Intelligenter als wir?

Gutes Leben Digital
Das gute digitale Leben
7 min readJun 15, 2015

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Prolegomena zu einem Lehrplan für Maschinen

von Roger A. Fischer

Kluge Menschen meinen, Maschinen würden schon bald intelligenter sein als wir. Sie raten uns, jetzt dafür zu sorgen, dass die Maschinen in ihrer überlegenen Intelligenz Rücksicht auf uns nehmen. Denn sonst würden sie nur eigenen Gesetzen folgen und sich ganz anders verhalten als wir das an ihrer Stelle tun würden. Ob wir das billigen oder nicht, würde dann keinen Unterschied mehr machen. Es ist ein Bild der Hilflosigkeit. In diesem Bild sind Menschen und Maschinen auf dieselbe Art intelligent. Innerhalb dieser Art gibt es ein Mehr oder Weniger. Und die Maschinen haben am Ende mehr davon als die Menschen. So wie die Maschine mehr Bürsten machen kann als der Handwerker. Stimmt dieses Bild?

„HONDA ASIMO“. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons — http://commons.wikimedia.org/wiki/File:HONDA_ASIMO.jpg#/media/File:HONDA_ASIMO.jpg

Oder ist unser Denken grundsätzlich anders als das, was Rechner tun? Schwer zu sagen. Denn beides lässt sich für jede denkbare Funktion verwenden. Von der Urlaubsreise bis zur Zollverwaltung kann jeder Ablauf Gegenstand eines digitalen Programms sein — oder auch Stoff für einen Roman. Der Unterschied (falls es einen gibt) liegt also nicht im Gegenstandsbereich. Unterscheiden sich die Verfahren? Schon lange wenden Maschinen wesentliche Operationen menschlichen Denkens an: Wenn-Dann-Schlüsse, Bilden von Kategorien und Zweck-Mittel-Relationen, Gedankenexperimente, Übertragung von Erfahrungswissen auf neue Fälle, die als ähnlich wahrgenommen werden, Erkennen und Verknüpfen von Mustern sowie sicher vieles mehr. Auch die binäre Codierung scheint keinen unüberwindlichen Unterschied zum menschlichen Denken zu bilden. Denn sie zwingt nur dazu, jede Aussage inhaltlich so scharf zu stellen, dass sie ohne weiteres bejaht oder verneint werden kann — eine bewährtes Kontrollverfahren, das so alt ist wie das Denken selbst. Vielleicht können Quantenrechner eines Tages auch das Unbestimmte denken. Wo ist also der Unterschied?

Der Mensch weiß, dass er sterben wird. Daraus kann er auf all das schließen, was er nicht beherrscht. Er kann einsehen, dass jede seiner Fähigkeiten irgendwo eine Grenze hat — und sein Verhalten danach ausrichten. Das kann die Maschine nicht. Im Gegenteil traut sie sich immer alles zu was in der Reichweite ihres Programms liegt. Die Einsicht in die eigene Begrenztheit ermöglicht uns Menschen eine Reihe von Denkfiguren, die der Maschine bisher verschlossen sind. Diese Figuren sind keine geistigen Spielzeuge, sondern Lebensmittel: Sie helfen uns, unsere Abhängigkeit von der materiellen Welt und anderen Menschen zu bewältigen.

Es fängt an mit dem Sein. Selbstverständlich können Rechner den Unterschied zwischen dem Seienden und dem bloß Gedachten abbilden. Erscheinungen wie Big Data zeigen ja geradezu einen Hunger danach alles zu erheben, was der Fall ist. Aber der Rechner kann diesen Unterschied nicht ernst nehmen. Für ihn ist jeder Lebenssachverhalt nur ein weiteres Datum, das er nach seinem Programm verarbeiten wird. Aus seiner Sicht führt das Seiende und das Gedachte gleichermaßen eine nur geistige Existenz. Unter diesem Gesichtspunkt ist beides austauschbar. Ob und wie der Ernstfall anders behandelt wird als die Simulation, ist bloß eine Frage des Algorithmus. Der Rechner kann vom Seienden zwar lernen wie er sein Programm besser zur Geltung bringen kann. Aber dass die Welt mehr ist als eine Datenquelle, käme ihm nicht in den Sinn.

