Brand des Luftschiffs Hindenburg 1937. Bild: Sam Shere.

Risiko

Ein soziales Konstrukt

Kai Schmidt
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6 min readOct 3, 2018

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Von KAI SCHMIDT

Deutschland ist Land der Ingenieure und so verwundert es wenig, dass in einem Staat in dem der Titel des Dipl.-Ing. fast so stolz vor sich her getragen wird wie ein Doktor, beim Thema Risiko immer zuerst, und in 99% aller Fälle ausschließlich, die Definition der Ingenieurswissenschaft genannt und genutzt wird. Es handelt sich dabei um eine relativ einfache Formel:

Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadenshöhe

Klingt einleuchtend, präzise und eindeutig, aber wie so oft ist unsere Welt nicht so einfach, wie es Modelle es gerne hätten. Denn die Schadenshöhe und die Eintrittswahrscheinlichkeit sind keine manifesten Größen, die man einfach messen könnte. Ein Schaden der noch nicht eingetreten ist, lässt sich nicht messen, weil er schlicht und ergreifend nicht existiert. Man kann ihn zwar abschätzen, aber das bleibt mit großen Unsicherheiten behaftet. Ein Blitzeinschlag etwa kann geringen Sachschaden, aber auch Tote nach sich ziehen. Nur lässt sich dies im Vorhinein eben nicht feststellen.

Weiter geht es damit, dass man Schäden nicht einfach gleich setzen kann. Sachschäden kann man noch recht einfach als einen monetären Wert einheitlich darstellen. Aber wie gibt man Verletzungen von Menschen in dieser Gleichung an? Und wie kann man das mit dem Sachschaden zusammenbringen und zu diesem einen Wert der Schadenshöhe kombinieren? Rechnet man Menschenleben auch einfach in Geld um? Und macht man mit immateriellen Werten, wie etwa der Bedeutung wichtiger Kulturgüter? Kann man ein nicht zu ersetzendes Artefakt, wie der Teppich von Bayeux, in so einer Gleichung dennoch mit einem monetären Wert darstellen? Ethisch hoch komplizierte Fragen, die nicht zu einer solch einfachen Formel passen.

Ausschnitt des Teppichs von Bayeux. Bild: Wikipedia

Die Eintrittswahrscheinlichkeit ist ebenso wenig konkret messbar wie die Schadenshöhe. Wahrscheinlichkeit bedeutet nämlich, dass bei einer unendlichen Anzahl von Fällen in x Prozent aller Fälle ein Ereignis stattfindet. Wirft man eine Münze unendlich mal oft hoch, so wird in 50% aller Fälle Kopf dabei herauskommen. In der Realität hat man aber fast nie die nötigen Daten, um die Wahrscheinlichkeit zuverlässig zu ermitteln. Nehmen wir Großveranstaltungen.

Davon gibt es zwar recht viele auf der Welt, aber kaum eine lässt sich mit der anderen Vergleichen. Ein Kirchentag in Dortmund ist nicht vergleichbar mit einem in Berlin zwei Jahre vorher und nicht mit einem Katholikentag in Münster ein Jahr zuvor und nicht mit einem Wacken Open Air im selben Jahr oder einem Bardentreffen in Nürnberg im nächsten. Es ist in der Regel daher meist unmöglich die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses zu ermitteln. Und das bedeutet man muss unter der Bedingung der Unsicherheit planen.

Wacken Open Air 2005. Bild: Anton Perc

Die gängige Antwort in Planungsprozessen auf all diese komplexen Fragen und Probleme ist auf den ersten Blick eine radikale Vereinfachung. Sowohl für die Eintrittswahrscheinlichkeit als auch für das Schadensausmaß wird eine Zahl eingesetzt. Gebräuchlich sind Werte zwischen 1 und 3, 1 und 5 oder 1 und 7. Diese werden Multipliziert und das Ergebnis in eine sogenannte Risikomatrix eingetragen, ein wichtig klingendes Wort für ein einfaches Diagramm mit zwei Achsen und oftmals bunten Farben.

Die hohe Komplexität wird maximal reduziert bis zu einem Punkt bei dem man ernsthaft fragen muss was das Ganze überhaupt soll. Als mathematische Formel, die messbare manifeste Größen zu einem belastbaren Ergebnis formt, ist die oben beschriebene Definition von Risiko offensichtlich wertlos.

Beispiel einer Risikomatrix. Quelle: Wikipedia

Warum wird sie in der Praxis aber genutzt und dies immerhin so erfolgreich, dass man sie nicht mit einer besseren Methode ersetzt? Um dies zu beantworten muss man verstehen, dass Risiko in diesem Fall keine empirische Größe ist, sondern ein soziales Konstrukt. Da man, wie beschrieben, Wahrscheinlichkeit, Schadenshöhe und mithin Risiko nicht messen kann, entscheiden Menschen aufgrund verschiedenster Heuristiken darüber, wie sie diese Größen bewerten. Risiko ist also nicht einfach in der Welt vorhanden, sondern es wird erst in den Köpfen der Menschen konstruiert.

