Plenarsaal des Bundestags. Bild: Times.

Das Los der Demokratie

Teilhabe jenseits von Wahlen

Kai Schmidt
Das Sonar
Published in
7 min readJun 27, 2017

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Von KAI SCHMIDT

Es erscheint als historische Kuriosität aus den kleinen Anfängen der Demokratie, wenn man erfährt, dass wesentliche politische Ämter in der Demokratie Athens nicht durch Wahl bestimmt wurden, sondern allein durch das Los. Heute ist das Losverfahren nur noch der letzte Notnagel der demokratischen Ämtervergabe. Nur wenn die Anzahl der Stimmen absolut gleich zwischen zwei Kandidaten verteilt ist, entscheidet das Los darüber wer das Amt ausüben darf. Das Los ist eine Krücke, die nur dann genutzt wird, wenn das allseits als legitim anerkannte Wahlverfahren aufgrund von Stimmengleichheit nicht funktioniert.

Das Losverfahren war aber die meiste Zeit kein Notnagel, sondern ein integraler Bestandteil jeder demokratischen Regierungsform, die von den bedeutendsten politischen Theoretikern von Aristoteles bis Montesquieu und Rousseau anerkannt und wohl begründet wurde. Dies änderte sich mit den Erfolgen der demokratischen Revolutionen in den USA und Frankreich. Die alte aristokratische Elite wurde verdrängt und die neuen Eliten der Revolution versuchten sich an der Macht zu etablieren.

Kleroterion. Diese Losmaschine wurde in Athen benutzt um wichtige politische Ämter zu vergeben. Bild: Wikipedia.

Die neuen demokratischen Staaten verfassten sich als Republiken, ein Begriff, der die Herrschaft einer gewählten Elite bereits in sich trägt. Denn die res publica, von der sich der Begriff Republik ableitet, bezeichnete das Herrschaftssystem des alten Rom, der römischen Republik, und nicht das der griechischen Demokratien.

In Rom wurde gewählt und die römische Republik wurde durch einen Amtsadel geführt, der aus Dynastien von Amtsträgern bestand. Das Ziel einer jeden der elitären Familien war es einen der Konsul zu stellen und je mehr Konsuln eine Familie ins Amt gebracht hatte, desto größer wurde ihr Ansehen und ihre Macht und desto mehr Ämter konnte sie dadurch für ihre Angehörigen sichern. Das Volk durfte in Rom wählen, aber nur ein ganz kleiner Teil der Gesellschaft hatte realistische Chancen gewählt zu werden.

Das Hoheitszeichen der römischen Republik. Bild: Wikipedia.

Die Dynastien der römischen Republik erinnern frappierend an die Politdynastien der USA, von den Adams ganz zu Anfang ihrer Geschichte bis zu den Kennedys, Bushs und Clintons. Alle Amerikaner dürfen wählen, realistische Chancen die Wahl zu gewinnen und das höchste Amt im Staat zu erringen habe aber nur ganz wenige Angehörige einer kleinen Elite. In Deutschland ist die Lage noch nicht so krass, aber auch hier sitzen im Bundestag, welcher die gesamte Bevölkerung, die wählt, repräsentieren soll, sitzen praktisch nur noch Akademiker, deren Eltern auch schon Akademiker waren.

Poster mit der Gettysburg Adress. Quelle: Library of Congress.

„… government of the people, by the people, for the people …” wie sie Lincoln in seiner Gettysburg Address forderte mag noch eine Regierung des Volkes und für das Volk sein, aber es ist eine Regierung durch Eliten, die sich über Wahlen in ihrer repräsentativen Rolle legitimieren lassen. Besteht eine politische Elite aber nicht mehr aus allen Gesellschaftsschichten und Bereichen wird sie in ihrer Fähigkeit die Interessen der gesamten Gesellschaft zu vertreten eingeschränkt sein.

Dies muss den Repräsentanten noch nicht einmal bewusst sein, genauso wenig wie den Wählern, welche die Repräsentanten bestimmen. Aber durch die eigene Biographie entwickelt man Tendenzen für welche Themen und Probleme man sich engagiert, welche Dinge man nachvollziehen kann und welche nicht.

