Die neun Todsünden bei der Einführung neuer Produkte
--
1. Die Annahme: »Ich weiß, was der Kunde will«
Das Erste ist der unerschütterliche Glaube des Gründers, dass er versteht, wer der Kunde sein wird, was er braucht und wie er es ihm verkaufen kann. Jeder leidenschaftslose Beobachter würde erkennen, dass ein Startup an Tag eins keinen Kunden hat und dass der Gründer — wenn er nicht gerade ein wirklicher Experte auf diesem Gebiet ist — nur raten kann, welchen Kunden mit welchen Problemen er mit seinem Geschäftsmodell weiterhelfen kann. An Tag eins ist ein Startup eine auf Glauben basierende Initiative, die auf Annahmen fußt. Die traditionellen Methoden der Produkteinführung jedoch lassen den Gründer diese Annahmen als Fakten betrachten, sodass er loszieht, ein Produkt entwirft und Geld ausgibt, um eine »erste Lieferung an den Kunden« zu schaffen, bevor er überhaupt mit einem einzigen Kunden gesprochen hat.
Um Erfolg zu haben, müssen die Gründer die Hypothesen oder Annahmen so schnell wie möglich in Fakten verwandeln, indem sie losziehen, die Kunden befragen, ob die Hypothesen korrekt sind, und diese schnell ändern, falls sie es nicht sind.
2. Der »Ich weiß, welche Funktionen ich bauen muss«-Fehler
Die zweite fehlerhafte Annahme ergibt sich implizit aus der ersten. Gründer, die davon ausgehen, dass sie ihre Kunden kennen, glauben, alle Funktionen zu kennen, die sich die Kunden wünschen. Diese Gründer spezifizieren, entwerfen und bauen mittels klassischer Produktentwicklungsmethoden ein voll ausgestattetes Produkt, ohne ein einziges Mal ihr Gebäude zu verlassen. Aber Moment mal — ist es nicht genau das, was Startups tun sollten? Nein — das ist es, was Unternehmen mit existierenden Kunden tun.
Der Wasserfall-Entwicklungsprozess verläuft sequenziell und ohne Unterbrechung — und das über einen Zeitraum von einem oder zwei Jahren. Der Fortschritt in diesem Prozess wird anhand jeder neuen Zeile Code oder an jedem neuen Stück Hardware gemessen, bis das Produkt fertig und freigegeben ist. Doch ohne direkten und ständigen Kundenkontakt ist nicht bekannt, ob die Funktionen bei den Kunden Anklang finden. Das Beheben der unvermeidlichen Produktfehler nach dem Herstellen und Ausliefern des gesamten Produkts ist teuer und zeitaufwendig, wenn nicht sogar tödlich. Es kann das ganze Produkt nach dem Start hinfällig machen. Schlimmer noch, es sorgt oft für eine riesige Verschwendung an Innovation und Hunderten von Arbeitsstunden, die umsonst waren, oder Unmengen an Code, der verworfen werden muss, wenn die Kunden sagen, dass sie die neuen Funktionen gar nicht haben wollen. Ironischerweise werden Startups oft durch dieselben Methoden behindert, die sie traditionell einsetzen, um neue Produkte zu bauen.
3. Konzentration auf den Starttermin
Das traditionelle Modell zur Produkteinführung konzentriert Entwicklung, Vertrieb und Marketing auf den überaus wichtigen, unverrückbaren Starttermin. Das Marketing versucht, ein »Event« auszuwählen (Messe, Konferenz, Blog usw.), an dem es das Produkt »launchen« kann. Die Manager arbeiten auf diesen Termin hin, um am Tag des Produktstarts regelrechte Feuerwerke zünden zu können. Weder Management noch Investoren tolerieren Fehler, die zu einer Verzögerung führen könnten. Traditionelle Entwicklungspläne enthalten Testzyklen mit den Namen Alpha, Beta und Release, lassen aber selten Zeit, um das Produkt zu verbessern. Dennoch sind sie darauf ausgerichtet, das ursprünglich geplante Produkt mit so wenig Fehlern wie möglich auszuliefern.
Die Termine für den Produktstart und die erste Lieferung an den Kunden sind lediglich die Zeitpunkte, zu denen das Produktentwicklungsteam glaubt, die erste Fassung des Produkts sei »fertig«. Das bedeutet nicht, dass das Unternehmen seine Kunden versteht oder weiß, wie es etwas an sie verkaufen könnte. Trotzdem ticken in fast jedem Startup, ob fertig oder nicht, die Uhren auf die »erste Lieferung an den Kunden« hin. Und was noch schlimmer ist, auch die Investoren richten ihre finanziellen Erwartungen nach diesem Termin.
