Des Kaiser’s neue Karte: Disruption mit Datenschutz?

Lea Gimpel
Das gute digitale Leben
4 min readJun 3, 2015
Datenschutz als Wettbewerbsvorteil? Kaiser’s scheint Kundenbedürfnisse in einer Post-Snowden Welt verstanden zu haben.

Der junge Mann an der Kasse muss es mir angesehen haben. Dreimal beugt er sich zu mir herüber und flüstert verschwörerisch “Ganz anonym!”. Das Zauberwort zeigt Wirkung: Die ExtraKarte von Kaiser’s landet mit dem Rest des Einkaufs in meinem Beutel. “Anonym einkaufen, individuell sparen” — hört sich erstmal klasse an, finde ich.

Damit scheine ich ziemlich repräsentativ für die Zielgruppe von Kaiser’s zu sein: Nachdem die ExtraKarte seit Mitte des letzten Jahres in 30 Berliner Supermärkten testweise eingeführt wurde, kommen nun alle Kunden der 150 Märkte in Berlin und Brandenburg in den Genuss des Bonusprogramms. Geworben wird mit, klar, Anonymität persönlicher Kundendaten. Dafür sind die Märkte mit großflächigen Werbeplakaten ausgestattet, auf denen sich Menschen hinter optisch leckerem Obst und Gemüse verstecken und kundtun: “Ich habe nichts zu verbergen. Außer meine Daten.”. Datenschutz als Wettbewerbsvorteil? Kaiser’s scheint die Bedürfnisse seiner Kunden in einer Post-Snowden Welt verstanden zu haben. Entsprechend titelt auch die Wirtschaftswoche: “Kaiser’s startet die Datenschutz-Revolution”.

So ist die ExtraKarte nach dem Aushändigen durch den Kassierer auch sofort einsatzbereit. Ein Antrag ist nicht erforderlich. Kaiser’s interessiert sich nicht für persönliche Daten wie Name, Geburtsdatum, Anschrift und E-Mail-Adresse. Was Kaiser’s interessiert, ist das Einkaufsverhalten des Kunden. Und das lässt sich prima auch ohne persönliche Angaben erforschen, wenn der Kunde seine Karte kontinuierlich nutzt. Das funktioniert so: Vor jedem Einkauf geht man an eine Säule im Eingangsbereich, scannt seine Karte und entnimmt dem Drucker eine Reihe von Coupons, mit denen bestimmte Produkte vergünstigt gekauft werden können. An der Kasse wird dann die Karte nochmals gescannt mitsamt dem kompletten Einkauf. Nach drei Einkäufen kennt die Karte die Vorlieben des Kunden. Der Drucker spuckt individualisierte Coupons aus: für die Leibspeisen ebenso wie für neue Produkte, die den gelernten Vorlieben ähnlich sind. Wer Fairtrade-Kaffee kauft, interessiert sich wahrscheinlich auch für Bio-Bananen. Statistik macht es möglich. Von der Karte erfasst werden nur Kaufzeit, Produktnummer, Kartennummer und der gezahlte Preis. Neben den rabattierten Produkten sammelt man mit jedem Einkauf Punkte — 1 Punkt für 5 Euro Einkaufswert — mit denen sich dann Prämien oder “Gratis-”Produkte erwerben lassen. Hier fällt mir der Titel der Werbekampagne wieder ein, “Des Kaiser’s neue Karte”. War nicht auch bei Hans Christian Andersen am Ende alles Schwindel?

Datenschutzrechtlich unbedenklich — so jedenfalls stuft der Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit des Landes Nordrhein-Westfalen die ExtraKarte ein. Prima, denke ich. Als ehemaliger Kunde von Payback, dem wohl am weitesten verbreiteten und datenschutzrechtlich am bedenklichsten Rabattkartensystem in Deutschland, ist das doch mal ein Fortschritt in die richtige Richtung. Big Data für mehr Geld in der Tasche, toll! Nach ein bisschen mehr Recherche kommen mir dann aber doch Zweifel: Meine Daten sind zwar sicher — aber ist die Karte vielleicht eine Gefahr für unsere Gesellschaft?