Das offensichtlichste Beispiel, das zumindest in unserem Land halbwegs überwunden wurde, ist der Geschlechtsunterschied. Wenn in einem Parlament nur Männer sitzen, dann werden die Diskriminierung von Frauen, oder Angelegenheiten der Schwangerschaft völlig anders behandelt, als wenn Frauen daran beteiligt sind, die von diesen Dingen ganz anders betroffen sind als Männer. Natürlich kann sich ein Parlament aus Männern auch für Frauenrechte einsetzen, aber gewisse Facetten werden in der Debatte komplett anders diskutiert werden. Dieses sehr modellhafte Beispiel soll vor allem eine Veranschaulichung sein. Es ist aber ganz real der Fall, dass ein Bundestag, in dem nur noch ganz wenige ohne Hochschulabschluss, die meisten auch noch aus denselben Studiengängen, sitzen, über Angelegenheiten der Arbeitswelt ungelernter Arbeiter entscheidet.

Plenarsaal des Reichstags 1889. Dieses Parlament wurde nur von Männdern gewählt. Bundesarchiv: Bild 147–0978

Ähnliches gilt mittlerweile in zahllosen Bereichen. Die Repräsentanten repräsentieren die Bevölkerung nur noch mittelbar. Dessen sind sie sich in Teilen auch bewusst. Kaum eine Partei, die nicht von sich behauptet Politik für die gesamte Bevölkerung zu machen, nicht einmal mehr nur für ihre eigenen Wähler. Wenn man keinen Kollegen in der Fraktion mehr hat, der einem erzählen kann, wie es auf dem Bau zugeht, versucht man anderweitig den Ansichten der Bevölkerung nachzuspüren.

Dabei bedient man sich allerlei Hilfsmittel, vom schlichten lesen der Presseüber Meinungsumfragen bis hin zu Bürgerdialogen und ähnlichem. Alle diese Mittel haben aber das Problem, dass sie auch kein ungefiltertes Bild bieten können. Umfragen liegen dauernd falsch. Die Presse ist eine eigene Elite, die bewusst Themen setzen kann. Zu Bürgerdialogen kommen immer dieselben Leute und in den sozialen Medien werden vor allem die laut krakeelenden Extremisten gehört, während differenziert denkende Bürger höchstens noch Katzenbilder posten, weil die politische Debatte dort viel zu vergiftet ist.

Wenn es also keinen vernünftigen Weg gibt sich über die Angelegenheiten der Bürger zu informieren, warum sie dann nicht selbst abstimmen lassen? Bürgerentscheide gelten seit Jahrzenten als eines der Heilmittel, mit denen sich die Schwächen der repräsentativen Demokratie ausgleichen lassen. Der Bürger soll unmittelbar seinen Willen kundtun und die Politik setzt diesen dann ohne Wenn und Aber, ohne jede Unsicherheit über den Willen des Bürgers, um.

Das direkte Demokratie eben kein Heilmittel ist und nur sehr eingeschränkt für ein Demokratisches System überhaupt nützlich sein kann, ist nicht erst seit dem Brexit klar. Noch stärker als bei Wahlen, lassen sich Bürger bei Volksabstimmungen durch politische Eliten manipulieren. Dies beginnt damit, dass der Prozess einer Volksabstimmung, also wer diese ansetzen darf, wer die Fragestellung bestimmt etc. von den politischen Eliten konstruiert und oft auch kontrolliert wird.

Stimmzettel für die Volksabstimmung zum Anschluss Österreichs an NS-Deutschland. Die Manipulation war in diesem Fall eher weniger subtil. Quelle: Wikipedia.

Schon der genaue Wortlaut der Frage, die der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt wird, kann das Ergebnis einer Abstimmung beeinflussen. Noch zentraler ist jedoch, dass die Werbekampagnen vor solchen Abstimmungen endscheidend für das Ergebnis sind. Die meisten Bürger investieren nicht ihre Zeit, um sich umfassend über ein Thema zu informieren. Zudem sind die meisten Themen so komplex, dass die Lektüre einiger Zeitungsartikel oder das Ansehen einiger Fernsehberichte nicht ausreicht, um sich ein objektives und fundiertes Urteil zu bilden. Große Volksabstimmungen sind also nahezu gänzlich ungeeignet, um sicherzustellen, dass nicht eine kleine Elite die politischen Entscheidungen kontrolliert.

