Unterwegs mit Oma.

Wie man jemanden finden kann, der sich gerade verliert.

Gerald Hensel
Das Horribilicribrifax
4 min readOct 24, 2013

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Im Frühjahr 2011 schrieb ich “einen Nachruf der noch keiner ist” auf meine wenig später verstorbene Oma Lizi. Meine Großmutter litt nach einem Unfall sehr plötzlich unter Demenz (mancher Arzt bezeichnete es auch als Alzheimer). Zum Glück wurde sie von allzu langem Leid verschont und nach nur wenigen Monaten schlief sie ruhig im Kreis ihrer Familie ein.

Zwei Jahre später wiederholt sich ihre Geschichte bei meiner zweiten Oma: Oma Erna. Auch sie hatte einen Unfall und hat seitdem ganz klare und ständig zunehmende Erinnerungslücken. Omas betreutes Wohnen musste gegen einen Pflegeheimplatz eingetauscht werden.

Es gibt viel, was man über Demenz oder Alzheimer sagen kann. Vielen erscheint schon die Vorstellung daran so grausam, dass sie sich lieber das Leben nehmen wollten statt als Alzheimerpatienten “zu enden”.

Diese Sichtweise finde ich eher schade weil es meist recht emotionale Statements aus dem Bauch heraus sind, die einen nüchternen Blick auf diese Krankheit erschweren.

Meine Wahrnehmung: Natürlich verändert Demenz einen Menschen massiv und in vielen Fällen nicht zum Positiven. Ich wünschte mir aber auch, dass bei einem Blick auf diese Krankheit Veränderung durchaus auch als etwas Positives gesehen werden kann. Denn ja, es gibt dabei durchaus auch Gutes.

Ich beobachte, dass Oma und viele ihrer Mitpatienten wieder kindisch wird — und das im besten Sinne des Wortes. Irgendwie ist es eine Rückkehr zum Anfang: Berührungen werden bei Demenzpatienten wieder wichtig. Und viele andere Dinge, die wahrscheinlich auch in einem beliebigen Kindergarten gut funktionieren würden. Denn am Anfang und am Ende — scheint es — geht’s um Schlüsselreize, Quatsch, Lachen und bunte Luftballons.Ententanz statt Schaffe-schaffe-Häuslebaue. Und das ist irgendwie kein Grund, sich das Leben zu nehmen, auch wenn es natürlich nicht immer so einfach ist wie ich es gerade darstelle.

Menschen, die zunehmend der Demenz ausgeliefert sind, haben vor vielem Angst und vieles lässt sich schwer für sie erklären, was in der Logik der Krankheit liegt. Es lohnt sich also gemeinsam auf die Suche zu machen, was in diesem Stadium des Lebens das Leben wieder ein bisschen sicherer oder lebenswerter macht.

Bei Oma Erna stellte ich fest, dass Fotos aus ihrem bewegten Leben sie sehr glücklich machen (gänzlich anderes als meine andere Oma, der Bilder herzlich egal waren). Gemeinsam mit meinem Opa ist sie viel gereist, was in der Kriegsgeneration nicht immer üblich war. Beide waren sehr aktiv, waren viel wandern, in Norwegen oder den Alpen. Trekking-Freaks würde man so Leute heute nennen.

Als ich sie das erste Mal in ihrem neuen Zimmer in der Pflegeeinrichtung, in der sie jetzt lebt, besuchte, war sie voller Angst. Niemand hatte ihr erklärt, warum sie jetzt in Dauerpflege ist. Das Zimmer, das sie mit einer weiteren Dame teilte, war unpersönlich und nicht ihr eigenes.

Als ich auf die Idee kam, ein paar gerahmte Wander-Bilder an die Wand zu hängen, hellte sich plötzlich ihre Miene auf. Dann hing ich noch eins daneben und noch eins und noch eins. Und irgendwann war sie zu Hause. Das Pflege-Zimmer sah überraschenderweise dem bunt bebilderten Flur ihres Hauses, in dem sie 40 Jahre in einer Ehe gelebt hat, sehr ähnlich.

Überrascht stellte ich fest, dass diese Bilder wichtig waren.

Mein Eindruck: Jeder Frühphasen-Demenz-Patient — so zumindest mein Eindruck — hat sein eigenes Rezept, das man jedoch mit ihm finden kann und muss. Vielleicht leuchten unsere Augen irgendwann auf, wenn man uns eine alte XBOX 720 ins Heim bringt. Wer weiß?

Wie viel Wert für Patienten und Angehörige in dieser Erkundung steckt, ist mir heute wieder bewusst geworden als ich Post von dem Pflegeteam meiner Oma erhielt. Von meinem letzten Besuch hatte ich ihr natürlich wieder alle Fotos zugeschickt, die wir geknipst hatten. Wie viel Freude für sie in diesen Bildern wirklich steckt, kann ich wahrscheinlich nicht mal ansatzweise ermessen.

Das war heute in der Post.

Neben der wirklich rührenden Karte, fiel mir noch etwas auf: in meinen paar Kontaktpunkten mit Pflege im Alter bin ich bisher ausschließlich mit hart arbeitenden und menschlich extrem involvierten Pflegern in Kontakt gekommen. Mir ist klar, dass ein Job in der Altenpflege zu den härtesten Jobs gehört, die man haben kann. Und ich habe größte Hochachtung vor allen Menschen, die unter Höchstdruck so viel geben für so wenig, was sie dafür materiell erhalten.

Umso mehr freut mich die Bitte dieses Teams, das ich ihnen vielleicht erklären könnte, wer meine Großmutter mal war. Und auch wenn es ein bisschen formalisiert aussieht: ich glaube dieser Steckbrief, die Bilder an ihrer Wand und ein paar andere Dinge, die wir vielleicht noch finden werden, helfen meiner Großmutter diesen letzten Weg in ihrem Leben zu gehen. Gemeinsam mit ihrer Familie (die leider zu weit weg wohnt) und ihrem Pflegeteam.

Ich glaube, dass auch mit Demenz oder Alzheimer Glück möglich ist. Die große Herausforderung: Man muss gemeinsam zum Teil drastische Veränderungen akzeptieren und gemeinsam mit dem Betroffenen herausfinden, wie man gemeinsam eine neue Person einstellt. Eine Person, die auch mit Demenz das Recht auf Glück hat — und damit auch das Recht auf Würde. Denn auch mit Alzheimer sind wir nicht das, was Amerikaner gerne “Vegetable” nennen. Wir sind und bleiben Menschen.

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Gerald Hensel
Das Horribilicribrifax

Neu-Hamburger, Politologe und Sicherheits-/Geschichtsfreak. Hier nur privat. Beruflich: Co-Gründer und GF bei superspring Marketing Consulting.