Der Chor der Investoren sagt: »Natürlich ist es das, was ihr macht. Das Produkt auf den Markt zu bringen, ist exakt das Ziel von Vertriebs- und Marketingexperten in einem Startup. So macht ein Startup schließlich Geld.« Dieser Ratschlag ist tödlich. Ignorieren Sie ihn. Das ausschließliche Fokussieren auf den Produktstart ist eine »Feuern, Nachladen, Zielen«-Strategie, die den Prozess der Customer Discovery ignoriert — ein grundlegender und im Allgemeinen verhängnisvoller Fehler. Natürlich möchte jedes Startup oder Unternehmen ein Produkt auf den Markt bringen und verkaufen, aber das kann es erst tun, wenn es versteht, wem es etwas verkauft und wieso diejenigen es kaufen. Das gewaltsame Voranstürmen ignoriert die iterative Schleife, die sagt: »Falls unsere Annahmen falsch sind, müssen wir vielleicht etwas anderes probieren.« Es verhindert den »Bauen, Testen und Lernen«-Fluss und geht davon aus, dass die Kunden lediglich eine gute technische Ausführung brauchen, um zu uns zu kommen.
Immer wieder bemerken Startups erst nach dem Launch, dass nicht genügend Kunden ihre Websites besuchen, das Spiel spielen, ihre Freunde mitbringen oder tatsächlich Bestellungen in Gang setzen. Oder sie entdecken, dass frühe Kunden nicht gleichbedeutend mit der Eroberung des Mainstream-Markts sind oder dass das Produkt kein schwerwiegendes Problem löst oder dass die Kosten für den Vertrieb zu hoch sind. Und als seien diese Entdeckungen nicht schon schlimm genug, wird das Startup nun noch durch eine teure, aufgeblasene Vertriebs- und Marketingorganisation belastet — die sich nur durch die Effektivität auszeichnet, mit der sie Geld verschleudert –, die nun herauszufinden versucht, was schiefgegangen ist und wie man es beheben kann.
Beim Startup Webvan könnte die Dotcom-Manie den Drang des Unternehmens verstärkt haben, endlich loszulegen, aber seine Zielstrebigkeit war typisch für Startups. Bei der ersten Lieferung an Kunden hatte Webvan fast 400 Angestellte. Im Laufe der nächsten sechs Monate wurden mehr als 500 weitere eingestellt. Im Mai 1999 hatte das Unternehmen sein erstes 40 Millionen Dollar teures Vertriebszentrum eröffnet, das für eine Kundenbasis gedacht war, deren Größe man nur erahnen konnte. 15 weitere Vertriebszentren derselben Größe waren in Auftrag gegeben. Warum? Weil der Webvan-Businessplan es so vorsah — ob die Kunden zustimmten oder nicht.
4. Die Betonung liegt auf der Ausführung anstatt auf Hypothesen, Tests, Lernen und Iteration
Startup-Kulturen betonen: »Mach es, und zwar schnell!« Es ist deshalb normal, dass die Leiter von Entwicklung, Vertrieb und Marketing alle glauben, sie seien für das eingestellt worden, was sie wissen, und nicht für das, was sie lernen können. Sie gehen davon aus, dass ihre Erfahrung entscheidend für diese neue Unternehmung ist und dass es reicht, dieses Wissen anzuwenden, um die Ausführung anzuleiten, so wie es bisher immer war. Während bestehende Unternehmen Geschäftsmodelle ausführen, bei denen Kunden, Probleme und notwendige Produkteigenschaften bekannt sind, müssen Startups in einem »Suchmodus« agieren, wenn sie ihre anfänglichen Hypothesen testen und beweisen. Aus den Ergebnissen der jeweiligen Tests lernen sie, verfeinern die Hypothesen und testen dann erneut, und all das auf der Suche nach einem nachhaltigen, skalierbaren und profitablen Geschäftsmodell.