Auch der Wille ist etwas eigentlich Menschliches. Er ist ja ursprünglich gar kein innerer Sachverhalt, sondern ergibt sich daraus, dass wir als soziale Wesen voneinander abhängig sind und damit Verantwortung tragen. Du verhältst dich so, aber du kannst auch anders. Das ist die Landefläche für soziale Normen, die dafür sorgen, dass niemand sich und seine Zwecke auf Dauer absolut setzen kann. Die Landung gelingt, weil die Norm jedes tatsächliche Verhalten mit gedachten Alternativen umgibt: Du kannst auch anders. Diese normative Aussage sorgt dafür, dass ein bestimmtes Verhalten mit einem Schlag als meines gilt. Das Stichwort dafür ist der Wille und das Verfahren heißt Zurechnung. Die gängige Redensart, der Wille sei ein innerer Sachverhalt, ist nur ein ungenauer Ausdruck für den hypothetischen Charakter der Aussage „Du kannst auch anders“. Wie ich mich sonst verhalten würde, ist ja empirisch nicht zu greifen. Als Argument der Zurechnung ist der Wille aber so objektiv wie jeder soziale Zusammenhang.

„Deep Blue“ von James the photographer — http://flickr.com/photos/22453761@N00/592436598/. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons — Deep Blue von IBM war der erste Rechner, der den Schachweltmeister geschlagen hat (1996 eine Einzelpartie gegen Gary Kasparow, 1997 ein ganzes Match unter Turnierbedingungen ebenfalls gegen Kasparow.

Maschinen können zwar Alternativen zu einem aktuellen Verhalten entwickeln und (leider) auch menschliches Verhalten steuern. Sie können menschliches Verhalten sogar täuschend echt simulieren (Turing-Test). Aber sie sind nicht wie wir auf das Zusammenleben mit Menschen angewiesen. Was wir zu diesem Zweck haben — soziale Normen, Zurechnung und eben die Figur des Willens — das brauchen sie nicht. Die ganze Vorstellungswelt, die diese Figur hat entstehen lassen — Stichwort Subjektivität — ist den Maschinen deshalb fremd.

Ebenso menschlich ist das Vermögen, sich selbst durch die Augen eines anderen Menschen zu sehen. Deshalb können wir uns über gemeinsame Zwecke verständigen und zusammenarbeiten (Tomasello). Zwar sind auch Programme denkbar, die Sichtweisen von Menschen erkennen und zu sich selbst in Beziehung setzen können. Die bedrohliche Perspektive der digitalen Verhaltenssteuerung ergibt sich ja genau aus dieser Möglichkeit. Aber auch hier gilt: Maschinen brauchen die menschliche Variante dieser Fähigkeit nicht zu replizieren. Denn sie kompensiert einen Mangel, den Maschinen nicht haben. Maschinen sind nicht generell so gebaut, dass sie zwingend mit Menschen zusammenarbeiten müssten — was immer Zusammenarbeit hier bedeuten würde. Aus diesem Grund klingt der Ausdruck vom „Kollegen Roboter“ auch so schief. Menschliche Motive, die nicht schon in ihrem Programm verankert sind, behandelt die Maschine höchstens als zusätzliche Arbeitsmittel oder nützliche Rohdaten. So gesehen hat die Wendung, nach der wir eine Maschine „bedienen“, einen ganz treffenden Doppelsinn.

Menschliche Motive, die nicht schon in ihrem Programm verankert sind, behandelt die Maschine höchstens als zusätzliche Arbeitsmittel oder nützliche Rohdaten.

Wenn Maschinen ihre Grenzen erreichen, greifen sie in aller Regel nicht zur Zusammenarbeit sondern zur Vernetzung. Das heißt sie ballen und integrieren Daten und Kapazitäten. Die vorherige Einigung auf gemeinsame Zwecke, wie sie für menschliche Zusammenarbeit prägend ist, gibt es hier nicht. Die „Borg“ in der Serie „Star Trek“ sind ein prägnantes Bild dafür, wie auch organische Strukturen zum Gegenstand der Vernetzung werden können.

Können wir den Maschinen Einsicht in die eigene Begrenztheit beibringen? Vielleicht. Aber warum sollen sie in dieser Hinsicht vernünftiger sein als wir? Seit Beginn der Neuzeit halten wir immer mehr für machbar. Dass wir nicht alles können, haben wir fast vergessen. In einem wohl beispiellosen geistesgeschichtlichen Sprung sind wir dazu übergegangen, Probleme generell nicht mehr aus dem geltenden kulturellen Gesamtzusammenhang heraus zu lösen, sondern nur noch isoliert nach den Regeln der jeweils fachlich einschlägigen Praxis (funktionale Differenzierung). So beurteilen wir das Darlehen nicht mehr danach, ob es wucherisch ist, sondern allein nach bankbetrieblichen Kriterien. Fachfremde Argumente gelten als unprofessionell. Das führt dazu, dass Einzelfunktionen sich verselbständigen und so tun als seien sie Selbstzwecke. Jede Maschine verkörpert eine verselbständigte Funktion. Schon in der Zeitungsdruckmaschine war die Rücksicht auf die Privatsphäre von Berühmtheiten nicht eingebaut — und eine Maschine mit diesem Bauteil wäre unter den Bedingungen der erwachenden Massengesellschaft auch nie in Betrieb gegangen. Die systematische Verselbständigung von Einzelfunktionen ist übrigens ein Grund, warum andere Kulturen unseren europäischen Sonderweg als fremd und unverständlich empfinden. Für uns gilt: Die Maschinen halten uns den Spiegel unserer eigenen Hybris vor. Wir sehen, dass es Hybris ist, suchen einen Schuldigen und sprechen deshalb von der grenzenlosen Herrschaft der Maschinen.