Einfach gesprochen: Für wie riskant wir etwas halten entscheiden wir nach unserem Bauchgefühl. Der eine fährt ohne Bedenken Motorrad, der andere denkt schon beim Anblick eines Zweirads über eine mögliche Organspende nach. Der Motorradfahrer kann aufgrund seiner subjektiven Risikoeinschätzung entscheiden ob er Motorrad fahren will oder nicht. Nur er ist von dem Risiko betroffen mit seinem Motorrad zu verunfallen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er andere in Mitleidenschaft zieht, ist vernachlässigbar.

In anderen Situationen ist dies nicht der Fall, oder zumindest ist unsere Gesellschaft der Meinung, dass es nicht so ist. Denn Menschen kommunizieren über Risiken und dabei wird ein gesellschaftlicher Konsens darüber ausgehandelt, welche Risiken im Entscheidungsbereich des Individuums liegen und über welche gemeinschaftlich entschieden werden muss. In einem Linienflugzeug sitzt nicht nur der Pilot, sondern auch Passagiere, die davon wie man ein Flugzeug sicher von A nach B bringt wenig verstehen. Daher haben der Pilot und der Besitzer des Flugzeugs eine Verantwortung für die Passagiere und es ist nicht mehr alleine ihrer alleinigen Einschätzung überlassen, welchem Risiko sie die Fluggäste aussetzen.

Die 2000 verunfallte Concorde F-BTSC im Jahr 1985. Bild: airliners.net

Es bedarf eines gesellschaftlichen Konsenses darüber welches Risiko für eine Flugreise akzeptabel ist. Dies bedeutet nicht, dass alle Bewohner eines Landes mitreden müssen. Diese Aufgabe wird in den meisten Fällen delegiert. So gibt es Experten und Behörden, die stellvertretend für die Bevölkerung das akzeptable Risiko verhandeln.

Verhandeln ist hier das wichtige Stichwort. Die Individuen, die daran beteiligt sind das akzeptable Risiko festzulegen — im Flugverkehr beispielsweise Fluggesellschaften, Piloten, Flugsicherheitsbehörden, Vertreter von Passagieren — treten über ihre subjektiven durch Heuristiken festgelegte Risikoeinschätzungen in einen Dialog, um zu einem für alle akzeptablen Kompromiss darüber zu kommen, welches Risiko akzeptabel ist, wie hoch das Risiko gegenwärtig ist und welche Maßnahmen notwendig sind, um das Risiko akzeptabel zu machen.

Das Risiko ein soziales Konstrukt ist, macht es weder weniger real noch weniger relevant als eine manifeste empirische Größe. Wird der Konsens über das akzeptable Risiko gebrochen, so hat dies meist handfeste Folgen. Man betrachte etwa die Gerichtsprozesse nach der Love-Parade-Katastrophe und auch die gesellschaftliche Sanktionierung des damaligen Oberbürgermeisters.

Immer wenn ein schwerwiegender Ereignis geschehen ist, wird das akzeptable Risiko hinterfragt. Und es kann sich dadurch auch verändern. Hinterher ist man immer schlauer, wie man so schön sagt. Dies führt dazu, dass die Akteure, welche das Risiko ausgehandelt haben nachvollziehbar machen müssen, wie sie zu ihrer Einschätzung gekommen sind. Warum haben sie das Risiko zu dem Zeitpunkt ihrer Einschätzung so bewertet? Warum haben sie bestimmte Maßnahmen zur Beeinflussung des Risikos getroffen und andere nicht? Und warum haben sich die Akteure letztlich darauf geeinigt, dass das Risiko akzeptabel war?

Mahnmal der Loveparadekatastrophe. Bild: Wikipedia

Diese Fragen müssen im Dialog geklärt werden und die Antworten auf diese Fragen und deren Begründung müssen im Nachhinein von am Aushandlungsprozess unbeteiligten Dritten nachvollzogen werden können. Und hier kommen die oben erwähnte Formel und Zahlen wieder ins Spiel. Denn diese machen den Dialog über die individuellen Risikoeinschätzungen der Akteure wesentlich einfacher, indem es eine geordnete Skala bereitstellt, die zu einem gewissen Grad intuitiv verstanden werden kann.

5 ist mehr als 4 und deutlich mehr als 2. Einigen sich die Akteure noch darauf, wie sie diese Zahlen verstehen (2 kann etwa ein akzeptables Risiko sein, 5 ein absolut inakzeptables) werden die Zahlen zu feststehenden Begriffen oder Codes, welche dabei helfen den Dialog effizienter zu führen, da sie für Klarheit und Kürze sorgen.

Letztlich geht dies so weit, dass Akteure, welche die Formel „Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadenshöhe“ verwenden, durch eben diese Formel beginnen sich Gedanken über das Thema Risiko zu machen, für sich das Risiko konstruieren. Sie treten dann in den Dialog mit anderen Akteuren über dieses Risiko ein und einigen sich am Ende auf eine gemeinsame Einschätzung.

Dies geschieht selbst dann, wenn alle Akteure im festen Glauben sind hier eine exakte Rechnung mit manifesten Größen durchzuführen, welche zu einem empirisch eindeutig belastbaren Ergebnis führt. „Right for the wrong reasons“, wie der Engländer sagen würde. Man könnte auch sagen, diese Formel ist eine Krücke, die den Dialog zum Laufen bringt, auch wenn es sich um eine sehr krumme Krügge handelt. Am Ende hat man zwar keine naturwissenschaftliche Größe, aber ein soziales Konstrukt, das uns hilft mit unserer komplexen Welt zurecht zu kommen.

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