Ungleichheit
Thomas Piketty und die Schere zwischen Arm und Reich
Von KAI SCHMIDT
Ein wahres Stiefkind der Ökonomie und der politischen Debatte war bis vor kurzem die immer größer werdende ökonomische Ungleichheit. Dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, scheint jedoch seit kurzem, befeuert durch die Erfolge der populistischen Parteien, zumindest in einem gewissen Umfang die Politik erreicht zu haben. Ob die Politik jedoch daran etwas ändert und die Schere zwischen den Reichsten und den Ärmsten der Gesellschaft zumindest etwas geschlossen wird, bleibt unklar. Dass die Politik etwas tun kann, das hat Thomas Piketty überzeugend nachgewiesen.
Tatsächlich ist Piketty dafür verantwortlich, dass in der Ökonomie wieder über Ungleichheit debattiert wird. Erstmals seit Simon Kuznets, der in den 50ern und 60ern dieses Thema erforschte, ist Ungleichheit wieder ein relevantes Thema. Pikettys Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, das 2014 veröffentlicht wurde, spielte dabei in zweierlei Hinsicht eine Rolle. Zum einen bettete Piketty seine bisherigen Erkenntnisse, und die seiner Kollegen, in einen theoretischen Rahmen ein, der einfach wie überzeugend ist, und zum anderen ist es gerade dadurch ein auch für den Laien interessantes und überaus spannendes Buch, was durch die breite Leserschaft nicht nur wissenschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Resonanz erfuhr.
Pikettys erster großer Verdienst besteht darin zu zeigen, dass die ökonomische Ungleichheit in allen industrialisierten Ländern stark zugenommen hat. Es handelt sich also nicht um einen gefühlten Trend, sondern um eine reale Entwicklung, die sich über Jahrzehnte nachweisen lässt. Pikettys zentrale Quellen sind Steuerdaten. In diesen müssen Einkommen genau angegeben werden und so erlauben sie einen Überblick über die Einkommensverteilung. Beispielhaft tut Piketty dies für die USA und kann zeigen, dass die Ungleichheit in der Einkommensverteilung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hin abnahm, dann wieder anstieg und heute ein Ausmaß wie vor dem Ersten Weltkrieg erreicht hat. Die 10% der Bevölkerung mit den Höchsten Einkommen vereinten in der Zeit zwischen den Krieg 40–45% des Gesamteinkommens der Volkswirtschaft auf sich.
Während des zweiten Weltkriegs viel deren Anteil rapide auf nur noch 30%. Dieser Wert blieb bis in die 70er Jahre relativ stabil, stieg von da an aber wieder an und erreichte in den 1990er Jahren wieder die 40% Marke. Interessant ist, dass der Anteil des obersten Prozents der Einkommen am Gesamteinkommen wesentlich stärker schwankte, als der Anteil der restlichen 9%. Dies führt Piketty darauf zurück, dass das oberste Prozent ihre Einkommen vor allem aus Kapitalerträgen erwirtschafteten, während die anderen vor allem Löhne erhielten.
Auch für andere Länder lässt sich diese U-Kurve der Ungleichheit nachweisen. Interessant dabei ist, dass die Ungleichheit in jenen Ländern stärker abnahm, die stärker von den Zerstörungen und Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betroffen waren. Somit ist neben einem Zeitlichen auch ein räumlicher Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Ungleichheit und den Weltkriegen und der Wirtschaftskrise gegeben.
Piketty nutzt als weitere Quellen auch Erbschaftssteuererklärungen, da durch diese nicht nur Einkommen, sondern direkt Vermögen erfasst werden und eine Aussage über deren Verteilung und Entwicklung möglich ist. Besonders wichtig ist Piketty dabei das Verhältnis von Kapital und Einkommen. Multipliziert man nämlich das Verhältnis von Kapital und Einkommen mit der durchschnittlichen Kapitalrendite, so erhält man den Anteil der Kapitaleinkommen am gesamten Nationaleinkommen. Wo dieser Anteil hoch ist, ist es auch die Ungleichheit. Piketty kann zeigen, dass auch die Ungleichheit an Kapitalbesitz im 20. Jahrhundert, analog zur Kurve der Einkommensungleichheit, in einer U-Kurve verläuft. Dieser Befund ist die erste große Leistung Pikettys.
