Reichstagsgebäude Foto: Jürgen Matern

Das versteckte Staatsorgan

Koalitionsverträge sind undemokratisch. Warum demokratische Kultur mehr Transparenz braucht.

Erik Jäger
Das Sonar
Published in
5 min readNov 6, 2017

--

Von ERIK JÄGER

In Deutschland finden gerade Sondierungsgespräche über die Bildung einer sogenannten Jamaika-Koalition statt. Am Ende dieser Verhandlungen wird im Erfolgsfall ein Koalitionsvertrag stehen, so ist es in der Bundesrepublik seit 1961. Aus demokratietheoretischer Sicht sind diese Verträge jedoch problematisch.

Schließlich werden die Gesetze vom Parlament und seinen lediglich ihrem Gewissen verpflichteten Abgeordneten beschlossen, von der Regierung und Verwaltung ausgeführt, welche von den Gerichten kontrolliert werden. Im Koalitionsvertrag werden jedoch von den Spitzen der Parteien die Leitlinien der Politik für die nächsten 4(!) Jahre festgelegt. Gesetzesinitiativen außerhalb der im Koalitionsvertrag festgelegten Leitlinien finden sich in jüngerer Zeit kaum. Die Verträge sind somit ein bedeutender Teil der politischen Infrastruktur der Bundesrepublik.

Und trotz dieser bedeutenden Rolle sind sie weder im Grundgesetz, noch an anderer Stelle rechtlich festgeschrieben! Historisch sind Koalitionsverträge aus der Regierungserklärung des Reichs- beziehungsweise Bundeskanzlers entstanden. In dieser Rede wurden die Leitlinien der Politik der nächsten Legislaturperiode vorgegeben. Absprachen zwischen den Parteien und Fraktionen waren selbstverständlich üblich, allerdings im Rahmen von Absprachen und nicht als (zwar nicht de jure, aber de facto) bindende Verträge. Und diese Verbindlichkeit führt dazu, dass es schwieriger wird während der Legislaturperiode andere als am Beginn fest vereinbarte Lösungen zu finden.

Somit wird der Gestaltungsspielraum der gewählten Abgeordneten- und damit des Parlamentes bedeutend eingeschränkt. Schließlich sind nicht Alle, die von den Parteien in die Verhandlungen geschickt werden gewählte Mitglieder des Bundestages, es finden sich auch Ministerpräsidenten oder Parteivorstände, die auf Europäischer- oder Landesebene tätig sind. Ihre Berufung in diesen Kreis ist auch nicht Ergebnis einer Legitimation durch die Wahl, sondern durch Auswahl im jeweiligen Parteivorstand.

Sowohl die Richtlinienkompetenz, als auch das Ressortprinzip - in Art. 65 GG festgelegt — werden durch den Einfluss der Parteien geschwächt. Schließlich kommt es während der Sondierungen häufig zu Kompromissen zwischen programmatischen Zugeständnissen und Personalentscheidungen. Und die Starrheit, diese Kompromisse in Vertragsform festzuhalten beschneidet dann die Autonomie der Regierungsmitglieder.

Die Verhandlungen finden ihrer Natur nach unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Dabei werden die entscheidenden Debatten der Sozial-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik geführt. Nicht nur, dass diese Debatten in die Öffentlichkeit gehören, da ihre Auswirkungen so weit in den Lebensalltag der Bürger reichen, wie es nur möglich ist, sondern auch weil das Führen dieser Debatten eine Gesellschaft prägt. Demokratie bedeutet eigene Haltungen zu entwickeln und Kompromisse zu schließen. Aber damit diese nicht faul erscheinen, müssen die Beweggründe offen liegen. Diese Offenheit würde das Profil der Parteien und insbesondere der Politiker vor ihren Wählern sicher stärken.

Politikverdrossenheit könnte zurückgedrängt werden, wenn zum Ausdruck kommt, dass Wahlprogramme keine Liste von Versprechungen sind, sondern eine Verhandlungsgrundlage, die sich im Idealfall mit den Programmen der anderen Parteien in 4 Jahre guter Regierungsarbeit und erfolgreicher Gesetzesvorhaben amalgamiert. Und dieser Prozess sollte sichtbar sein. So können die Bürger sehen, dass die Nicht-1-zu-1-Umsetzung von Wahlprogrammen eben weder Lüge noch Betrug ist, sondern Ergebnis einer vernünftigen Übereinkunft von Erwachsenen.

