Die Téméraire (S617) eines der vier französischen nuklear betriebenen U-Boote mit Atomwaffen an Bord. Bild: Wikipedia

Die Eurobombe

Das nukleare Gleichgewicht im 21. Jahrhundert

Kai Schmidt
Das Sonar
Published in
8 min readApr 6, 2017

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Von KAI SCHMIDT

In fast jeder Hinsicht scheint die Wahl Donald Trumps die bisherige Weltordnung in Frage zu stellen. Für die Sicherheitsarchitektur in Europa ist es nach Russlands aggressiver Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine der zweite große Faktor, der die Struktur, die nach Ende des Kalten Krieges entstand, grundlegend verändert. Amerikas (möglicher) Rückzug und Russlands Aggression, um diese beiden Pole wird sich die sicherheitspolitische Ausrichtung des Kontinents in den nächsten Jahren drehen.

Im konventionellen militärischen Bereich scheinen die Folgen halbwegs überschaubar und politisch ohne allzu große Konflikte behandelbar zu sein. Grundsätzlich erhöhen europäische Staaten ihre Verteidigungsausgaben, setzen auf mehr Zusammenarbeit und auch der amerikanische Rückzug wurde vorerst gebremst.

Konkret sind die Einrichtung eines neuen europäischen Führungskommandos zu nennen und die Erhöhung der US-Truppenpräsenz, vor allem durch Rotationseinheiten (bei diesen werden verschiedene Einheiten für etwa neun Monate entsandt, um die Truppenzahl an bestehenden Stützpunkten zu heben). Trumps Äußerungen nicht mehr für Europas Verteidigung zahlen zu wollen, löst zwar einige Besorgnis aus, doch über Nacht werden die US-Truppen nicht verschwinden und Europa hätte genug Zeit auf einen solchen Schritt zu reagieren.

Übung von US.-Streitkräften in Ungarn 2015. Bild: US-Botschaft Ungarn

Weitaus gravierender sind die Veränderungen jedoch auf dem Gebiet der Atomwaffen. Die aktuelle russische Militärdoktrin sieht den Einsatz von Atomwaffen nicht nur bei einem Angriff auf Russland mit Atomwaffen zur Vergeltung vor, sondern Russland will Nuklearwaffen auch in einem konventionellen Krieg einsetzen, wenn die Existenz des Landes bedroht ist. Die Atomwaffen sind damit ein integraler Bestandteil der russischen Verteidigungsfähigkeiten und nicht nur ein Mittel der Abschreckung gegen feindliche nukleare Angriffe. Russland behält es sich so vor einen konventionellen Krieg nach eigenem Belieben zu einem Atomkrieg zu eskalieren.

Die andere Seite des nuklearen Gleichgewichts in Europa wurde und wird noch weitgehend von den USA bestimmt. Ihr nuklearer Schutzschirm garantiert den NATO-Ländern Europas, die keine eigenen Atomwaffen besitzen, dass die USA jeden Angriff auf diese Länder mit Atomwaffen in gleicher Weise vergelten wird. Andere Länder sollen so von einem nuklearen Angriff auf diese Länder abgehalten werden, ohne dass sich jedes dieser Länder eigene Atomwaffen beschaffen muss.

MGM-31B Pershing II. Diese Rakteten waren Teil der Nachrüstung der NATO. Bild: US-Armee

Wie belastbar dieses Versprechen der USA ist, zeigte der NATO-Doppelbeschluss. Mittelstreckenraketen der Sowjetunion erweckten Ende der 1970er insbesondere bei der Bundesregierung die Sorge, die Sowjetunion könnte damit einen Atomkrieg in Europa führen und die USA dazu bringen nicht in diesem Einzugreifen, um unbeschadet durch eine solche Eskalation zu kommen.

Dieser Sorge wurde entgegengewirkt indem die USA ebenso Mittelstreckenraketen in Europa stationierten, mit welchen ein Angriff der Sowjetunion, der auf Europa begrenzt war, entsprechend beantwortet werden konnte. Damit verbunden war ein Angebot diese Waffen komplett zu beseitigen und nur wenige Jahre später einigte man sich im INF-Vertrag (Intermidiate Range Nuklear Forces) auf ein komplettes Verbot nuklearer Mittelstreckenraketen.

Der US-Nuklearschirm garantierte über Jahrzehnte die Abschreckung für den Großteil Europas und er verhinderte, dass sich in Europa immer mehr Länder mit Atomwaffen ausrüsteten. Nun da Trump die Versprechen der USA gegenüber ihren Verbündeten in Zweifel zieht, stellt sich die Frage, wie viel der US-Nuklearschirm noch wert ist. Seine Abschreckende Wirkung entfaltet dieser nur wenn absolut klar ist, dass die USA gewillt sind ihre Atomwaffen für einen Vergeltungsschlag einzusetzen, wenn ein Land unter ihrem Schutzschirm mit Atomwaffen angegriffen wird. Gibt es an dieser Bereitschaft Zweifel, funktioniert die Abschreckung nicht mehr. Noch ist unklar, wie sich dies Weiterentwickeln wird, jedoch gibt es bereits offene Überlegungen, wie eine eigene europäische Abschreckung funktionieren könnte.

