Selbstorganisation in Unternehmen

Florian Rustler
creaffective
Published in
7 min readOct 2, 2018

Im Kern meines Buches „Innovationskultur der Zukunft“ befasse ich mich mit der Frage, wie Innovation in selbstorganisierten Unternehmen funktioniert und was eigentlich selbstorganisierte Unternehmen auszeichnet. Um vernünftig darüber diskutieren zu können, möchte ich etwas Klarheit in die verschiedenen kursierenden Begriffe bringen.

Am 22. und 23. November 2018 beschäftigen wir uns auch im Rahmen der FourSpaces Playground Konferenz mit der Frage, was es braucht, um mehr Elemente von Selbstorganisation in Unternehmen zu bringen.

Speaker auf der FourSpaces Playgound Konferenz

Unten stehend poste ich einen Auszug aus dem Buch.

Bis heute gibt es für mich keine eindeutige Definition und kein eindeutiges Verständnis, was genau unter Selbstorganisation verstanden wird.

Es kursieren Begriffe wie Selbstorganisation, Selbstmanagement, kollegial geführte Unternehmen, demokratische Unternehmen etc. Dann mischen sich Begriffe wie Scrum und agile Organisation mit hinein und vergrößern die Gefahr von Missverständnissen.

Buch: Innovationskultur der Zukunft

Eine grundlegende Unterscheidung

Für meine Begriffsklärung möchte ich eine fundamentale Unterscheidung heranziehen zwischen Projektorganisation/Ablauforganisation und Aufbauorganisation. Diese Unterscheidung stammt nicht von mir, sondern sie ist in der BWL wohlbekannt.

Unter Ablauforganisation verstehe ich, wie im operativen Tun Projekte gesteuert und bearbeitet werden. Aufbauorganisation dagegen besagt für mich, wie das Unternehmen selbst strukturiert ist und wie die Macht im Unternehmen verteilt ist.

Es ist möglich, die Ablauforganisation eines Unternehmens zu verändern, ohne die Aufbauorganisation anzutasten. Ändert eine Firma dagegen die Aufbauorganisation, beeinflusst dies höchstwahrscheinlich auch die Ablauforganisation.

Die meisten agilen Methoden wie Lean und besonders Scrum verändern die Ablauforganisation. Scrum ist ein Vorgehen des Projekt- und Produktmanagements aus der Softwareentwicklung, das dort auch die größte Verbreitung erfährt. Im Scrum wird lediglich der Entwicklungsprozess agil gestaltet. Es gibt definierte Rollen wie den Scrum Master, den Product Owner und den Entwickler. Diese Rollen bleiben immer gleich — auch in ihrer Ausgestaltung. Außerdem kommen keine neuen Rollen hinzu. Ein Entwicklerteam, das nach Scrum arbeitet, wird dabei auch mit Fragen der Entscheidungsfindung und Führung in Kontakt kommen. Die Zusammenarbeit eines einzelnen Teams verändert sich, man spricht von selbstgesteuerten oder auf denglisch selbstgemanagten Teams. Eines der Kernprinzipien ist es dabei, alle zu Teammitgliedern zu machen und Hierarchieunterschiede möglichst zu reduzieren, da diese einer effektiven Kommunikation meist im Weg stehen.

Die gesamte Aufbauorganisation und die grundlegende Verfassung des Unternehmens werden davon jedoch erst einmal nicht berührt. Es gibt auch in einem Scrum-Team einen Teamleiter, der in das Gefüge der hierarchischen Aufbauorganisation passt. Firmen wie SAP oder Facebook entwickeln nach Scrum, sind jedoch von der Aufbauorganisation her klassisch hierarchische Unternehmen mit zentraler Steuerung, die man am ehesten dem orange Paradigma aus Kapitel 1 zuschreiben würde: »Scrum is far more compatible with the current form of power distribution. But senior management also have to let go of some authority to the Scrum Team. As I said earlier, the last call for prioritizing user stories is with the Product Owner. C levels will be consulted in a stakeholder role, not as the earlier ‘steering committee’.« (Seuhs-Schoeller C., Frischat S., Berg S., Pierucci S., 2016)

Dennoch begünstigt die Einführung von Methodiken wie Scrum eine Diskussion über Veränderungen der Aufbauorganisation. Jeff Sutherland, einer der Mitentwickler der Scrum-Methodik, schildert dies in einem Interview: »In fact, in my own company what’s happened is as Scrum has started to emerge in companies we’ve found that the thing that causes it not to work the most is the management hierarchy not changing. We’re just going to set up this cross functional self organizing team over here and expect it to by magic work without any help from management« (Sutherland, 2014).

