Der GPS-Tod in Venedig

Ein Plädoyer für den digital-analogen Flaneur

Lea Gimpel
Das gute digitale Leben
7 min readJul 15, 2015

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Venedig, die italienische Lagunenstadt, Sehnsuchtsort von Thomas Mann, Rückzugsgebiet von Ernest Hemingway und Heimathafen des großen Entdeckers Marco Polo, ist eine Quelle der Inspiration. Statt Autos fahren hier Gondeln, statt Straßen bewegt man sich zu Wasser. Oder, ganz profan: zu Fuß. Venedig, gebaut auf 118 Inseln, ist eine einzigartige Stadt. Mehr als 400 Brücken verbinden diese Inseln, um die 150 Kanäle tragen die Boote und ihre Passagiere ans Ziel, und über 3000 Gassen schlängeln sich durch die Stadt. Neben der atemberaubenden Architektur, der reichen Geschichte und den versammelten unsagbaren Kunstschätzen liegt hier der Reiz der Stadt — und ein Problem für alle Ortsfremden.

Denn genau hier, zwischen den vielen Gässchen, Kanälchen und Brückchen, verliert der geneigte Tourist, von dem es in Venedig nun nicht wenige gibt, die Nerven. Venedig mag viele Probleme haben — eins davon ist sehr simpel: Mit Googlemaps und dergleichen kommt man hier nicht weit. Zwar hat Google eine Handvoll Mitarbeiter mit einem 360°-Kamera-Rucksack ausgestattet die “Perle der Lagune” zu Fuß und per Boot erkunden lassen — insgesamt wurden 426 km laufend und 183 Kilometer zu Wasser zurück gelegt — sodass seit 2013 Google Streetview auch für Venedig verfügbar ist. Erstens aber ist man dennoch enttäuscht, denn zumindest in der Streetview-Ansicht von GoogleMaps ruckelt es viel zu oft. Und zweitens ist diese Stadt einfach nicht zu fassen. Aus vielerlei Gründen.

Analoge Karten von Venedig zeigen ca. 30–50% der vorhandenen Gassen der Stadt, sagt unser Guide Aida von Venice Free Walking Tour. Und auch Googlemaps scheitert an der Kleinteiligkeit und den vielen Winkeln der Metropole. Denn für Venedig ist GPS mit einer Standortbestimmung auf fünf bis zehn Meter schlicht zu ungenau: Wenn Gässchen nur 70 Zentimeter breit sind und in dunkeln überdachten Durchgängen münden, wenn dicht nebeneinander liegende Wege sich in Labyrinthen verlieren, weiß auch das GPS nicht weiter und im Zweifelsfall endet man: in einer Sackgasse.

Kein untypisches Bild in Venedig: Sackgasse mit Kanalblick

So kann man in Venedig den Tod des GPS erleben, die Verlorenheit in einer Stadt, wie man sie sonst nur noch aus der Prä-Smartphone-Ära kennt: Touristen stehen vor imposanten Gebäuden im Juni-Nieselregen und kämpfen mit analogen Stadtkarten, die ihnen um die Ohren geweht werden und die ebenso ungenau sind wie die Angaben bei Googlemaps. Und Neuankömmlinge mit schweren Koffern starren böse auf ihre Smartphones, die partout nicht die richtige Straße des Hotels finden wollen. Denn Googlemaps und Co. sind zwar für die grobe Orientierung geeignet, durch den Straßendschungel der Stadt führt aber nur die eigene Intuition. Nach einigen Tagen hat man die Vermutung: Ans Ziel kommt man zwar damit, aber mit Sicherheit nicht auf dem kürzesten Weg.

Was also tun in solch einer Stadt? Die Wahl fällt nicht schwer, denn sie ist gar keine — schlussendlich kann man sich nur seinem Schicksal zu fügen und auf Entdeckungsreise begeben. Nehmen wir uns also Marco Polo zum Vorbild und mit der Neugier die beste Ratgeberin an die Hand. Sie führt uns in geschmächlichem Tempo von A nach B und lässt uns inmitten der hektischen Touristenmetropole kleine Schätze entdecken, abseits der üblichen Verdächtigen wie dem Markusplatz und der Rialto-Brücke. Zum Beispiel das ruhige Ufer an einem der Nebenarme des Canale Grande, welches zum Picknick einlädt oder kleine venezianische Restaurants, die sich am Ende einer schattigen Gasse verstecken und zum Verweilen einladen. Aida sagt, die beste Art der Fortbewegung in Venedig ist von Campo zu Campo, also von Platz zu Platz. Und Recht hat sie: Die Plätze dienten in früheren Zeiten als Kommunikations- und Gemeindezentren, an fast jedem steht eine Kirche oder ein anderes Gebäude der öffentlichen Hand — was der Wiedererkennbarkeit des Ortes zuträglich ist. Denn in Venedig sind die Häuser den Wasserstraßen zugewandt, ihre prächtigen Eingangsportale sieht man nur vom Boot aus; durch die Gassen kamen die Dienstboten und Angestellten ins Haus. Und die musste man natürlich nicht beeindrucken. Einzige Ausnahme: die Kirchen auf den Campi. Sie schauen den Fußgänger mit ihrem “Gesicht” an, nicht mit dem Popo wie die Adelshäuser. Und so erkennt derjenige, der im Kreis läuft und den richtigen Weg sucht, eben eine Kirche einfacher wieder als eine graue Gasse. So einfach ist das.

