen Verfahren, um die Gleichstellung sicherzustellen, die die Krücken-Effekte von Betriebsräten nicht aufweisen. Zum Beispiel sind das die Einrichtung von Delegationskreisen bei Themen, die mehrere Teams betreffen. Diejenigen, die von einer Entscheidung betroffen sind, werden eingebunden. Damit es nicht eine endlose ineffektive Diskussion gibt, wird nach dem Konsent-Prinzip entschieden. Ein Vorschlag wird dann angenommen, wenn keine unbeabsichtigten negativen Konsequenzen erkennbar sind und im Moment keine Verbesserungsmöglichkeit erkennbar ist, die eine weitere Diskussion rechtfertigen würde.

Holland zum Beispiel hat dies auch gesetzlich anerkannt und stellt soziokratisch organisierte Firmen frei von der Notwendigkeit eines Betriebsrats.

In einer solchen zukunftsbereiten Organisationsform wäre es in der Tat der größte anzunehmende Unfall, wenn sich ein klassischer Betriebsrat bilden würde. Dies würde bedeuten, dass die Organisation es nicht geschafft hat, Gleichwertigkeit wirklich sicherzustellen und sich gegen zentralisierte Machtstrukturen durchsetzen.

Gleichzeitig erkenne ich an, dass in vielen Firmen Betriebsräte absolut notwendig sind, weil diese Unternehmen strukturell nicht in der Lage sind, die Interessen der Arbeitnehmer bessern zu berücksichtigen.

Lasst uns an einem Upgrade dieser Strukturen arbeiten!

--

--

Florian Rustler
creaffective

Florian Rustler is founder of creaffective Europe and Asia, consultant, book author and speaker. He supports organizations to co-create effective collaboration.