Jaume Plensa — Body of Knowledge

Jeder Wille möchte gehört werden

Wie entstehen gerechte Gesellschaften?

Erik Jäger
Published in
7 min readNov 10, 2017

--

Also available in English.

Intelligenz und Bewusstsein entstehen durch Selbstreferenz. Wie zuerst Descartes niederschrieb, wird die Existenz eines Bewusstseins dadurch bewiesen, dass eben jenes Bewusstsein seine Existenz wahrnimmt — Ich denke, also bin ich. Und da das Bewusstsein die Welt in der es lebt lediglich aus den Daten modelliert, die ihm die Sinneseindrücke mindestens anscheinend zur Verfügung stellen, ist es unmöglich die Existenz von Dingen außerhalb dieses Systems letztgültig zu beweisen — näheres dazu findet sich in Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz, wenn man da tiefer eintauchen möchte.So wie die innere Konsistenz der Mathematik nicht letztgültig bestätigt werden kann, sehen wir doch, wie perfekt sie dazu geeignet ist die physische Welt um uns herum logisch konsistent zu beschreiben und nehmen ihre Richtigkeit daher an, bis begründete Zweifel daran auftauchen. Genauso sollten wir mit der Annahme verfahren, dass andere Bewusstsein existieren. Vielleicht bin ich nur ein einzelnes Gehirn im Labor eines verrückten Wissenschaftlers, aber das ist nicht sehr wahrscheinlich.

All unsere nun angenommen Persönlichkeiten teilen, dass sie verschiedene Interessen haben, die sie erfüllt sehen wollen. Allgemein lässt sich also sagen: Jeder will, dass entsprechend seines Willen gehandelt wird. Und für diesen Willen gibt es drei mögliche Motivationen:

Die erste und am weitesten verbreitete Motivation ist Lust. Wir haben Bedürfnisse (z.B. Durst) und anschließend nutzen wir unsere Intelligenz um Mittel zur Befriedigung dieses Bedürfnisses zu finden — ein Getränk kaufen, es stehlen, Leitungswasser oder Bier, je nachdem welche Optionen wir in der jeweiligen Situation wahrnehmen. Anschließend werden diese Optionen abgewogen und man entscheidet sich — für gewöhnlich unterbewusst — für die subjektiv Effizienteste (niedrige Kosten, hoher Erfüllungsgrad des Bedürfnisses). Dieser Mechanismus liegt auch dem Strafrecht zugrunde: Die zu erwartende Strafe und die Wahrscheinlichkeit erwischt zu werden sind Teil der “Kosten” in dieser Berechnung.

Es ist unmöglich sich für die zweitbeste Option zu entscheiden, denn eine bewusste Entscheidung für ein subjektiv nicht maximal effizientes Mittel wäre dann nicht mehr dem Zweck der unmittelbaren Bedürfnisbefriedung angetragen, sondern erfüllte den Zweck das zweiteffizienteste Mittel zu finden. Und ist dafür die effizienteste Lösung. Doch in keinem dieser Schritte ist Freiheit im Spiel. Es handelt sich in diesem Zusammenhang nicht um politische Freiheiten. Diese wären entweder die Abwesenheit externer Restriktionen, die den gerade beschriebenen Prozess beeinflussen würden(“positive Freiheit”) oder der Schutz vor der Einmischung anderer Menschen (oder Institutionen) in den eigenen Handlungsprozess (“negative Freiheit”). An dieser Stelle bedeutet Freiheit, dass man zwischen verschiedenen gleichwertigen Varianten wählen könne. Diese herrscht aber nicht, da man unter Kenntnis aller relevanten Faktoren die Entscheidung deterministisch vorhersagen könnte.

Die Bedürfnisse treffen uns, von äußeren Umständen beeinflußt, doch letztendlich zufällig. Diese äußeren Umstände können wir beeinflussen, z.B. indem wir ein gefälliges Lied als Wecker wählen oder ähnliches. Dabei erfüllen wir übrigens dann das Bedürfnis, ein bestimmtes Bedürfnis zu haben.

Die zweite mögliche Quelle der Motivation ist die Moralität. Und hier kommt jetzt auch die Handlungsfreiheit ins Spiel. Ist eine Handlung moralisch motiviert, so entscheidet man sich frei einem moralischen Prinzip zu folgen, welches man sich vernünftig gibt. Kant empfahl hierzu den kategorischen Imperativ. In der bekanntesten Formulierung lautet er „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“, sie umschließt auch in ihrer zweiten Formulierung, dass die Menschheit, man selbst und jedes vernunftbegabte Wesen Zweck und nie bloßes Mittel einer Handlung sein dürfen. Dieses Moralgesetz ist aus sich selbst heraus gültig, benötigt keine äußeren Zusatzannahmen und verlangt von jedem vernunftbegabten Wesen, dass es danach handle.

