Zum Verständnis zwischen Politik und digitaler Welt

Roger A. Fischer

Gutes Leben Digital
Das gute digitale Leben
8 min readAug 21, 2015

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Politik und digitale Welt scheinen einander nicht immer gut zu verstehen. Manchmal reden sie geradezu aneinander vorbei, wie zuletzt in der Frage, was Blogger veröffentlichen dürfen und wie der Staat Geheimnisse schützen soll. Aber ging es überhaupt darum? Ergebnis ist jedenfalls eine Lage, in der das eine so fraglich ist wie vorher und das andere nicht zu Ende geprüft werden konnte. Ein produktiver Dialog, in dem Argumente sich aufeinander bezogen hätten, ist nicht entstanden. Viel wäre dazu nicht nötig gewesen: Ein Gefühl dafür, dass Medien wohl nicht der beste Hebel für Geheimschutz sind. Und die Einsicht, dass es mehr als gesunden Menschenverstand braucht, um sicher einzuschätzen, wie gefährlich eine bestimmte Information sein kann, wenn sie öffentlich wird.

Noch bedenklicher als solche Fälle des Missverstehens ist aber vielleicht die weitgehende Sprachlosigkeit zwischen Politik und digitaler Welt, von vielen guten Ausnahmen abgesehen. Denn sie haben sich einiges zu sagen. Die Fragen sind Legion: Wie sieht Wettbewerb in Sektoren aus, die nicht mit Grenznutzen, sondern mit Netzwerkeffekten rechnen? Welche Rolle spielt Arbeit in einer Welt, die immer mehr Funktionen automatisiert? Was können wir den Maschinen überlassen und was müssen wir selbst lernen? Welches Wissen bleibt relevant und was sollten wir uns neu aneignen? Wo sind die Möglichkeiten der digitalen Technik für öffentliche Daseinsvorsorge und Infrastruktur? Welche Datenbestände sollte der Staat zum gesellschaftlichen Nutzen und für Wertschöpfungszwecke auf welche Weise öffnen? Auch um die Frage der digitalen Bürgerbeteiligung ist es seltsam still geworden.

Natürlich gibt es Austausch zwischen den beiden Welten. Aber er ist eben nur das: Austausch. Man trifft sich, wenn man etwas voneinander will, und trennt sich, sobald das Geben und Nehmen ein Ende hat. Die einschlägigen Formate sind alt: Lobbying, Advocacy, Akquise, Industriepolitik. Sie werden nicht besser dadurch, dass hier nun auch digitale Akteure auftreten. Aber vor allem schaffen sie keinen ausreichenden Raum, um die gesellschaftlichen Auswirkungen des digitalen Wandels angemessen zu diskutieren. Diese Wirkungen werden immer noch unterschätzt.

Der digitale Wandel tut ja nur so, als würde er das gewohnte Leben, die bekannte Politik und den vertrauten Arbeitsplatz nur mit neuen Benutzeroberflächen ausstatten. In Wahrheit verändert er jedoch die Tiefenstruktur unseres Alltags. Deshalb müssen wir uns rechtzeitig verständigen. Der lernende Roboter ist schon jetzt politisch relevant, nicht erst, wenn er Massenarbeitslosigkeit ausgelöst oder den längst fraglichen Zusammenhang zwischen Arbeit und Einkommen weiter gelockert hat. Das Wachstum der Alphabet-Unternehmen (bisher als Google bekannt) ist schon jetzt ein Geschäftsrisiko, nicht erst, wenn der Kunde sich gedankenlos nur noch an den Anbieter wendet, der ihn eben am besten kennt.

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Nötig ist ein umfassender gemeinsamer Lernprozess, in dem jeder Beteiligte sehen kann, was ihm sonst entgehen würde. Politik und digitale Welt sind dabei in gewisser Weise sogar natürliche Partner. Beide Seiten haben keinen festen Gegenstand, sondern können sich ganz nach ihren Bedürfnissen auf jedes Feld des Lebens beziehen. Das Private ist politisch, wenn es dazu erklärt wird. Oder es wird digital, wenn es wirtschaftlich verwertbar ist. Beide Seiten suchen jeweils auf ihre Weise unersättlich nach immer neuen Themen und Verbesserungsmöglichkeiten. Vor allem sind Politik und digitale Welt aber in der Sache aufeinander angewiesen. Die Politik wird nur relevant bleiben, wenn sie sich auf den digitalen Wandel einlässt. Und die Pioniere des digitalen Wandels müssen sehen, dass sich Technik unter Menschen nur durchsetzt, wenn sie mehr kann als bloß funktionieren.

Also was steht der Verständigung noch entgegen? Vielleicht ist es einfach die Tatsache, dass Politik und digitale Welt aus ihren jeweiligen Funktionen heraus sehr unterschiedliche Verhaltensformen und Bewegungsrichtungen ausgebildet haben. Überbrücken kann sie nur, wer sie versteht.

