Britischer Schützengraben im Juli 1916 während der Schlacht an der Somme. Zu sehen sind Soldaten der A Company, 11th Battalion, The Cheshire Regiment. Quelle: Imperial War Museum Catalogue number Q 3990.

Der Grabenkrieg

Warum die Fronten des Ersten Weltkriegs stecken blieben

Kai Schmidt
Das Sonar
Published in
7 min readSep 4, 2016

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Von KAI SCHMIDT

Etwas mehr als einen Monat war der Erste Weltkrieg ein Bewegungskrieg, wie man ihn in den Jahrzehnten zuvor mehrfach gesehen hatte. Die Deutsche Armee war weit nach Frankreich hinein vorgestoßen, hatte ihre Front überdehnt und musste sich nach der Schlacht an der Marne wieder zurückziehen. Die Deutschen gruben sich auf einem Plateau oberhalb der Aisne ein und wehrten die Gegenangriffe der Entente ab. Versuche den Gegner zu flankieren, der sogenannten Wettlauf zum Meer, scheiterten auf beiden Seiten und die Erste Flandernschlacht im Oktober 1914 zeigte endgültig, dass der Krieg sich festgefahren hatte. Der Grabenkrieg begann. Warum wurde der Erste Weltkrieg an den meisten Fronten, nicht nur an der Westfront, zu dem Grabenkrieg, der unser Bild des Konfliktes prägt? Was hatte sich im Vergleich zu den Konflikten des 19. Jahrhunderts verändert?

Schlacht bei Waterloo. Gemälde von William Sadler.

Wenn man sich Bilder der Schlacht von Waterloo ansieht, dann erscheint uns die damalige Art der Gefechtsführung irrational. Soldaten liefen in Formation und unter Beschuss über das Schlachtfeld, stellten sich in Linien gegeneinander auf und beschossen sich aus relativ kurzer Distanz, um dann in den Nahkampf überzugehen. Ohne jede Deckung vor Artillerie- und Gewehrfeuer bewegte sich Infanterie und Kavallerie über das Gefechtsfeld und setzen sich dem feindlichen Feuer ohne jeden Schutz aus.

Dies nicht so wiedersinnig wie es uns heute erscheint. Man konnte sich tatsächlich mit moderatem Risiko offen über das Schlachtfeld bewegen. Grund dafür war die Waffentechnik der damaligen Zeit. Die verwendeten Gewehre waren lange nicht so präzise wie heutige Waffen. Eine Person auf hundert Meter Entfernung zu treffen war nicht die Regel. Ein solches Ziel wurde nur von etwa jedem vierten Schuss getroffen. Hinzu kam, dass ein Schütze pro Minute vielleicht 1–2 Schüsse abgeben konnte. Das Laden war langwierig, da die Waffe nach jedem Schuss gesäubert werden musste und Pulver und Kugel separat über die Mündung der Waffe geladen werden mussten.

Illustration eines Feldgeschützes mit Mannschaft. Quelle: US National Park Service

Bei der Artillerie war dies ganz ähnlich. Bei einer Reichweite von wenigen tausend Metern war sie unpräzise und ihre Feuerrate niedrig. Zudem wurden zu dieser Zeit noch keine explosiven Geschosse verwendet, sondern nur massive Projektile, die nur in einem kleinen Bereich verheerende Schäden anrichten konnten. Es war also in der Tat für einen Angreifer möglich auf den Feind zu zumarschieren, um dann die letzten Meter im Sturm zu überwinden, ohne dabei vernichtende Verluste zu erleiden.

Im 19. Jahrhundert veränderte die industrielle Revolution die Kriegsführung. Die Eisenbahn ermöglichte schnellen Transport von Mensch und Material, Dampfschiffe verdrängten die Segelschiffe und der Telegraph und das Telefon beschleunigten die Nachrichtenübermittlung. Dies alles waren Innovationen, welche einen Bewegungskrieg begünstigten. Truppen konnten schneller verlegt werden und Kommandeure konnten Kontakt zu Einheiten halten, die weit entfernt waren. Auch die Waffentechnik entwickelte sich weiter, insbesondere im Bereich der Artillerie und Handfeuerwaffen. War also die Weiterentwicklung auf dem Gebiet der Artillerie die Ursache des Grabenkrieges?