Dabei gibt es einige Fakten, die dafür sprechen, dass ein Land, welches bereits Atomwaffen besitzt, ähnlich wie heute die USA, einen Schutzschirm für die anderen Länder der EU zur Verfügung stellt. Zum eine haben alle Länder Europas den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen unterzeichnet. In diesem ist festgelegt, dass neben den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates keine weiteren Länder Atomwaffen in ihre Arsenale aufnehmen dürfen. In Europa hat dieser Vertrag bis jetzt funktioniert. Würden aber wichtige Länder, wie etwa Deutschland, den Vertrag kündigen, dann würde der Atomwaffensperrvertrag wohl nicht nur in Europa, sondern weltweit zusammenbrechen. Ein Szenario mit beängstigenden Konsequenzen. Um dies zu vermeiden kann nur eine der anerkannten Atommächte den Nuklearschirm stellen.

Friedensdemo im Mai 1982. Bundesarchiv Bild 183–1982–0529–012

Dies ist nicht nur aus juristischer Sicht wichtig. Jede neue Atommacht müsste mit schwerwiegenden Reputationsverlusten rechnen. Gerade Deutschland, welches aufgrund seiner Geschichte und seiner Stärke von seinen Nachbarn immer genau beobachtet wird, kann sich nicht leisten Atomwaffen selbst zu besitzen. Auch der deutschen Bevölkerung, die während des Kalten Krieges ständig unter dem Damoklesschwert totaler nuklearer Vernichtung lebte, sind deutsche Atomwaffen unter keinen Umständen zu vermitteln. Eine der anerkannten Atommächte hätte diese Probleme nicht. Daher kann nur eine solche für eine europäische Abschreckung garantieren.

In Europa gibt es neben Russland zwei weitere Atommächte, Frankreich und das Vereinigte Königreich. Da letzteres mit dem Brexit seine Verbindungen mit dem Kontinent kappen will und die Zukunft der Nuklearwaffen der Briten mit einigen ernsten Problemen behaftet ist, geht der Blick ganz klar nach Frankreich.

Die Mirage 2000 N ist die nuklearfähige Version des französischen Mirage 2000 Kampfjets. Bild: Anthony Noble

Die Force de dissuasion nucléaire de la France verfügt derzeit über etwa 300 Atomsprengköpfe. Die meisten dieser Waffen befinden sich auf den vier atomgetriebenen U-Booten der Triomphant-Klasse. Mehrere Sprengköpfe, wohl mindestens sechs pro Flugkörper, können mit einer Rakete etwa 8.000 Kilometer weit verschossen werden. Zwei dieser U-Boote sind ständig auf See, um zu garantieren, dass Frankreichs Fähigkeit zur Vergeltung nicht durch einen feindlichen Angriff zerstört werden kann. Daneben verfügt Frankreich über Luft-Boden-Lenkwaffen mit etwa 300 Kilometern Reichweite, welche von Frankreichs Kampfflugzeugen ins Einsatzgebiet gebracht werden können.

Frankreich verfügt also über eine robuste nukleare Abschreckung, die, obwohl im Vergleich zu Russland und den USA klein ist, wirksam jeden Atomwaffeneinsatz gegen Frankreich vergelten kann. Etwa drei Milliarden Euro kostet Frankreich die umgangssprachlich als force de frappe bekannte Atomstreitmacht. Dies sind ungefähr 10% des gesamten Verteidigungsbudgets und damit eine erhebliche Belastung. Hinzu kommt, dass in nächster Zeit umfassende Modernisierungen anstehen, welche sehr kostspielig werden.

Die Frage ob Frankreich seine Atomwaffen, gegen eine entsprechende finanzielle Beteiligung, Europa als Schutzschirm zur Verfügung stellen würde, hat Frankreich bereits zweimal selbst beantwortet. De Gaulle soll Bundeskanzler Erhard schon in den 60er Jahren eine deutsche Beteiligung an den französischen Waffen angeboten haben und Nikolas Sarkozy tat dies erst im Jahr 2007 gegenüber Bundeskanzlerin Merkel.

In beiden Fällen lehnte Deutschland ab, da dies zum einen innenpolitisch und außenpolitisch nicht vermittelbar und zum anderen durch den US-Atomschirm auch nicht notwendig war. So stehen weiterhin etwa 20 US-Atombomben vom Typ B61 bereit, um mit deutschen Tornado Jagdbombern eingesetzt zu werden. Die sogenannte nukleare Teilhabe der NATO reichte Deutschland bisher völlig aus.