Wodurch lässt sich jedoch dieses Abfallen und Ansteigen der Ungleichheit erklären?
Pikettys zentrale Hypothese dazu ist, dass ökonomische Ungleichheit ansteigt, wenn die Kapitalrendite dauerhaft deutlich über der Wachstumsrate liegt.
Wachstum ist also ein egalisierender Faktor, der Ungleichheit entgegenwirkt. Dabei spielt das Wachstum der Produktivität, also der Wert der pro Kopf erwirtschaftet wird, und insbesondere das Wachstum der Bevölkerung eine zentrale Rolle. Bevölkerungswachstum senkt die Bedeutung von Vermögen, die in der Vergangenheit erwirtschaftet wurden. Einfach gesagt: Je mehr Erben sich eine Erbschaft teilen müssen, desto kleiner fällt der Anteil eines jeden Einzelnen aus. Vermögen muss man sich daher erarbeiten und kann sich nicht mit dem geerbten Vermögen zufrieden geben.
Rasches Wachstum der Produktivität hat einen ähnlichen egalisierenden Effekt. Vervielfacht sich das Einkommen gegenüber der vorherigen Generation, fällt das Vermögen, welches diese angehäuft hat, sehr viel weniger ins Gewicht und es ist für die neue Generation besser auf eigene Einkommen und Ersparnisse zu setzen. Ein anderer Effekt des Wirtschaftswachstums ist es, dass es zu einer schnelleren Erneuerung der Eliten führen kann und dadurch verhindert, dass Ungleichheit von einer Generation zur nächsten unverändert weitergegeben wird. Diese erhöhte soziale Mobilität verringert nicht automatisch die Einkommensungleichheit, begrenzt aber die Ungleichheit der Vermögen und damit auf lange Sich die der Kapitaleinkommen.
Ermöglicht wird steigende Produktivität durch die Ausbreitung von Wissen, sowie durch die Qualifikation und Ausbildung der Arbeitskräfte. Dadurch können gerade Länder, welche einen Entwicklungstechnischen Rückstand aufholen außergewöhnlich hohe Wachstumsraten erreichen.
Kommen wir zu der Divergenzkraft zurück, die Piketty als den wichtigsten Faktor steigender Ungleichheit ansieht. Liegt die Kapitalrendite deutlich über der Wachstumsrate, bedeutet dies, dass sich Vermögen auch dann sehr viel schneller rekapitalisieren als die Wirtschaft wächst, wenn keinerlei Arbeitseinkommen vorhanden ist. Vermögen können nicht nur problemlos langfristig erhalten werden, sondern sie können auch problemlos vergrößert werden, wenn man nur einen Teil der Rendite konsumiert. Die Konzentration von Vermögen und Kapitaleinkommen nimmt somit zu und die Ungleichheit wächst.
Bemerkenswert ist dabei, dass Piketty es für einen historischen Fakt und keine logische Notwendigkeit hält, dass die Ungleichheit ansteigt, wenn die Kapitalrendite über der Wachstumsrate liegt. Dass die Kapitalrendite vor Steuern stets höher war als das Wirtschaftswachstum, hält Piketty bei allen Problemen der Quellenlage für gesichert. Und dies zurück bis in die Antike hinein.
Um zu erklären, dass die Kapitalrendite relativ stabil bei 4 bis 5% liegt und nicht unter 2 bis 3% fällt, verweist Piketty auf das Modell der Gegenwartspräferenz. Akteure haben eine Gegenwartspräferenzrate, die angibt, wie ungeduldig ein Akteur ist und wie er sich zukünftig verhalten wird.