Deutsche 17 cm SK L/40 i.R.L. an der Marn 1917. Quelle: Bundesarchiv, Bild 102–00277A / CC-BY-SA 3.0

Der Erste Weltkrieg war ein Krieg der von der Artillerie dominiert wurde. Die Geschütze waren größer, hatten eine höhere Reichweite und verschossen von Explosionsladungen bis hin zu Giftgas alle möglichen Kampfmittel. Die meisten Soldaten wurden durch ihre Geschosse und Geschosssplitter getötet oder verletzt, weit mehr als durch jede andere Art von Waffe. Auch die Gräben wurden vor allem gegraben, um sich vor den Granaten der Artillerie zu schützen. Aber die Notwendigkeit sich vor Artilleriebeschuss schützen zu müssen, war durch das erstarren der Front überhaupt erst gegeben. In einem Bewegungskrieg weicht man Artilleriebeschuss aus und versucht feindliche Geschützstellung entweder zu umgehen oder einzunehmen. In der Bewegungsphase des Ersten Weltkriegs gelang dies noch, etwa im Gefecht bei Lagarde.

Der massive Einsatz von Artillerie und das korrespondierende eingraben der Infanterie war mehr ein Symptom des steckengebliebenen Krieges als dessen Ursache. In der Tat wurden belgische Festungen in der Anfangsphase des Krieges durch die neue Artillerie viel schneller genommen als jemals für möglich gehalten. Und so hoffte man mit immer mehr Feuerkraft die gegnerischen Positionen sturmreif schießen zu können, was jedoch nur selten gelang. An der Westfront hatte diese Taktik überhaupt keinen Erfolg, an der Ostfront zwischenzeitlich jedoch Entscheidenden. Die Deutsche Armee unter August von Mackensen konnte nur durch massiven Artillerieeinsatz auf wenigen Kilometern der tausende Kilometer langen Front Durchbrücke erzielen. Auch dies gelang nur zwischenzeitlich und aufgrund der enormen Ausdehnung der Front.

Französischer Angriff auf Deutsche Stellungen 1917. Quelle: US Verteidigungsministerium.

Doch es waren Handfeuerwaffen mit denen die Sturmangriffe der Infanterie abgewehrt wurden und sie waren die Hauptursache für das Steckenbleiben des Krieges. Dafür spricht, dass die entscheidenden Innovationen erst ab den 1870er Jahren auf dem Gebiet der Handfeuerwaffen zum Tragen kamen. Die Artillerie hatte sich kontinuierlicher entwickelt, ohne einen vergleichbaren Innovationssprung. Die Wirkung ihrer Weiterentwicklung konnte schon in den Kriegen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesehen werden, etwa im US-Bürgerkrieg oder dem Deutsch-Dänischen Krieg, die beide nicht zu Stellungskriegen wurden.

Bei den Handfeuerwaffen war die einzige Verbesserung vor 1850 die Entwicklung des Zündnadelgewehrs, dessen Hauptvorteil war, dass es nicht mehr über die Mündung des Laufes geladen werden musste. Eine höhere Schussfrequenz und die Möglichkeit im Liegen zu laden und zu feuern waren die zentralen Vorteile dieser Innovation.

Die beiden wichtigsten Innovationen jedoch kamen erst nach der Mitte des Jahrhunderts. Sie sind eng miteinander Verbunden und da ihr volles Potential erst langsam erkannt und genutzt wurde, wirkten sie sich auf die Kriege vor der Jahrhundertwende noch nicht aus. Kordit war ein neues Schießpulver, das mehr Energie erzeugt als Schwarzpulver und bei dessen Verbrennung kaum Rauch entsteht. Diese Eigenschaften passten ideal zu einer neuen Art von Patrone die ab 1850 immer verbreiteter war.

Bei dieser neuen Munition war in einem Metallgehäuse Geschoss, Treibladung und Zünder vereint. Diese neue Munitionsart war nicht nur leichter zu transportieren, sondern vor allem schneller und leichter zu laden. Zusammen mit dem potenten rauchfreien Schießpulver besaßen die neuen Geschosse weitaus mehr Energie und eine höhere Präzision. Ein Infanterist im Jahr 1871, als das Deutsche Reich sein erstes Gewehr für diese Art von Patronen einführte, konnte schneller, präziser und über eine größere Entfernung effektiv schießen und treffen als ein Soldat der bei Waterloo kämpfte.

Die Patronenhülse aus Metall führte nicht nur zu besseren Patronen, sondern sie führte zu einer ganzen Reihe von Innovationen auf dem Gebiet der Handfeuerwaffen, welche alle die Leistungsfähigkeit dieser Waffen erheblich erhöhten. Dazu gehörte unter anderem die Erfindung des Magazins und darauf folgend des Repetiergewehrs und der Selbstladepistole. Nun musste man nicht mehr jede Patrone einzeln laden und konnte so weitaus schneller feuern. Auch mit Selbstladegewehren wurde bereits vor dem Weltkrieg experimentiert.