In der Praxis beginnen Startups mit einer Reihe von Ausgangshypothesen (Annahmen), von denen sich die meisten als falsch herausstellen werden. Daher bedeutet das Fokussieren auf Ausführung und Lieferung eines Produkts oder einer Dienstleistung basierend auf diesen ersten, ungetesteten Hypothesen, dass man schnell wieder aus dem Geschäft fliegen wird. Das traditionelle Modell der Produkteinführung nimmt an, dass der Aufbau eines Startups ein schrittweiser, sequenzieller, ausführungsorientierter Prozess ist. Jeder Schritt erfolgt in einer logischen Abfolge, die sich in einem PERT-Diagramm festhalten lässt (eine Projektmanagementtechnik, die die Schritte und die Zeit, die für die Projekterledigung nötig sind, aufzeichnet), zusammen mit Meilensteinen und Ressourcen für die einzelnen Schritte. Allerdings weiß jeder, der schon einmal ein neues Produkt zu einer Gruppe potenzieller Kunden mitgenommen hat, dass ein guter Tag vor Kunden zwei Schritte vorwärts und einen Schritt zurück bedeutet. Die Fähigkeit, aus diesen Fehlschritten zu lernen, unterscheidet ein erfolgreiches Startup von denen, die es nicht schaffen.
Wie alle Startups, die darauf aus sind, einen sequenziellen Produkteinführungsplan zu verfolgen, stellte Webvan Direktoren für Absatzförderung, Marketing und Produktmanagement ein — deren Arbeit sich nach vorgegebenen Verkäufen und Marketingstrategien richtete und nicht nach den Kunden und ihren Bedürfnissen. 60 Tage nach der ersten Kundenlieferung beschäftigten diese Direktoren mehr als 50 Leute.
5. Traditionelle Businesspläne lassen keinen Platz zum Ausprobieren oder für Fehler
Der eine große Vorteil des traditionellen Modells der Produktentwicklung: Es bietet dem Vorstand und den Investoren einen eindeutigen Weg mit klar definierten Meilensteinen, deren Erreichung der Vorstand voraussetzt. Die meisten Ingenieure wissen, was Alphatest, Betatest und erste Lieferung an den Kunden bedeuten. Wenn das Produkt nicht funktioniert, wird keiner das beheben. Im Gegensatz dazu sind die Vertriebs- und Marketingaktivitäten vor der ersten Lieferung an den Kunden spontan und unklar und verfolgen nur selten messbare, konkrete Ziele. Ihnen fehlt jede Möglichkeit, das aufzuhalten und zu korrigieren, was schief läuft (und sie wissen nicht einmal, ob etwas schief läuft und wie man es stoppt).
Finanzieller Fortschritt wird mittels Metriken bzw. Kennzahlen wie Gewinn-und-Verlust-Rechnung, Bilanz und Cashflow-Bericht gemessen, selbst wenn es keinen Umsatz gibt, der zu messen wäre. In Wirklichkeit ist keiner dieser Werte für ein Startup von Nutzen. Die Vorstandsmitglieder haben lediglich die traditionellen Metriken übernommen, die in großen Unternehmen mit vorhandenen Kunden und bekannten Geschäftsmodellen zum Einsatz kommen. In einem Startup zeigen diese Metriken nicht den Fortschritt in Bezug auf das einzige Ziel des Startups: ein nachhaltiges und skalierbares Geschäftsmodell zu finden. Stattdessen geraten traditionelle Kennzahlen nur in den Weg. Anstatt zu fragen: »Wie viele Tage bis zum Betatest?« oder »Was ist bereit zum Verkauf?« müssen der Vorstand und das Managementteam eines Startups gezielt Fragen über die Ergebnisse seiner langen Liste von Tests und Experimenten stellen, um damit alle Komponenten des Geschäftsmodells zu validieren.
Wenn die Geschäftsführung eines Startups diese Fragen nicht stellen, verschwenden sie Zeit, ohne etwas Wertvolles beizutragen. Ganz egal, was passiert, die Manager und die Gründer müssen auf ein finanzielles Maß konzentriert bleiben, das immer wichtig ist: die Cash-Burn-Rate und die Anzahl der Monate, für die noch Geld auf der Bank ist.
Webvan hatte keine Meilensteine, die besagten: »Haltet inne und bewertet die Ergebnisse des Starts.« Ansonsten hätte man dort den riesigen Unterschied zwischen den 2.000 täglichen Bestellungen, die tatsächlich eintrudelten, und den 8.000 Bestellungen, die im Businessplan vorhergesagt worden waren, bemerkt. Bevor irgendein sinnvolles Kunden- Feedback eingegangen war und nur einen Monat nach Beginn der Lieferungen unterzeichnete Webvan einen 1-Milliarde-Dollar-Deal (ja, 1.000.000.000 Dollar) mit Bechel über den Bau von 26 weiteren Vertriebszentren im Laufe der nächsten drei Jahre.