Dem steht allerdings die politische Kultur der Bundesrepublik entgegen. Diese kann sich jedoch zum Besseren wandeln, ganz ohne Grundgesetzänderungen. Aktuell ist der Bundestag ein sogenanntes Arbeitsparlament. Ein Großteil der Arbeit wird, meist im Schatten der Öffentlichkeit, in den Ausschüssen von den jeweiligen Ressortpolitikern erledigt und die Sitzungen im Bundestag dienen dann lediglich dazu in vorbereiteten Reden kurz die Eckpunkte der Gesetzesvorschläge darzulegen. Folglich sind zahlreiche Abgeordnete in den Sitzungen nicht anwesend. Viele schließen daraus, dass diese faul seien. Das ist aber falsch, da ja die wirkliche Arbeit eines MdB in den Ausschüssen passiert und die Abgeordneten ja in den Zeiten, in denen andere Ressorts tagen sich der Arbeit im Wahlkreis oder Nebentätigkeiten widmen.

Es handelt sich um ein sehr effizientes und stabiles System, allerdings um den Preis, dass der Puls des gesellschaftlichen Diskurses stattdessen in den politischen Talkshows, den Meinungsseiten der Zeitungen, den Betriebskantinen und Stammtischen der Republik schlägt. Es folgt eine massenhaft subjektiv wahrgenommene Entfremdung der Bevölkerung von den politischen Eliten.

Im Ergebnis sitzt nicht nur eine rechtspopulistische Partei das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik im Bundestag, sondern sie formt den Ton der politischen Debatte deutlich stärker, als es ihr tatsächliches Wahlergebnis rechtfertigt. Die etablierten Parteien finden keine entsprechenden Antworten auf die neue Konkurrenz von rechts und versuchen ihnen programmatisch hinterherzulaufen.

Selbstverständlich ohne Erfolg, denn ein Großteil der AfD-Wähler hat kein programmatisches Interesse, sondern äußert vielmehr generelle Unzufriedenheit mit dem politischen System. Dasselbe Missverständnis, allerdings aus völlig anderer Richtung, lag damals dem kurzen Aufblühen der Piratenpartei zugrunde, bevor diese sich jedoch in inneren Streitigkeiten selbst zerlegte.

Solang die etablierten Parteien lediglich auf programmatischer und rhetorischer Ebene antworten, sind die “Enttäuschten” mittelbar für sie verloren. Sie haben das Gefühl, dass ihren Bedenken und ihrer Sicht auf die Welt nicht hinreichend Rechnung getragen wird. Doch was kann dagegen unternommen werden?

Die Debatten müssen stärker von den Abgeordneten im Bundestag ausgetragen werden. Viele sehnen sich nach den rhetorischen Schlammschlachten der frühen Bundesrepublik, wie sie beispielsweise zwischen Herbert Wehner und Franz Josef Strauß ausgetragen wurden.

Waren sie bessere, authentischere Politiker als ihre heutigen Nachfolger? Nein, sie waren genauso an Parteiklüngel und Hinterzimmerdeals beteiligt. Es entspricht der menschlichen Natur und jeder muss sich eingestehen, dass wir keine Engel, sondern eben Fehler begehende Wesen sind, die es in den allermeisten Fällen gut meinen, sich aber oft und gern irren. Sie trugen ihren Streit nur öffentlich aus und hatten vor der Erfindung des “Shitstorms” und omnipräsenten Handykameras deutlich größere Spielräume in Handeln und Sagbarem.

Wenn wir zusammenarbeiten kann es uns gelingen gesellschaftliche Probleme zu lösen. Der Weg dorthin ist ein geordneter Wettstreit der sich mehr auf Argumente und weniger auf die Argumentierenden fokussiert. Diese Ordnung ist das zentrale Prinzip, wenn nicht die lauteste Stimme, sondern der vernünftigste Gedankengang Eingang ins Recht finden soll und zugleich nicht nur von einer parlamentarischen Mehrheit, sondern ebenso von einem Großteil der Bevölkerung selbstbewusst vertreten werden soll. Aufgabe von Gesetzgebungsverfahren muss es sein, das Gute der Schwarmintelligenz hervorzuheben und gleichzeitig individuell menschliche Fehler und Emotionalität zwar geschehen zu lassen und zu akzeptieren, ihren Einfluss in der Rechtsbildung jedoch zu begrenzen.

Ein erster Schritt wären die von der SPD in der konstituierenden Sitzung des Bundestages geforderten Fragestunden der Regierung. Dies wäre ein erster Schritt, hin zu einer offen demokratischeren Kultur, die für das politische Immunsystem der Republik unerlässlich ist. Es wäre auch sehr zu begrüßen, wenn in Zukunft deutlich mehr Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Bundestages kämen und nicht von der Regierung, um der zu steigernden Rolle des Parlamentes Rechnung zu tragen. Ob dieser Weg am Ende in einer Liquid Democracy, wie sie von den Piraten gefordert wird, mündet, sei dahingestellt, mehr Transparenz im politischen Prozess ist jedoch in jedem Fall für die Zukunft unerlässlich.

--

--

Erik Jäger
Das Sonar

Politik und Philosophie für Das Sonar und manchmal allein/ politics and philosophy/ 50:50 English/German articles/ @EarlHuntington