Gleiches Produkt, unterschiedlicher Preis, maximale Gewinne. Angeblich verzeichnet Kaiser’s so pro Kunde mit ExtraKarte einen Umsatzzuwachs im mittleren zweistelligen Bereich.

Mit der Rabattkarte erhält jeder Kunde einen individuellen Preis für das gleiche Produkt; jeder bekommt sozusagen “seinen” Preis. Den errechnet der Algorithmus der ExtraKarte: Mit jedem Einkauf lernt er, welchen Preis der einzelne Kunde für ein Produkt bereit ist zu zahlen. Zugleich greift er auf die Daten anderer Konsumenten als Vergleich zurück, etwa des deutschlandweiten Haushaltspanels der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Der erreichnete Preis sollte niedrig genug sein, um einen Kaufanreiz zu bieten, aber hoch genug, um das Produkt nicht zu verramschen. Jeder Mensch hat hier seine persönlichen Toleranzschwellen, im Marketingjargon Preissensibilität genannt, ganz individuell. Preisdiskriminierung heißt dieses Vorgehen in der Ökonomie, und es ist so etwas wie der heilige Gral des Kapitalismus. Gleiches Produkt, unterschiedlicher Preis, maximale Gewinne. Angeblich verzeichnet Kaiser’s so pro Kunde mit ExtraKarte einen Umsatzzuwachs im mittleren zweistelligen Bereich.

Normalerweise entsprechen Preise ungefähr dem Durchschnitt, den der Otto Normalverbraucher bereit ist für ein Produkt zu zahlen. Unser Preismodell ist so etwas wie ein Sozialvertrag: Jeder Kunde ist gleich — und zahlt gleich. Obwohl dem einen eine Leistung mehr, dem anderen weniger Wert ist. Wer nah am Durchschnitt ist, proftiert am meisten. So subventionieren wir verdeckt einander, vom Brotkauf bis zur Taxifahrt— und fördern eine solidarische Gesellschaft.

Doch Algorithmen sind dabei, dies zu ändern: Wer sich dreimal den gleichen Flug ein paar Tage hintereinander anschaut, bevor er sich zur Buchung entschließt, zahlt mehr. Bisher war dieses Vorgehen nur online mit Tracking-Software und Cookies möglich. Mit der ExtraKarte von Kaiser’s wird das nun auch offline, im Supermarkt an der Ecke, Realität: Die Karte verhält sich wie ein physischer Cookie, sagt der Chef des Unternehmens SO1, das für Kaiser’s das Price Intelligence Verfahren hinter der ExtraKarte entwickelt hat — so kann man es online nachlesen.

Die absolute Preisdiskriminierung ist der feuchte Traum jedes Wirtschaftswissenschaftlers. Und sie wird sich bald auf alle Lebensbereiche erstrecken.

Die absolute Preisdiskriminierung ist der feuchte Traum jedes Wirtschaftswissenschaftlers. Und sie wird sich bald auf alle Lebensbereiche erstrecken: Vom Supermarkteinkauf über das Ticket für den öffenlichen Nahverkehr bis zur Strom- und Wasserversorgung. Doch was passiert mit denen, die dabei nicht mitmachen wollen? Nach welchen Kritieren werden Preise gemacht, wer bestimmt sie? Und welche gesellschaftlichen Auswirkungen hat die komplette Umstellung des Preismodells, das unserem Wirtschaftssystem zugrunde liegt?

Weniger Solidarität, mehr Rabatt. Ist das die perfekte Gleichung für das gute digitale Leben? Ich glaube meine ExtraKarte wandert vom Einkaufsbeutel in den Mülleimer.

Bei ZEIT ONLINE ist zu diesem Thema ein toller Artikel erschienen, auf den ich mich in der Darstellung teilweise beziehe: Hannes Grasseger “Jeder hat seinen Preis”, abgerufen am 27.05.2015.

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Lea Gimpel
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