Wenn das Sein dem Sollen folgt…

Politik ist zuerst der gedankliche Ausstieg aus den bestehenden Verhältnissen. Sie beginnt als Unbehagen am Gegebenen und nimmt Fahrt auf mit einem Versprechen. Wünsche, die in Markt, Gesellschaft und Rechtsstaat keine Resonanz finden, können im Medium der Politik zum Zuge kommen. Was dort ausgeschlossen ist, wird hier jederzeit vorstellbar und manchmal wahr. Christian Meier hat diese befreiende und verführerische Aussicht am Beispiel der attischen Demokratie einmal „Könnens-Bewusstsein“ genannt. Damals wie heute mündet das entweder in gemeinsames Handeln oder in kollektiven Selbstbetrug. Die Form dafür ist in beiden Fällen die politische Forderung. Sie mobilisiert und bündelt gesellschaftliche Kräfte, indem sie einen Wunsch zum öffentlichen Gedanken macht. Daraus folgen die besonderen Eigenschaften der Politik. Sie hat keinen festen Gegenstand, weil grundsätzlich jeder Wunsch mobilisieren kann. Aber sie endet, sobald die Mobilisierungsaufgabe erfüllt ist und die Umsetzung beginnt. Hier liegt die Schnittstelle zwischen Politik und Verwaltung. Besonders deutlich wird dieser Unterschied, wenn die Politik die Umsetzung des gestern erst gesetzten Programms schon heute mit neuen Forderungen begleitet. Das tut sie zu Recht. Denn Verwaltungshandeln ist ganz sicher nicht der beste Weg, Wünsche zu erfüllen. Und die Politik muss jederzeit bereit sein, auch neue Wünsche zu verwerten, um ihrer anhaltenden Mobilisierungsaufgabe gerecht zu bleiben. Die Politik schafft also Abstand zum Gegebenen, um den jeweils aktuellen Bedürfnissen der Menschen näher zu kommen. Die Politik geht also vom Sein aus und bewegt sich fordernd auf immer neue Sollzustände zu.

…und anders herum

Die digitale Welt nimmt genau den umgekehrten Weg. Sie interessiert sich nicht für das, was Menschen heute unter den Nägeln brennt. Denn sie weiß, dass das übermorgen schon etwas ganz Anderes sein kann. Stattdessen geht sie von scheinbar willkürlich gegriffenen Soll-Zuständen aus: weltweiter Zugang zu allen Informationen, Vernetzung der Menschheit, selbstfahrende oder gleich fliegende Autos. Dahinter steht eine merkwürdig einseitige Phantasie. Sie genügt, um sich alle Machbarkeitsgrenzen wegzudenken. Aber sie reicht nicht aus, um zu fragen, wie eine technische Neuerung auf unsere Gesellschaft und damit letztlich auch auf das eigene Geschäftsmodell zurückwirken wird. Man will die Welt verändern, kann sich aber nicht vorstellen, dass ein Teil dieser Veränderung politischen Charakter haben könnte. Dieser blinde Fleck ist der Grund, warum der ehrlich vorgetragene Anspruch des Silicon Valley, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, genauso naiv ist wie er klingt.

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Die digitale Welt bewegt sich vom Sollen zum Sein. Nicht zufällig heißt dieser Schritt dort auch Anwendung. Daten entfalten Organisationskraft durch ein Programm, das die vorher nur unbeholfen bewirtschaftete physische Welt um Größenordnungen effizienter macht. Das passt sehr gut zu unserer Zeit. Denn heute sind Daten nicht mehr knapp und physische Ressourcen nicht mehr im Überfluss da (die Innovationen der Vergangenheit sahen anders aus, weil es damals genau umgekehrt war).

Die technische Anwendung läuft aber nicht nur in eine andere Richtung als die politische Forderung. Sie sieht auch anders aus. Die Forderung ist sprachlich vermittelt, weil sie Öffentlichkeit will. Die Anwendung ist dagegen ein Realakt, der unmittelbar kausale Folgen nach sich zieht. Deshalb treffen sich Politik und digitale Welt so selten, obwohl sie auf demselben Pfad unterwegs sind und jeweils dorthin wollen, wo der andere herkommt. Zu oft fahren sie dabei aneinander vorbei.

Umsteigen

Muss das sein? Nicht wenn beide Seiten erkennen, wie viel sie voneinander lernen können. Zum Beispiel, dass digitale Innovationen der Politik große, spezifisch politische neue Handlungsspielräume verschaffen können. Beiden Welten geht es ja darum erreichbar zu machen, was das gewohnte Leben einem heute noch verweigert. Nur die Beiträge zu diesem Ziel müssen verschieden sein: Die Politik macht es gesellschaftlich vorstellbar, indem sie die Kraft aktueller Wünsche mobilisiert. Und die digitale Welt macht es technisch machbar, indem sie auf die Möglichkeiten setzt, die in der immer stärkeren Integration unserer Produktivkräfte stecken.