Eine Lösung dieses großen Problems der heutigen repräsentativen Demokratie kann man in Irland beobachten und das Los spielt dabei eine wichtige Rolle. Bereits zum zweiten Mal wurde im Oktober 2016 eine Bürgerversammlung einberufen. 99 Bürger aus ganz Irland, die ein ungefähres Abbild der irischen Gesellschaft sein sollen. Alle diese Bürger wurden durch das Los bestimmt und so ist es eben keine politische Elite, die sich in dieser Versammlung zusammenfindet, sondern Bürger der Republik Irland, welche tatsächlich aus allen Teilen der Gesellschaft kommen.

Von der Regierung werden der Bürgerversammlung wichtige Fragen vorgelegt, zu denen diese eine Empfehlung abgeben soll. Bei der ersten Bürgerversammlung war dies unter anderem die Frage, ob Irland die Ehe für alle, also auch für Homosexuelle erlauben sollte. Ein heikles Thema in dem katholisch geprägten Land. Die Bürgerversammlung tritt einmal im Monat für ein Wochenende zusammen, dies ermöglicht es, dass auch Berufstätige oder Alleinerziehende ohne allzu große Probleme teilnehmen können. In der Versammlung werden Experten, Betroffene und Interessenvertreter zum jeweiligen Thema angehört. Im Fall der Ehe für alle etwa Kinder, welche von homosexuellen Eltern aufgezogen wurden, oder ein Bischof als Vertreter der Kirche.

Nach diesen Anhörungen wird in kleinen Gruppen von sieben oder acht Leuten diskutiert und Fragen gestellt, am Ende wird die Meinung des Tisches, die in aller Regel sehr differenziert ausfällt, von einem Vertreter der Gruppe dem Plenum vorgestellt. Auf diese Art kann sich jeder Teilnehmer der Versammlung über mehrere Monate eine differenzierte Meinung bilden, die dann in die Empfehlung der Bürgerversammlung an die Regierung weitergegeben wird. Im Falle der Ehe für alle mündete die Empfehlung der Bürgerversammlung in eine Volksabstimmung, bei der die Ehe für alle von einer Mehrheit der gesamten Bevölkerung befürwortet wurde.

Durch diese Bürgerversammlungen per Los kann man also effektiv dafür sorgen, dass nicht nur eine Elite den politischen Entscheidungsprozess dominiert, sondern es wird sichergestellt, dass die gesamte Gesellschaft repräsentiert wird. Hinzu kommt, dass die Teilnehmer der Versammlung sich während dieser nicht öffentlich äußern dürfen, was einer Fraktionsbildung effektiv vorbeugt, und jeder nur einmal an solch einer Bürgerversammlung teilnehmen darf. Es besteht also keine Gefahr, dass sich die einmal ausgelosten Vertreter dauerhaft etablieren und nur eine neue Elite bilden.

Im Vergleich zu Volksentscheiden entfällt auch das Problem, dass eine uninformierte und leicht zu manipulierende Entscheidung getroffen wird. Die Teilnehmer der Versammlungen setzen sich eingehend und differenziert über einen längeren Zeitraum mit einem Thema auseinander. Auch müssen sie praktisch nicht auf andere Interessen achten, wie etwa klassische Abgeordnete auf ihre Wiederwahl, sondern tatsächlich wohl informiert nach bestem Wissen und Gewissen ihre eigene Entscheidung treffen. Damit sind sie nicht nur gegenüber Volksentscheiden klar im Vorteil, sondern in einigen Punkten auch unseren klassischen Parlamenten überlegen.

Natürlich sind diese Versammlungen und auch das Losverfahren kein Ersatz für die Institutionen welche durch Wahl bestimmt werden, aber sie sind eine wertvolle Ergänzung, welche die Teilhabe der gesamten Bevölkerung am demokratischen Prozess sicherstellt. Deutschland sollte sich ähnliche Institutionen wie die Bürgerversammlung in Irland schaffen und zwar auf allen Ebenen, vom Bund bis hinunter in die Kommunen. Unsere Demokratie, welche heute unter so großem Druck steht, würde dadurch gestärkt!

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