Da das Gesetz lediglich verlangt, kann man sich jederzeit frei entscheiden es nicht zu befolgen. Die Möglichkeit diese Entscheidungen zu fällen ist der Kern der Menschenwürde. Tiere und Menschen, die beispielsweise in Folge schwerer geistiger Behinderung dazu nicht in der Lage sind, erhalten ihre Würde aus der Fähigkeit Leid zu empfinden und ihrer Bedeutung für andere Personen.

Die letzte Quelle der Motivation ist die Supererogation. Das bedeutet, dass eine Handlung über das von der Pflicht geforderte hinaus geht, wie Liebe oder sich selbst im Tausch für eine Geisel anzubieten. Dies kann nicht als allgemeines Gesetz gedacht werden. In der Folge kann ein als stringent moralisch definiertes Wesen nicht lieben. Viele religiöse Lieder müssten, streng genommen, umgeschrieben werden. Da sich Glaube jedoch in den allermeisten Fällen auf emotional-spiritueller Ebene abspielt, kann dieser Widerspruch problemlos ausgeklammert werden.

Da wir nun erarbeitet haben, wie Individuen ihren Willen formen ist es nun an der Reihe, dies auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu betrachten. Das Kernproblem hierbei ist, dass sich die freien Interessen verschiedener Personen häufig überschneiden und widersprechen. Ein einfaches Beispiel: ein Verbraucher will möglichst wenig für ein Produkt bezahlen, der Händler hingegen will möglichst viel Geld im Austausch. Die meisten dieser wirtschaftlichen Dillemata haben keine direkten ethischen Implikationen, und wenn man sie (hypothetisch) viele Male wiederholt, so stellt sich ein Gleichgewicht ein, welches den Marktpreis der Sache darstellt.

Politische Entscheidungen hingegen haben häufig moralische Aspekte und betreffen auch für gewöhnlich mehr als nur zwei Personen. In der Folge bedarf es Methoden um einen gemeinsamen Willen einer Gesellschaft in Recht zu transformieren.

Während des überwältigenden Großteils der Menscheitsgeschichte gab es entweder einen überlegenen Führer oder eine kleine Junta, deren Wille Allen in ihrem Machtbereich auferlegt wurde. Auch die hellenistische Tradition der Demokratie taugt nicht als Beispiel in diesem Kontext, denn die Poleis waren in der Regel so klein, dass die wohlhabenden männlichen Entscheidungsträger die gesamte relevante Population — Sklaven ausgenommen - überblicken konnten. Wenn über Menschen im eigenen persönlichen Umfeld bestimmt werden soll, so neigen wir dazu gütiger und unkomplizierter zu entscheiden.

In der modernen Philosophie war Rousseau einer der ersten, die dieses Problem mit dem “volontée generale” zu lösen suchte. Die Gesetze des Staates sollten von der Mehrheit der — männlichen — Bevölkerung geschaffen werden. Die Strahlkraft der Aufklärung ließ dunkle Hinterhöfe unberührt, in denen sich unter Anderem Frauen,Sklaven, Juden und Tiere aufhalten. Bis heute leiden Milliarden Unterdrückte unter diesem schändlichen Mangel an Universalität, über den viel zu oft hinweggesehen wird.

Doch, zurück zu Rousseau. Die Mehrheit in diesen Entscheidungen würde die Minderheit überstimmen und die Minderheit müsste hinterher widerspruchslos gehorchen. Verfassungen nach diesem Vorbild sind schwach und leicht zu ändern, da stets der neueste volontée generale Gesetz wäre. Die gewählte Regierung hat kein eigenes politisches Programm, sie führen lediglich den Willen einer Mehrheit von mindestens einer Stimme aus. Und wenn ebenjene Mehrheit zutiefst unmoralisch entscheidet, wie in Deutschland 1933, so mag das schade sein, aber so funktioniert es nunmal. Demokratie ist hier lediglich Methode und nicht wie heutzutage auch ein Prinzip.

Dieser Tradition, in der ein Teil der Gesellschaft den Staat für sich und die eigenen Partikularinteressen erbeutet — sei es die Mehrheit der einen Stimme oder eine bestimmte Klasse, wie in marxistischen Theorien, stehen liberale Prinzipien entgegen. Der Volkswille ist hier weniger spezifiziert, aber in einer starken und nur unter hohen Hürden zu verändernden Verfassung manifestiert, in der sowohl persönliche Rechte und Freiheiten festgesetzt sind, als auch komplex austarierte Institutionen unter gegenseitiger Kontrolle. Zweck ist es jedem seine Freiräume zu schaffen in denen der eigene Wille sich frei ausleben kann, solang er dabei nicht die Freiheit eines Anderen unzulässig beschneidet. Zusätzlich zu diesen Freiheiten garantiert der Staat auch Rechte, die zur freien Entfaltung der Persönlichkeit unerlässlich sind.