Umgekehrt kann die Politik der digitalen Welt helfen, über das hinauszudenken, was Morozov treffend und kritisch „solutionism“ genannt hat. Denn in der Tat geht es darum, die strukturellen Wirkungen ihres Tuns besser ins Auge zu fassen. Die schlichte Formel, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, reicht vielleicht aus, solange der digitale Wandel noch als spielerische Erleichterung von Konsumprozessen erlebt wird. Den fälligen Verlust alter, zum Teil identitätsbildender Lebensformen wird er in härterer legitimatorischer Währung bezahlen müssen. Ähnlich wie das Finanzsystem während der letzten 20 Jahre wird die digitale Welt so tief in die Gesellschaft hineinwachsen, dass auch sie politischen Fragen nicht mehr ausweichen kann. Hier wie dort wird sich erweisen, dass es bei disruptiven Veränderungen nicht mehr hilft zu sagen, der Kunde habe doch genau das bekommen, was er wollte. Denn was immer zu wünschen übrig bleibt, wird möglicherweise zur Politik.

Vorläufige Endstation

Was tun? Zwei Schritte könnten die beiden Welten einander näher bringen: Zum einen kann die Politik ihre Forderungen umso wirkungsvoller einlösen, je bewusster sie sich auf digitale Möglichkeiten stützt. Hier geht es weder um die Lieblingsthemen der Netzgemeinde noch um niedrigschwelligen Zugang zu vielen kleinen Verwaltungsdiensten. Sondern zum Beispiel um Sozialleistungen, die nicht pauschalieren müssen, weil die Masse an Einzelfalldaten keine Überforderung mehr darstellen. Um Polizeiarbeit, die keine Gegend vernachlässigen muss und Bürgerrechte noch genauer beachten kann. Um Schulen, die das besondere Lernverhalten jedes Kindes und jeder Gruppe gezielt stärken können. Sicher sind hier durchweg anspruchsvolle politische Vorfragen zu entscheiden. Denn Wertentscheidungen wird uns auch diese Technik nicht abnehmen. Aber in dem Maße, in dem die Politik digitale Technik nicht mehr nur aus Zweckmäßigkeitsgründen, sondern für eigentlich politische Ziele einsetzt, wird sie den Abstand zur digitalen Welt verringern können.

Zum anderen ist die Frage, wie wir uns als Gesellschaft auf den digitalen Wandel einlassen, so wichtig, dass sie eine sachliche, öffentliche Debatte verdient. Die Beteiligten — Politik, digitale Welt und viele andere — würden damit sichtbar Verantwortung für die Fernwirkungen ihres Verhaltens übernehmen. Schon das allein würde Vertrauen bilden. Denn zu sehen wäre dann eine Gesellschaft, die ihre Zukunft nicht anderen überlässt. Die sich nicht abhängig macht vom Selbstlauf einer technisch-kommerziellen Entwicklung, die immer nur bis zur nächsten Akquise denkt und genau deshalb die Richtung nicht bestimmen kann. In dieser Debatte würde jeder Beteiligte zu seiner Mitverantwortung für die Struktur des digitalen Wandels stehen.

Die Politik würde hier nicht über die Krise von heute und das nächste Investitionsprogramm sprechen. Große digitale Unternehmen würden sich nicht als bloße Dienstleister ohne nachhaltige Markmacht oder gesellschaftliche Relevanz darstellen. Vielmehr würden die Beteiligten sich gegenseitig zwingen, ihre Vorstellungen und Interessen zum digitalen Wandel unserer Gesellschaft offenzulegen und zu begründen. Mission statements brauchen Argumente, wenn sie sich einer Debatte stellen müssen. Auch Schlagworte der Netzdebatte, die heute höchstens der Freund-Feind-Erkennung dienen, würden dann hoffentlich durchdachteren Begriffen Platz machen. (Nur nebenbei: Wenn europäische Unternehmen schon heute verpflichtet sind, über die eigene Verfassung und die ökologischen und sozialen Nebenwirkungen ihrer Tätigkeit Rechenschaft abzulegen — Stichwort „ESG-Reporting“ –, sollten sie umso offener sein, was die gesellschaftlichen Folgen angeht, die sie mit ihrem Kerngeschäft anstreben.)

Im Ganzen wird der Unterschied zwischen Politik und digitaler Welt wohl niemals verschwinden. Das wäre auch nicht wünschenswert. Aber nur echte Vernetzung kann die produktiven Kräfte dieses Unterschieds freisetzen.

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