Die Einführung von Scrum kann auch eine Umstellung der Aufbauorganisation im nächsten Schritt erleichtern: »I think it just has become clear that Holacracy has advantages for some companies with a very dedicated leadership team. For the most of us, however, Scrum proposes a system that is much more easily accessible, more direct to implement. It also has proven that companies that already use Scrum will make smoother transitions to Holacracy. Scrum is a safer bet, and you can still consider moving on to Holacracy later … more easily than if you take the direct route« (Seuhs-Schoeller C., Frischat S., Berg S., Pierucci S., 2016).

Das gleiche gilt für Lean, eine Produktionsphilosophie, die ursprünglich von Toyota stammt. Auch hier verändert sich die Art, wie Produktionsteams zusammenarbeiten. Es verändert sich jedoch nichts an der grundlegenden Struktur und hierarchischen Verfasstheit des Unternehmens. Aus diesem Grund sind klassisch hierarchische Unternehmen auch relativ gut in der Lage, diese agilen Methodiken der Ablauforganisation einzuführen. Dort werden die Vorgehensweisen vor allem als Prozessverbesserungen gesehen. Auch diese Sichtweise führt zu Herausforderungen, weil die kulturellen Aspekte der agilen Methoden vernachlässigt werden könnten.

Wenn ich für dieses Buch von Selbstorganisation und selbstorganisierten Unternehmen spreche, dann meine ich eine Veränderung der Aufbauorganisation. Selbstorganisation berührt hier die grundlegende Struktur, Machtverteilung und Entscheidungsprinzipien einer Organisation. Wie erwähnt, wird dadurch sehr wahrscheinlich auch die Ablauforganisation angepasst.

Eine Organisation, die selbstorganisiert ist, könnte möglicherweise aufgrund ihrer Organisationsmerkmale auf viele Aspekte der agilen Projektmanagement-Methoden verzichten:

»Agile practices become almost overkill in a teal organization, which have evolved their own agile practices which include agile values, but very many agile practices are no longer required. For example a single product owner« (Video: Lean and Agile Adoption with the Laloux Culture Model, Min. 7:00)

Definitionen von Selbstorganisation

Schauen wir uns an, was Selbstorganisation — so verstanden — alles umfasst. Einige Definitionen:

»Selbstorganisation bezeichnet die Fähigkeit eines Systems zur autonomen Strukturänderung. System und Umwelt sind strukturell gekoppelt. Ändert die Umgebung ihre Struktur, so wird das System gestört (irritiert). Es muss die eigene Struktur so verändern, dass die Störung kompensiert werden kann. Ein System hat die Eigenschaft der Selbstorganisation, wenn es seine Struktur mit eigenen Mitteln — also ohne Steuerung von außen — so ändern kann, dass die weitere Existenz gesichert wird.« (Wohland, 2006, S. 219)

Das Self-Management-Institut verwendet statt Selbstorganisation den Begriff Selbstmanagement:

»Self-Management, simply stated, is an organizational model wherein the traditional functions of a manager (planning, coordinating, controlling, staffing and directing) are pushed out to all participants in the organization instead of just to a select few.« (Website des Instituts)

Brian Robertson von HolacracyOne, vergleicht Selbstorganisation mit einem auf Organisationen bezogenen Betriebssystem:

»…focus on upgrading the most foundational aspects of the way the organization functions. For example, consider the way power and authority are formally defined and exercised, the way the organization is structured, and the way we establish who can expect what, and from whom — or who can make which decisions, and within what limits.« (Robertson, 2015, Pos. 25.7/386)