Einbegriffen sind hierbei soziale Absicherung, ein angemessener Verdienst, persönliche Sicherheit und allgemeine Gesundheitsversorgung. Es ist dabei nicht möglich individuell auszubrechen, obwohl durch Steuern, Abgaben und Zwangsversicherung die individuelle Souveränität und damit auch die Freiheit beschnitten werden. Wenn ein Einzelner sich denkt “ich brauche keine Krankenversicherung, ich kann privat für mich sorgen und setze das Geld lieber anders ein”, anschließend krank wird, so ist es aber moralisch undenkbar ihn einfach sterben zu lassen, wenn es nur aus Mangel an Geld oder Zugriff auf verfügbare medizinische Ressourcen wäre.

Letztlich wäre die Gesellschaft verpflichtet dieser Person die Versicherung zu gewähren, die zuvor willentlich abgelehnt wurde. Wenn das als allgemeines Gesetz gölte, so würden immer weniger Beitragszahler das System für Alle bezahlen. Für dieses Dilemma gibt es zwei mögliche Lösungen: eine Zwangsversicherung oder Steuerfinanzierung. Dies lässt sich auch analog mit Mindestlohn oder Arbeitslosenversicherung denken.

Ein weiteres universelles Ziel ist der Schutz vor Kriminalität. Aus diesem Schutzversprechen ist es ebenfalls nicht möglich einseitig auszubrechen, da Täter und Opfer sich für gewöhnlich nicht über das Verbrechen einig sind. Sind sie es doch, so ist die Handlung entweder nicht kriminell, oder alle Beteiligten machen sich strafbar. Und da der Staat aus seiner Wesensnatur heraus das Gewaltmonopol innehat, ist es nicht möglich als Teil eines Gemeinwesens die eigene Sicherheit dauerhaft gewaltsam zu sichern.

Jeder, der eines Verbrechens verdächtigt wird hat ein Recht auf einen ordentlichen Prozess unter den Regeln der Gesellschaft, die er implizit akzeptiert, indem er die von ihr zur Verfügung gestellte Infrastruktur nutzt. Die einzige Möglichkeit aus all diesen sozialen Leistungen, Interaktionen und Einschränkungen absoluter persönlicher Freiheit auszubrechen ist, dass jeder das Recht hat die Gesellschaft voll und ganz zu verlassen, wie der Protagonist “Walden” in Henry David Thoreaus gleichnamigen Werk. Doch dies hat niemals Anklang bei einem bedeutsamen Teil der Gesellschaft gefunden. Die meisten Einsiedler oder Refugien nehmen wenigstens Sach und Geldspenden aus der “Zivilisation” an.

Wenn jemand in einem politischen System lebt, das diesen Standards (mehr als nur geringfügig!) nicht gerecht wird, so hat er das Recht auf Asyl in einem Land, dass seine Rechte entsprechend achtet. Dies geht, so wie die anderen Grundrechte, direkt auf die Menschenwürde zurück.

Innerhalb eines liberalen politischen Systems wird die politische Macht zum allergrößten Teil durch Wahlen an Abgeordnete weitergegeben. Diese verfolgen dann eigene Ziele relativ frei innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens. Die derzeit vorherrschende Kultur von Lobbying, hohem Einfluss der Parteien und Fraktionsdisziplin stellt eine gefährliche Einschränkung der Freiheit des Mandates dar. Die wichtigsten Anliegen eines Abgeordneten sollten seine eigenen politischen und rechtlichen Standpunkte, die Interessen seines Wahlkreises und der Gesellschaft, Vernunft und der Wille wiedergewählt zu werden sein.

Es ist wichtig zu verstehen, dass das Recht lediglich die Handlungen selbst, nicht aber die Motivation betreffen darf. Wenn moralische Beurteilung der Motivation oder der Ästhetik — in anderen Worten: Geschmack — zum Gesetz wird, wie man es in Diktaturen und Theokratien häufig sieht, so sind diese Gesetze unmoralisch. Das liegt daran, dass lediglich unser Handeln von außen beeinflusst werden kann. Man könnte beispielsweise einen Kuss erzwingen, Liebe jedoch nicht. Da der Staat das Gewalt-,aber nicht das Gedankenmonopol hat, kann er lediglich Handlungen sanktionieren.

Der beschriebene sozial-liberale kapitalistische Wohlfahrtsstaat ist ein Ideal — etwas nach dem man Streben, es aber nie vollkommen verwirklicht sehen wird. Doch das sollte uns umso mehr motivieren sich dafür einzusetzen. Sapere aude! Erkühne dich, weise zu sein!

--

--

Erik Jäger

Politik und Philosophie für Das Sonar und manchmal allein/ politics and philosophy/ 50:50 English/German articles/ @EarlHuntington