B61 Atombomben. Bild: US-Verteidigungsministerium.

Ob es nun wirklich notwendig ist eine eigene europäische Abschreckung zu haben, oder ob nicht der US-Atomschirm weiterhin völlig ausreichend als Schutz für Europa ist, darüber muss man debattieren. Aber dies ist schon eine zentrale Änderung, denn bisher war völlig klar, dass der US-Schirm ausreicht. Um debattieren zu können braucht man eine klare Vorstellung wie ein nukleares Europa aussieht. Die zentrale Rolle Frankreichs wurde geklärt, zudem muss sich Europa eine eigene Nukleardoktrin geben und hier könnte Europa gegen Russland und die USA vernünftige Akzente setzen.

Ein Vorbild für eine überlegte europäische Nukleardoktrin kommt von recht unerwarteter Seite: China. Während das Land in seiner Außenpolitik nur wenig zurückhaltender bei der Durchsetzung seiner Interessen auftritt als die USA und Russland, geht es bei seinen Atomwaffen einen völlig anderen Weg. Die beiden größten Atommächte USA und Russland besitzen immer noch riesige Arsenale mit aktuelle je etwa 7.000 Sprengköpfen und sowohl Putin als auch Trump haben öffentlich darüber nachgedacht diese Zahl zu erhöhen.

Chinesische Interkontinentalrakete Dongfeng 31. Bild: Wikipedia.

Aus China hört man davon nichts. Das Land besitzt seit jeher nur ein relativ kleines Atomwaffenarsenal. Experten gehen von nicht mehr als 200 Sprengköpfen aus, andere Schätzungen sprechen von nur 80. Bereits seit Chinas erstem erfolgreichem Atomtest setzt sich das Land für die komplette Abschaffung dieser Waffen ein. Zudem hat China ausgeschlossen Atomwaffen in einem Konflikt als erster einzusetzen, egal unter welchen Umständen. Chinas Einstellung zu Atomwaffen ist also sehr defensiv. Mit dem Verzicht auf einen Ersteinsatz distanziert sich China explizit auch vom diplomatischen Drohpotential dieser Waffen, sie dienen alleine der Abschreckung feindlicher atomarer Angriffe.

Modell der ersten Atombombe Chinas. Bild: Max Smith.

Hinzu kommt, dass China schon immer der Meinung war, dass eine kleine Zahl von Kernwaffen völlig zur Abschreckung ausreicht und man keine gigantischen Arsenale benötigt. In der Tat haben US-Atomwaffenexperten argumentiert, dass nur 311 Sprengköpfe ausgereicht hätten, um 9 ½-mal mehr Zerstörungskraft zu liefern als benötigt worden wäre, um die Sowjetunion in einem Krieg kampfunfähig zu machen.

Wenn man, wie China, nur den Einsatz von Atomwaffen gegen das eigene Land verhindern will, dann benötigt man keine tausende Sprengköpfe, um den Gegner glaubhaft zu machen, dass er im Falle eines Angriffs zumindest eine seiner größten Städte komplett verlieren würde. Dieser Preis ist im Denken Chinas so hoch, dass kein Gegner bereit ist ihn zu zahlen. Eine kleine Atommacht reicht also aus. Damit spart man auch gewaltige Summen Geld, die man in weitaus wichtigere Projekte stecken kann.

Zudem erlaubt dies China seine Atomwaffen nicht andauernd in höchster Alarmbereitschaft zu haben. Erst auf Anweisung werden Sprengköpfe und Trägersysteme zusammengebaut und Abschussbereit gemacht. Dies spart nicht nur erheblich kosten, es senkt auch erheblich das Risiko eines Unfalls oder eines Angriffs aufgrund Fehlerhafter Frühwarndaten.

Eine kleine, moderne und flexible Atomstreitmacht genügt völlig, um eine glaubhafte Abschreckung zu stellen. Und all dies ohne durch aggressives Drohen mit der totalen Vernichtung die Welt zu destabilisieren und das Risiko eines Atomkriegs aus Versehen zu erhöhen.

Sollte, und dies ist ein großes sollte, Europa entscheiden, dass es eine eigene nukleare Abschreckung benötigt, dann mit dem Vorbild Chinas. Alles andere wäre zumindest teuer und zudem wohl sehr gefährlich. Ob Europa nun überhaupt eine eigene Abschreckung benötigt ist fraglich. Aber einen Plan-B in der Schublade zu haben kann nicht schaden. Europa hat sich in den letzten Jahren Feinde gemacht, diesen sollte man im Notfall entschlossen entgegentreten.

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