Konkret gibt sie an, wie viel zukünftigen Nutzen ein Akteur opfern würde, um einen sofortigen Nutzen zu haben. Liegt die Rendite, die ein Vermögen abwirft, über der Gegenwartspräferenz, wird man sparen, da der zukünftige Nutzen schwerer wiegt als der sofortige Nutzen. Umgekehrt wird man Kapital abstoßen, wenn die Rendite niedriger als die Gegenwartspräferenz liegt. Dass die Kapitalrendite r über dem Wachstum g liegt, wird dadurch plausibel, dass wenn r niedriger ist als g , jeder Akteur dazu tendieren würde, unendlich viel für sofortigen Konsum zu leihen, da sein zukünftiges Einkommen schneller steigen würde als seine Schulden durch die zu zahlenden Zinsen.
Dies zeigt laut Piketty auch, dass r > g im Sinne des ökonomischen Standartmodells umso wahrscheinlicher wird, je perfekter ein Markt funktioniert.
Umgekehrt liegt die Wachstumsrate langfristig nur sehr selten über 2%. Dies weist Piketty wiederum vor allem empirisch nach. Dies tut er zunächst für die Bevölkerung, deren Wachstum er mit einer Studie der Vereinten Nationen von der Antike, insbesondere aber ab 1700, bis zum Ende des 21. Jahrhunderts aufzeigt. Gleiches gilt für das Produktions-wachstum pro Kopf, wobei er hier Prognosen anderer Ökonomen zur Hilfe nimmt, um die Entwicklung im 21. Jahrhundert abzuschätzen.
Besonderen Wert legt Piketty dabei auf das Gesetz des kumulativen Wachstums, mit dem er zeigt, dass auch niedrige Wachstumsraten, Beispielsweise 1%, nicht mit Nullwachstum gleichzusetzen sind. Innerhalb einer Generation verändert eine solche die gesamte Wirtschaft einer Gesellschaft. Hohe Wachstumsraten sind das Ergebnis von Aufhohlprozessen. Liegt die Produktivität eines Landes hinter der Weltspitze zurück, so kann es durch Wissenstransfers außergewöhnlich hohe Wachstumsraten erreichen und in die Spitzengruppe aufschließen. Dann wird das Wachstum wieder auf eine niedrigere Rate sinken.
Wie erklärt man nun mit diesem Wissen den Verlauf der Ungleichheit im 20 Jahrhundert? Die hohe Ungleichheit zum Anfang, das rapide sinken der Ungleichheit bis nach dem ersten Weltkrieg und ihren Anstieg auf das Niveau zum Anfang des Jahrhunderts am Überhang zum 21. Jahrhundert.
Wie beschrieben ist der Anstieg von Ungleichheit so etwas wie der historische „Normalzustand“. Die Kapitalrendite liegt langfristig über dem Wachstum und daher steigt die Ungleichheit an. Die Abnahme der Ungleichheit zur Mitte des 20. Jahrhunderts hin erklärt Piketty mit den Schocks der beiden Weltkriegen und der Weltwirtschaftskrise. Diese vernichteten vor allem in Europa Vermögen in großem Umfang und dies verringerte die Ungleichheit. Wo kein Kapital, da keine Einkommen aus Kapital und somit weniger Ungleichheit. Theoretisch sind diese Schocks jedoch nicht weiter bedeutend, sie verändern die Kräfte nicht, die zu Ungleichheit führen, sondern sorgen nur kurzzeitig, durch die Vernichtung von Kapital, für einen Rückgang der Ungleichheit.
Entscheidend aus Pikettys Sicht ist, dass im 20. Jahrhundert die meiste Zeit die Kapitalrendite unterhalb der Wachstumsrate lag, also der historische „Normalzustand“ umgekehrt war. Zum einen war die Wachstumsrate außergewöhnlich hoch, insbesondere in Westeuropa in den Jahrzenten nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Wachstumsraten von über 4%. Eine absolute Ausnahme, die sich durch historisch einmalig hohes Wachstum von Bevölkerung und Produktivität erklären lässt.