6. Verwechseln der traditionellen Funktionsbeschreibungen mit dem, was ein Startup erreichen muss
Die meisten Startups haben die Bezeichnungen der Jobs einfach von den etablierten Unternehmen übernommen. Doch bedenken Sie, das sind die Jobs in einer Organisation, die ein bekanntes Geschäftsmodell ausführt. Der Titel Vertrieb in einem bestehenden Unternehmen stellt ein Team dar, das wiederholt ein bekanntes Produkt mit Standardpräsentationen, -preisen und
-bedingungen an eine wohlverstandene Gruppe von Kunden verkauft. Startups haben per definitionem nur wenige — wenn überhaupt — dieser bekannten Elemente. Um genau zu sein, suchen sie noch nach ihnen!
Da die Zielkunden, Produktspezifikationen und Produktpräsentationen sich täglich ändern können, brauchen die Manager von Startups in den frühen Phasen völlig andere Fertigkeiten als Manager, die in einem etablierten Unternehmen etablierte Produkte oder Produkterweiterungen vertreiben. Die Anforderungen der Customer Discovery erfordern Menschen, die kein Problem mit Änderungen und unübersichtlichen Situationen haben, die in der Lage sind, aus Fehlern zu lernen, und die ohne »Wegweiser« in risikoreichen, instabilen Situationen arbeiten können. Kurz gesagt, Startups sollten die seltenen Exemplare willkommen heißen, die man als Entrepreneure bezeichnet. Sie sind offen für das Lernen und Entdecken — ausgesprochen neugierig, wissensdurstig und kreativ. Sie müssen begierig darauf sein, ein nachhaltiges und skalierbares Geschäftsmodell zu finden. Agil genug, um mit täglichen Änderungen zurechtzukommen und »ohne Wegweiser« arbeiten zu können. Bereit, sich mehrere Hüte aufzusetzen, oft sogar am selben Tag, und in der Lage, problemlos Misserfolge zu feiern, wenn diese zu Lernerfolgen und Iterationen führen.
CEO und Vizepräsidenten von Webvan kamen alle aus größeren Unternehmen und brachten entsprechende Erfahrungen mit. Sie waren überrascht und erschrocken über die vielen Unwägbarkeiten in einem Startup und versuchten, das Problem zu lösen, indem sie das Unternehmen rapide vergrößerten.
7. Vertrieb und Marketing klammern sich an einen Plan
Engagiert man Vizepräsidenten und Manager mit den richtigen Titeln, aber den falschen Fähigkeiten, führt das zu weiteren Problemen im Startup, wenn hochrangige Vertriebs- und Marketingprofis angestellt werden, um den »Plan« auszuführen. Üblicherweise läuft das so ab:
Entsprechend dem Businessplan und dem traditionellen Modell zur Produkteinführung einigen sich der Vorstand und die Gründer auf einen Starttermin, eine Burn-Rate, einen Ertragsplan und eine Reihe von Meilensteinen. Der Vertriebsdirektor beginnt damit, das Vertriebsteam einzustellen, Verkaufsargumente zu entwerfen und Termine und Absprachen zu arrangieren, um frühe »Leuchtturmkunden« zu gewinnen (prominente Kunden, die andere anlocken). Gleichzeitig nutzt das Vertriebsteam Ertragsziele, die im Businessplan festgelegt sind, um seinen Erfolg beim Verstehen der Kunden zu ermitteln. In der Zwischenzeit entwirft der Marketingdirektor Websites, Logos, Präsentationen, Datenblätter und Zusatzmaterialien und heuert PR-Agenturen an, um Aufmerksamkeit zu erregen. Diese Taktiken werden zu Marketingzielen, obwohl es sich lediglich um Taktiken handelt. Das Marketing entdeckt erst nach der ersten Lieferung an den Kunden , ob seine Aktivitäten zu Positionierung, Nachrichtengenerierung, Preisgestaltung und Bedarfsweckung tatsächlich funktionieren.