Der Schaden, vor dem hier gewarnt wird, ist längst eingetreten. Noch nie hat sich die Verbreitung und Anwendung einer neuen Technik danach gerichtet, wie Menschen entscheiden würden.

Für die Debatte über Gefahren der wachsenden Maschinenintelligenz bedeutet das zweierlei. Erstens: Der Schaden, vor dem hier gewarnt wird, ist längst eingetreten. Noch nie hat sich die Verbreitung und Anwendung einer neuen Technik danach gerichtet, wie „Menschen entscheiden“ würden. So gesehen gibt es keinen Grund, warum ausgerechnet Maschinen dieses Kriterium ernst nehmen sollten. Zweitens: Unsere Lebensweise ist aufs Engste mit dem Wachstum verselbständigter Einzelfunktionen verbunden. Sehr früh und zu Recht hat man unsere Zeit deshalb ein Maschinenzeitalter genannt. Das eigengesetzliche Verhalten der Maschinen ist also nichts Fremdes, dem wir davon unabhängige eigene Interessen entgegenstellen könnten. Genau diese Eigengesetzlichkeit erwarten wir ja, wenn etwas funktionieren soll.

“Driving Google Self-Driving Car” by Steve Jurvetson — http://www.flickr.com/photos/jurvetson/8190954243/in/photostream. Licensed under CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

Was ist also neu an der digitalen Stufe des Maschinenzeitalters? Digitale Rechner können alle Daten verarbeiten und miteinander verknüpfen — ganz gleich, woher sie kommen. Der Computer ist eben keine zweckspezifische, sondern eine universelle Maschine. Er macht es möglich, die Vereinzelung der Funktionen, die den Anfang des Maschinenzeitalters geprägt hatte, wieder umzukehren. Die Druckmaschine konnte nur drucken. Der Computer kann alle Verfahren steuern, denn alle Verfahren brauchen Informationen. Und diese Steuerung kann durch das Netz heute universal und zentral werden.

Immer wieder glauben wir, neue Technik nutzen, aber kulturell alles beim Alten lassen zu können. Das hat schon beim Buchdruck nicht funktioniert. Kurzum: Wenn wir das gute Leben nicht führen, werden die Maschinen es nicht von uns lernen.

Gefährlich ist das, weil die Maschinen uns hier in der Tat einen Schritt voraus sind. Nicht, was die Intelligenz angeht, denn wie oben gesagt sind Menschen und Maschinen auf unterschiedliche Art intelligent. Im Übrigen würde auch überlegene Maschinenintelligenz für sich genommen kein Risiko bilden. Die Gefahr liegt darin, dass die Maschinen heute einen universellen Zugang zur Welt schaffen, den wir geistesgeschichtlich verloren haben. Solange wir in der funktionalen Differenzierung verharren und jeden Bereich unseres Lebens nur einzeln nach den dort jeweils einschlägigen Regeln gestalten, werden wir universelle Maschinen nicht in den Griff bekommen. Rechner stellen heute Zusammenhänge zwischen Clubmitgliedschaft, Kreditwürdigkeit, Krankenversicherungsprämie und Musikgeschmack her und legen uns entsprechende Schlüsse aus diesen Zusammenhängen nahe. Dagegen finden wir unsere Freiheit noch darin, all diese Lebensbereiche säuberlich auseinanderzuhalten — eine zutiefst bürgerliche Tradition. Das Risiko liegt also nicht in einer drohenden abstrakten Überlegenheit der Maschinen, sondern in der neuesten Ausprägung eines bekannten historischen Musters: Immer wieder glauben wir, neue Technik nutzen, aber kulturell alles beim Alten lassen zu können. Das hat schon beim Buchdruck nicht funktioniert. Kurzum: Wenn wir das gute Leben nicht führen, werden die Maschinen es nicht von uns lernen.

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