Beim gemächlichen Wandern durch die Lagunenstadt muss ich unweigerlich an die Flaneure von Charles Baudelaire, Franz Hessel und Walter Benjamin denken. Jene großen Denker, die in ihren Werken zwar unterschiedliche Interpretationen dieser literarischen Figur präsentierten, deren Kern aber doch der gleiche ist: Es geht ihnen um das ziellose Schlendern, um das sich Treibenlassen in der Menge, das Beobachten der Straßen und Passanten in der Großstadt. Dem Verlieren in Häuserschluchten und an unbekannten Orten. Um die “Lektüre der Straße”, wie es Hessel so schön formulierte. Die Stadt als Text, der sich in den Flaneur einschreibt, der mit jedem Schritt gelesen wird und dessen Straßen ein Abbild der Welt sind, das augenblicklich an Tiefe gewinnt — mit dem Flaneur wurde insbesondere von Benjamin die Figur der Moderne schlechthin geschaffen. Doch was wäre sie mit einem Smartphone gewesen?

Die Effizienz, mit der wir heute durch die Straßen unserer Lebens-, Wohn- und Arbeitsorte navigieren ist kaum zu übertreffen — doch ab und zu stellt sich die Frage: Wozu die Eile? “Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung,” schreibt Franz Hessel in “Spazieren in Berlin” aus dem Jahr 1929. Geändert hat sich an diesem Hochgefühl auch im Jahr 2015 nichts.

Doch die Diktatur der Navigations-Apps wie GoogleMaps lässt uns bei der Suche nach der richtigen Strecke von A nach B nur selten eine Wahl — beziehungsweise die Wahl zwischen Pest und Cholera aka “schnellste Strecke” versus “kürzeste Strecke”. Das Entdecken des Unbekannten, das Treibenlassen, bleibt auf der Strecke. Zeit, uns ein Stück Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zurückzuerobern. Aber bitte nicht falsch verstehen: Ich finde GoogleMaps in vielen Fällen großartig und ein Leben vor dem Smartphone erscheint mir manchmal sehr sehr weit weg. Doch wenn Zeit is, warum nicht einmal etwas anderes probieren? Selbst für diesen analogen geografischen Tapetenwechsel gibt es inzwischen App-Unterstützung.

Drift” ist eine Erfindung des Künstlerkollektivs “Broken City Lab” aus Toronto (leider bisher nur für iPhone erhältlich). Die App funktioniert als Anleitung, um sich an bekannten Orten zu verlaufen, in dem sie zufällig Anweisungen wie “Laufe nach Osten bis zur übernächsten Straßenkreuzung” und “Biege links ab” kombiniert. Eingebaut ist ein Kompass und die Möglichkeit aus der App heraus Fotos zu machen und per Mail oder Tweet zu versenden.

Mit der App “Dérive”, Französisch für “Drift”, gibt es einen weiteren Helfer, der spielerische Anleitungen für den Flaneur zusammenstellt und dabei minimalistisch daherkommt. So entstehen Zufallsrouten in Städten von Kampala über New York bis Dubai. Außerdem gibt es eine angeschlossene Community, in der man eigene Vorschläge posten kann.

Um Entdeckungen in der eigenen Stadt geht es auch bei der App “Happy Maps”, die leider noch nicht zu haben ist. Sie wartet zwar nicht mit spielerischen Anleitungen zum Verirren auf, aber schlägt schönere Routen durch den Großstadtdschungel vor, um von A nach B zu kommen. Denn nicht immer ist die schnellste Route auch die schönste — und wer bevorzugt nicht den Weg durch blühende Parklandschaften im Vergleich zur vierspurigen Straße? Ziel ist es, Wege zu finden, die Menschen glücklich machen. Dazu haben die Forscher hinter dem Projekt unter anderem Millionen von Flickr-Fotos und Tweets ausgewertet. Bei TEDx erklärt Daniele Quercia, der übrigens für Yahoo! arbeitet, seinen Ansatz:

Und last but not least geht das Ganze natürlich auch analog. Und hat vielleicht sogar noch mehr Charme. Denn selbst mit Flanier-App geht man doch noch immer gebeugt durch die Straßen. Ellen Keith, eine Grafikdesignerin aus San Francisco, hat dafür die “Flaneur Society” gegründet und mit dem kleinen Büchlein “The Guide to Getting Lost” eine grafisch sehr ansprechende Anleitung zum Schlendern in der Stadt herausgebracht (aus dem auch die tollen Bilder in diesem Artikel stammen!). Dort findet man ebenso wie bei den oben erwähnten Apps Anweisungen zum Entdecken unbekannten Terrains, wie etwa “Gehe in die Richtung eines Parks. Nimm unterwegs eine Straße, die du nie zuvor genommen hast. Noch eine. Und noch eine.” Außerdem den schönen Hinweis “Vergiss die Zeit. Lass deine Uhr zu Hause und schalte dein Handy ab.” Halleluja!

Was ich als hektischer Großstädter in Venedig entdeckt habe, ist eine neue Langsamkeit, die viel gelobte Entschleunigung im wahrsten Sinne des Wortes. Sie im Alltag gelegentlich zu suchen oder nur zuzulassen, ist aber gar nicht so einfach.

“Wir sind alle unterwegs von A nach B”, sagt Ellen Keith von der Flaneur Society. “Was aber, wenn da kein B ist?"

Quelle: Das Zitat von Ellen Keith habe ich einem Artikel von Anne Haeming auf Spiegel Online entnommen, ebenso wie die Hinweise auf “Drift” und “Dérive”.

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Lea Gimpel
Das gute digitale Leben

Impatient optimist. Digital rights advocate. Public sector innovation enthusiast. Digital transformation lead @giz_gmbh. All views are personal.