Doch die Erfindung, welche am radikalsten die Möglichkeiten der Patrone mit Metallgehäuse nutzte war das Maschinengewehr. Diese Waffe erhöhte die Feuerkraft der Infanterie in einem Ausmaß, welches die meisten Militärs der Zeit unfähig waren überhaupt zu erkennen. Die Maschinengewehre, welche nach der Vorlage von Hiram Maxim gebaut wurden, der als Erfinder des Maschinengewehrs gelten kann, nutzen die Energie der verschossenen Patrone, um eine neue zu laden.

So waren Feuerraten von mehreren hundert Schuss pro Minute möglich. Solange diese Waffen Munition (und Kühlwasser) bekamen, konnten sie feuern. Bezieht man die Zeit, die zum Nachladen von Munition (und Nachfüllen Kühlwasser) benötigt wurde, so kann man davon ausgehen, dass ein Maschinengewehr im Gefecht 300–500 Schuss pro Minute abgeben konnte. Eine Gruppe von drei Mann konnte also mehr Munition mit einer höheren Reichweite und Präzision verschießen als eine ganze Kompanie hundert Jahre zuvor.

Ein Sturmangriff über offenes Gelände gegen eine solche Waffe war aussichtslos. Wie mächtig diese Waffe gegen einen anstürmenden Feind war hatten viele Kolonialoffiziere bei Einsätzen gegen Einheimische Armeen erlebt, die teilweise noch hauptsächlich auf Nahkampfwaffen setzen. Da die Kolonialtruppen zahlenmäßig bei allen Mächten sehr dünn besetzt waren, griffen Offiziere hier auf das MG zurück, einfach weil sie dazu gezwungen waren. Die Resultate waren verheerend für jeden der eine Maschinengewehrstellung angriff.

Russische Soldaten in der Schlacht von Sandpu 1905. Quelle: Wikipedia.

Diese Erkenntnis wurde in Europa jedoch nicht wahrgenommen, da man Kämpfe in Kolonialreichen und in der weit entfernten Peripherie für nicht vergleichbar mit Schlachten moderner Armeen in Europa hielt. Selbst der Russisch-Japanische-Krieg, ein Krieg zwischen zwei modernen Armeen dessen Schlachtfelder aufgrund des Einsatzes von Maschinengewehren fatal an die des Ersten Weltkriegs erinnerten, führte nicht dazu, dass die Generalstäbe der großen Europäischen Armeen die Wirkung des Maschinengewehr erkannten.

Die Folge davon war, dass im Herbst 1914 Zehntausende Soldaten zu Fuß und zu Pferd feindliche Stellungen angriffen, die mit Maschinengewehren verteidigt wurden. Das Resultat waren nicht gekannte Verluste auf Seiten der Angreifer, ungeachtet welcher Nation. In der Tat waren die Verlustraten im ersten Kriegsmonat die höchsten des gesamten Weltkriegs. Egal mit welcher Macht angegriffen wurde, jeder Sturm über offenes Feld fand sein Ende im Kugelhagel. Eine Taktik, die noch vom Anfang des 19. Jahrhunderts stammte, scheiterte gegen eine Waffe der Jahrhundertwende. Die Infanterie hatte Waffen erhalten, die ihre Feuerkraft vervielfachten und gegen welche jeder Sturmangriff nach dem Muster der Napoleonischen Kriege scheitern musste.

Man konnte nicht mehr auf hundert Meter an den Gegner heranmarschieren, da dieser Schusswaffen hatte mit denen er auf mehrere hundert Meter tödlich treffen konnte. Man versuchte nun diese Entfernung im Sturm zu überwinden. Doch die Feuerraten der neuen Waffen erlaubten es kontinuierlich zu feuern und so viele Schuss abzugeben, dass für jeden Angreifer mehrere Kugeln bestimmt waren. Dadurch war es unmöglich geworden sich offen und ohne Deckung über das Schlachtfeld zu bewegen, wie es 100 Jahre zuvor noch üblich gewesen war.

Wo kein Durchkommen war, gruben sich die Soldaten ein, um nicht von der feindlichen Artillerie zerschossen zu werden und daraus entwickelte sich der Grabenkrieg, welcher die Realität des Ersten Weltkriegs an der Westfront prägte. Der Grund dafür war die rapide Entwicklung der Handfeuerwaffe, deren Auswirkungen von den Generalstäben nicht erkannt wurden. Den Unterschied machte das Maschinengewehr an der Marn, während die Generäle sich noch in einem Kampf gegen Musketen wie bei Waterloo wähnten.

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