Manager und Vorstandsmitglieder, die daran gewöhnt sind, dass Fortschritt anhand des »Plans« gemessen werden kann, konzentrieren sich auf diese Durchführungsmaßnahmen, weil es das ist, was sie kennen (und wofür sie glauben, eingestellt worden zu sein). Natürlich ist dieser Fokus in etablierten Unternehmen mit bekannten Kunden und Märkten sinnvoll. Und er könnte sogar in einigen Startups funktionieren, die sich in »bestehende Märkte« gewagt haben, in denen Kunden und Märkte bekannt sind. Doch in der Mehrzahl der Startups bedeutet es einen falschen Fortschritt, wenn man den Fortschritt anhand eines Produktstarts oder Ertragsplans misst. Schließlich existiert noch kein echtes Kunden-Feedback, und es wird nicht versucht, den Kunden und seine Probleme zu verstehen und Annahmen durch Fakten zu ersetzen.
Webvan begab sich ebenfalls auf diese Art von plangesteuertem »Marketing-Todesmarsch «. In den ersten sechs Monaten erzielte man beeindruckende 47.000 neue Kunden, allerdings waren 71 Prozent seiner 2.000 täglichen Bestellungen Wiederholungsbestellungen. Das bedeutete, dass Webvan sich schnell viele neue Kunden sichern und seine hohe Absprungrate reduzieren musste. Was das Ganze noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass Webvan seine Ausgaben auf unbestätigte und, wie sich herausstellte, übermäßig optimistische Marketingannahmen ausgerichtet hatte.
8. Die Vermutung von Erfolg führt zu einer voreiligen Skalierung
Der Businessplan, seine Ertragsvorhersage und das Produkteinführungsmodell gehen davon aus, dass jeder Schritt, den ein Startup unternimmt, problemlos und geschmeidig zum nächsten Schritt führt. Das Modell lässt wenig Raum für Fehler, Lernen, Iterationen oder Kunden-Feedback. Es wird nicht gesagt: »Stoppt oder verlangsamt das Einstellen von Leuten, bis ihr die Kunden verstanden habt!« oder »Haltet inne, um euch mit dem Kunden-Feedback zu beschäftigen!«. Selbst die erfahrensten Manager stehen unter Druck, entsprechend dem Plan neue Leute anzustellen, ganz egal, welchen Fortschritt man zu verzeichnen hat. Das führt zur nächsten Startup-Krise: voreilige Skalierung.
Das Einstellen und Geldausgeben sollte erst dann zunehmen, wenn Vertrieb und Marketing zu vorhersagbaren, reproduzierbaren, skalierbaren Prozessen geworden sind — nicht wenn der Plan sagt, dass sie anfangen sollen (oder wenn der »Leuchtturmvertrag« unterzeichnet oder einige Verkäufe getätigt worden sind).
In großen Unternehmen enthalten die Fehler einfach noch einige zusätzliche Nullen. Microsoft und Google — und ja, das sind Giganten in der Branche — bringen Produkt auf Produkt heraus — Googles Orkut und Wave, Deskbar, Dodgeball, Talk und Finance, Microsofts »Kin«, Vista, Zune, »Bob«, WebTV, MSNTV, PocketPC. Doch schon kurze Zeit später sorgt mangelndes Kunden-Feedback für ein schnelles, stilles Begräbnis von Produkt und Management gleichermaßen.
Bei Webvan traf die voreilige Skalierung auf eine Unternehmenskultur, die von dem vorherrschenden Mantra der Risikokapitalszene der damaligen Zeit bestimmt war: »Werde schnell groß!« Man gab 18 Millionen Dollar für die Entwicklung einer eigenen Software und 40 Millionen Dollar für das Einrichten des ersten automatisierten Lagers aus, bevor auch nur ein einziges Produkt ausgeliefert worden war. Die voreilige Skalierung hatte ernste Folgen, die dafür sorgten, dass der Fall Webvan noch in den kommenden Jahrzehnten als Beispiel an den Business Schools behandelt werden wird. Als der Bedarf der Kunden nicht mit dem Businessplan des Unternehmens Schritt hielt, merkte man bei Webvan langsam, dass man es übertrieben hatte. Webvan hatte zwar seinen Plan umgesetzt, es dabei aber versäumt, auf seine Kunden zu achten.
9. Krisenmanagement führt zu einer Todesspirale
Bei Webvan zeigten sich die Folgen all dieser Fehler zum Zeitpunkt der ersten Lieferung an den Kunden. Normalerweise läuft es dann so:
Der Vertrieb schafft seine Zahlen nicht mehr, und der Vorstand beginnt, sich zu sorgen. Der Vertriebsdirektor kommt, immer noch optimistisch, zu einer Vorstandssitzung und liefert eine Reihe vernünftiger Erklärungen. Der Vorstand runzelt die sprichwörtliche Stirn. Der Vertriebsdirektor kehrt ins Feld zurück und treibt seine Truppen zu härterer Arbeit an. Der Vertrieb bittet die Entwicklung, für spezielle Kunden eigene Versionen des Produkts zu bauen, da dies die einzige Möglichkeit darstellt, wie die zunehmend verzweifelte Vertriebsabteilung noch Verkäufe abschließen kann. Vorstandssitzungen werden immer angespannter. Kurz darauf wird der Vertriebsdirektor wahrscheinlich als Teil der »Lösung« entlassen.