Im Kern verändert Selbstorganisation durch eine andere Struktur die Frage der Machtverteilung in Organisationen. Anstelle einer klassisch-pyramidalen Hierarchie mit einer nach oben hin immer kleiner werdenden Gruppe an Positionen (CEO, CTO, VP…) mit immer größerer Machtfülle sind Entscheidungsbefugnisse in selbst- organisierten Unternehmen auf viele Menschen verteilt. Man spricht auch von Systemen mit verteilter Autorität. Das bedeutet damit auch, dass die klassischen Managementaufgaben anders übernommen werden und nicht mehr auf eine Person und Position im Organisationschart konzentriert sind. Daher auch der Begriff der selbst-gemanagten Organisationen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt von Selbstorganisation ist die Möglichkeit von Einheiten eines selbstorganisierten Systems, sich nicht nur selbst zu organisieren (wie z.B. Scrum-Teams), sondern auch sich selbst zu verwalten (Self-Governance), d.h. innerhalb gegebener Parameter selbstständig ihre Struktur zu verändern. Ein Scrum-Team in einer klassischen Organisation kann seine Arbeit selbstständig organisieren, ohne dass (theoretisch) ein Außenstehender hineinreden kann. Das Scrum- Team kann jedoch von sich aus nichts an seiner Struktur und den festgelegten Rollen innerhalb des Teams verändern. In Unternehmen, die sich auf der Aufbauebene selbst organisieren, könnte das Team die Rollen verändern und z.B. den Scrum Master abschaffen und sich in Unterteams aufteilen.

Selbstorganisation ist nicht Teal

Weitere Aspekte, die in der Debatte oft gleichgesetzt werden, sind Selbstorganisation (wie oben definiert) und das Bewusstseinslevel Teal (siehe Kapitel 1), das durch Laloux so bekannt geworden ist. In Fach- kreisen wird von »Teal Organizations« gesprochen. Ich würde zustimmen, dass der Großteil aller als Teal eingestuften Unternehmen (wobei es hier kein anerkanntes Messinstrument gibt) selbstorganisiert ist. Die Firma Patagonia ist vermutlich ein Beispiel eines Teal Unternehmens, das eine klassisch hierarchische Struktur besitzt, in der Praxis aber fast selbstorganisiert funktioniert. Das bringen die Weltanschauung des Teal und im Falle von Patagonia die starke Bindung der Mitarbeiter an den gemeinsamen Zweck mit sich.

In einem Interview beschreibt Vincent Stanley, der seit Gründung des Unternehmens bei Patagonia ist, es so: »Patagonia has a traditional organization chart. However, people here are free to bring their whole intelligence to work. The way we function is similar to what a self-managed organization enables. Everything is very informal. We don’t have a very innovative structure but we encourage what a more innovative structure enables.« (Interview mit mir im Mai 2016)

Allerdings ist nicht jedes selbstorganisierte Unternehmen automatisch von einer Teal Kultur geprägt. Das ist meiner Meinung nach eher Wunschdenken der Teal-Anhänger. Die Fallstudie von Matt Black Systems in diesem Buch zeigt sehr deutlich, wie Selbstorganisation erfolgreich funktionieren kann, auch wenn der Architekt des Unternehmens — Julian Wilson — von Teal wenig hält. Er ist sogar der festen Meinung, dass es Teil der menschlichen Natur ist, untereinander in einem gewissen Wettbewerb zu stehen, und dass Vertrauen auch Kontrolle braucht und alleine nicht ausreicht. Auch einige der holakratischen Unternehmen, die ich für dieses Buch betrachtet habe, würde ich nicht diesem Paradigma zurechnen. Trotzdem handelt es sich um selbstorganisierte Unternehmen. Salopp gesagt, bedeutet eine Transformation hin zu Selbstorganisation auch nicht, dass das gesamte Unternehmen nun Meditationskurse besuchen und sich auf eine intensive Reise der Selbsterfahrung begeben muss. Dabei möchte ich nicht in Abrede stellen, dass diese Aktivitäten für eine Selbstorganisation sehr hilfreich sind und die Mitarbeiter sowie die Kultur des gesamten Unternehmens davon sehr profitieren können.

Bleiben Sie informiert

Wenn Ihnen dieser Text gefallen hat, melden Sie sich an für den creaffective Newsletter und erhalten Sie mehrmals pro Jahr Informationen rund um die Themen Innovation und Agilität.

--

--

Florian Rustler
creaffective

Florian Rustler is founder of creaffective Europe and Asia, consultant, book author and speaker. He supports organizations to co-create effective collaboration.