Die Bevölkerung begann im 18. Jahrhundert zu wachsen, erreichte die höchste Wachstumsrate von fast 2% jährlich zwischen 1950 und 1970 und wird in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts auf null sinken. Die Pro-Kopf-Produktion wuchs erst ab dem 19. Jahrhundert, erreichte ihren Höchststand zwischen 1990 und 2012 mit jährlich über 9% und würde im letzten Drittel des 21. Jahrhunderts auf etwa 1,2% sinken.
Erklären lässt sich dies durch Aufholprozesse. Europa wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg ungewöhnlich stark, da es zu den USA aufholen musste, nachdem Europa durch die Weltkriege weit hinter den Entwicklungsstand der neuen Welt zurückgefallen war. Gleiches gilt für China, das seit den 1990ern zu den Industrienationen mit großen Schritten aufholt.
Diese Prozesse werden weniger, das Wachstum, insbesondere das der Bevölkerung hat sich bereits abgeschwächt und auch die Wachstumsrate der Produktivität sinkt. Wachstum als ein zentraler Faktor der Ungleichheit verringert war im 20. Jahrhundert ungewöhnlich stark und verringerte die Ungleichheit. Nun wird dieser Faktor wieder Schwächer und die Ungleichheit kann ansteigen, da kein hohes Wachstum ihr mehr entgegenwirkt.
Der zweite Faktor ist die Kapitalrendite. Hätte diese noch höher gelegen als die hohen Wachstumsraten im 20. Jahrhundert, so wäre es nicht zu einem Rückgang der Ungleichheit gekommen. Fakt ist, nach Piketty, dass auch im 20. Jahrhundert die Kapitalrendite stets höher war als das Wirtschaftswachstum. Entscheidend ist aber das dies nur vor Abzug der Steuern galt. Diese waren im 20. Jahrhundert historisch betrachtet relativ hoch und drückten die Kapitalrendite, welche bei den Kapitalbesitzern ankam, unter das Niveau des ebenfalls außergewöhnlich hohen Wirtschaftswachstums.
Historisch außergewöhnliche Faktoren hoben also die Wachstumsrate an und drückten andererseits die Kapitalrendite, sodass im 20. Jahrhundert die Wachstumsrate größtenteils höher lag als die Kapitalrendite und dies der ökonomischen Ungleichheit entgegenwirkte. Piktetty kann aber zeigen, dass dies durch eine Kombination von Faktoren geschah, die im 21. Jahrhundert so nicht mehr gegeben ist. Er kann zeigen, dass es normal ist, dass die Kapitalrendite über dem Wirtschaftswachstum liegt und somit auch das Ansteigen von Ungleichheit normal ist.
Aber, und das ist das zentrale Anliegen Pikettys, er zeigt auch, dass man dem nicht Machtlos gegenüber steht. Es handelt sie eben nicht um ein Naturgesetz, sondern nur um eine historische Beobachtung, die man eben für die Zukunft auch verändern kann. Die Wachstumsrate lässt sich nicht erhöhen, aber Steuern lassen sich erheben und mit diesen kann man die Kapitalrendite unter die Wachstumsrate drücken. Es mag politisch schwierig sein, aber sofern die Kräfte steigender Ungleichheit unsere Gesellschaft nicht zereisen sollen, und erste Anzeichen, dass sie genau das können, sehen wir bereits, werden wir Kapitaleinkommen und Vermögen weltweit signifikant besteuern müssen.
Dies ist die irgendwie dann doch recht einfache Lösung, die Piketty vorschlägt: Eine weltweite Steuer auf Kapitaleinkommen und Vermögen. So einfach umzusetzen wird diese Lösung leider nicht sein.