Ein neuer Vertriebsdirektor wird eingestellt und kommt schnell zu dem Schluss, dass das Unternehmen einfach nicht verstanden hat, wie seine Kunden ticken oder wie man etwas an sie verkaufen kann. Er entscheidet, dass die Positionierungs- und Marketingstrategien des Unternehmens falsch waren und dass dem Produkt wichtige Funktionen fehlten. Da der neue Vertriebsdirektor engagiert wurde, um die Verkäufe »zu korrigieren«, muss die Marketingabteilung nun auf einen Vertriebsmanager reagieren, der glaubt, dass alles, was früher im Unternehmen geschaffen wurde, falsch war. (Schließlich wurde der alte Vertriebsdirektor deswegen ja auch gefeuert, oder?) Ein neuer Vertriebsplan erkauft dem neuen Vertriebsdirektor einige Monate Ruhe.
Manchmal sind nur ein oder zwei Iterationen erforderlich, um den richtigen Weg für Verkäufe und Positionierung zu finden und Kunden anzulocken. Wenn allerdings in raueren Zeiten das Geld nicht mehr so locker sitzt, kommt es möglicherweise nicht mehr zu einer nächsten Finanzierungsrunde.
Das Problem bei Webvan war allerdings nicht eine inkorrekte Vertriebsstrategie oder Positionierungsaussage. Das Problem ist, dass kein Businessplan den ersten Kontakt mit dem Kunden überlebt. Die Annahmen im Webvan-Geschäftsplan waren einfach eine Reihe ungetesteter Hypothesen. Als die ersten Ergebnisse eintrudelten, merkte man, dass die Annahmen im Ertragsplan falsch waren. Webvan konzentrierte sich auf die Ausführung seines Businessplans, folgte weiter seiner Strategie und versuchte, ein Geschäftsmodell durchzusetzen, indem Manager gefeuert wurden.
Webvan ging 1999 an die Börse. Seine roten Zahlen wurden vierteljährlich publik gemacht. Anstatt anzuerkennen, dass der Plan unrealistisch war, und die Aktivitäten zurückzufahren oder das Ganze in einem kleineren Maßstab anzugehen, hielt das Unternehmen an seiner irren Strategie fest und häufte in diesem Zuge einen Verlust von 612 Millionen Dollar an. Sieben Monate nach seinem Börsengang beantragte Webvan »Chapter 11 Bankruptcy« (eine Form der Insolvenz nach dem US-amerikanischen Bankruptcy Code).
Ein ironischer Nachsatz: Zwei weitere Unternehmen auf zwei Kontinenten sahen zur selben Zeit dieselbe Gelegenheit, entwickelten aber ihre Geschäfte, indem sie den Regeln des Customer Development folgten, obwohl sie zu der Zeit noch gar nicht an der Börse waren. Sowohl Peapod als auch Tesco sind heute erfolgreich, profitabel und auf Wachstumskurs. Sie begannen kleiner, ohne hypothetische Annahmen und Pläne in Stein zu meißeln, und lernten, was die Kunden wünschten, während sie das Geschäft und funktionierende Finanzmodelle entwickelten. Tesco, ein britisches Unternehmen, das Ladengeschäfte als Ausgangspunkt und »Lager« benutzte, liefert heute mehr als 85.000 Bestellungen pro Woche aus und nimmt mehr als 559 Millionen Dollar im Verkauf ein. Peapod, ein US-amerikanisches Unternehmen, hat mehr als 10 Millionen Lebensmittelbestellungen an mehr als 330.000 Kunden geliefert. Beide verstanden explizit oder implizit den Testen-und-Wiederholen-Prozess des Customer Development.
Dies ist ein durch den O’REILLY Verlag genehmigter Auszug aus “Das Handbuch für Startups”. Daniel Bartel und Prof. Dr. Nils Högsdal sind die Herausgeber der deutschen Übersetzung des Standardwerks “The Startup Owner’s Manual” von Steve Blank und Bob Dorf.