Wovor Menschen fliehen

Kai Schmidt
Das Sonar
Published in
5 min readSep 23, 2015

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Über “Neue Kriege”

„War never changes.“ Das bekannte Zitat aus „Fallout“ bezieht sich auf die Gründe die Menschen in den Krieg treiben. Denn nicht nur die Waffensysteme mit denen Kriege geführt werden haben sich verändert, sondern nahezu alle anderen Aspekte des Gemetzels haben sich in den letzten hundert Jahren fundamental verändert.

Im Ersten Weltkrieg waren weit über 80% der Opfer Soldaten. Mittlerweile hat sich das Verhältnis umgekehrt und 80% der Opfer sind Zivilisten. Dies ist eines der Hauptmerkmale der modernen Kriege, wie wir sie seit Ende des Kalten Krieges beobachten können. Neben der Zahl der Opfer ist auch die Zahl der Vertriebenen massiv gestiegen. Noch nie waren so viele Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge auf der Flucht vor bewaffneten Konflikten.

Krieg führen heute nicht mehr nur Staaten, sondern verschiedenste bewaffnete Gruppen, von regulären Armeen und deren (irregulären) Spezialkräften, über private Militärfirmen, bis hin zu Terrororganisationen, Milizen und anderen bewaffneten Gruppen aller Art. Diese Gruppen erhalten teilweise Unterstützung anderer Staaten oder sie finanzieren sich über den Rohstoffhandel, Drogengeschäfte, Lösegelder, Verkauf von Kunstschätzen oder Spenden.

Dies sind nur einige der wichtigsten Veränderungen und sie führen zu der Frage, warum sich die Kriegsführung so verändert hat. Beim „klassischen“ Krieg stehen sich Staaten gegenüber. Diese wollen dem Gegner politische Zugeständnisse abpressen. Sie setzen ihre Armee ein, um den Gegner Verteidigungsunfähig zu machen, was vor allem bedeutet seine Armee auszuschalten. Das zentrale Mittel ist die Zerschlagung der gegnerischen Armee durch militärische Gewalt in direkten Angriffen auf die Armee und ihre Ressourcen.

Tschetschenischer Kämpfer vor dem Präsidentenpalast in Grozny 1995. Foto: Mikhail Evstafiev

Neben diesem „klassischen“ Krieg gab es seit einigen tausend Jahren den „asymmetrischen“ Krieg, auch als „Guerilla Krieg“ bekannt. Das Hauptmerkmal dieses Krieges ist, dass die beiden Seiten ein extrem ungleiches Kräfteverhältnis haben. Auf der einen Seite steht eine schlagkräftige, technologisch und zahlemäßig überlegene Armee. Auf der anderen Seite steht eine unterlegene Gruppe von Kämpfern mit wenigen Ressourcen, eingeschränkter Ausbildung und Führungsstruktur.

Gegen die Armee kann der Guerilla nur bestehen, da er sich verstecken kann. Er bietet kein Angriffsziel für die überlegene Kampfkraft der Armee. Er kämpft nur wenn er es wünscht und kann sich jederzeit dem Zugriff des Feindes entziehen. Um seine Kampfkraft zu erhalten benötigt der Guerilla die Unterstützung der Bevölkerung. Aus dieser rekrutiert er neue Kämpfer, von ihr erhält er Nahrung, Informationen und Unterschlupf. „Der Revolutionär schwimmt im Volk wie ein Fisch im Wasser.“ wie Mao es ausdrückte.

Mit solchen Taktiken konfrontiert entwickelten Militärs, namentlich die Briten in Malaya, die Strategie der „Counter Insurgency“. Ziel dieser Strategie ist es dem Guerilla das Wasser abzugraben. Das Volk soll davon abgehalten werden irreguläre Kämpfer zu unterstützen. Die Mittel dafür reichen von Schutz und Unterstützung für die Bevölkerung bis zu zwangsweisen Umsiedlungen und anderen Gewalttaten.

Dem Guerilla soll so seine Ressourcenbasis genommen werden. Ohne die Unterstützung Bevölkerung muss jeder Partisanenkampf scheitern. Das Konzept der „Counter Insurgency“ wurde von großen Armeen in verschiedenen Konflikten mehr schlecht als recht angewandt und hat sich gerade in den jüngsten Konflikten in Afghanistan und im Irak wenig bewährt.

Angehörige des Special Air Service in Malaya 1957. Foto: Imperial War Museum.

Der Grundlegende Gedanke breitete sich jedoch aus und wurde bald nicht mehr nur in asymmetrischen Konflikten angewandt. Die Idee, dem Gegner sämtliche potentielle Unterstützer zu nehmen und sich so selbst potentieller Gegner zu entledigen wurde zu einer zentralen Strategie in nahezu allen Kriegen des späten 20. Jahrhunderts. Die „Neuen Kriege“ finden zwischen Gruppen statt, die sich unter bestimmten Labels oder Markennamen sammeln.

Diese Labels können alles sein, vom „Kampf gegen den Terror“ einer Regierung gegen Aufständische im eigenen Land, über simplen Nationalismus und rassistische Ideologien aller Art bis hin zu den verschiedensten Ausprägungen von religiösem Fanatismus. Diese Labels sind keine Ideologien, sie benötigen keine geschlossenen Ideensysteme, keine Heilsversprechen, sie dienen einzig dazu die eigene Seite gegen „die Anderen“ zu definieren, abzugrenzen und dazu Ressourcen für die Bekämpfung dieser „Anderen“ zu mobilisieren.

Gegner sind alle diejenigen, die nicht zum eigenen Label gehören und damit potentielle Unterstützer eines gegnerischen Labels sind. Diese Unterstützer werden als Gefahr angesehen, da sie als Ressourcenquelle und Basis der gegnerischen Macht s gelten. Den Gegner kann man nur bezwingen, indem man alle potentiellen Unterstützer ausschaltet. Indem man sie vertreibt, verstümmelt und umbringt. Ist das eigene Label etwa „Sunnitisch“ sind alle „Schiiten“ potentielle Unterstützer des Gegners und müssen vernichtet werden. Gleiches gilt für alles was nicht „Sunnitisch“ ist.

In den Balkankriegen wurde diese Kriegsstrategie erstmals deutlich sichtbar. Die „ethnischen Säuberungen“, also die gewaltsame Vertreibung und Vernichtung von Menschen mit anderer ethnischer Zugehörigkeit, ist ein Musterbeispiel für das oben beschriebene Phänomen. Die Kriegsparteien im ehemaligen Jugoslawien schlossen sich unter Labels wie „Serbisch“, „Kroatisch“, „Albanisch“ und so weiter zusammen. Jeder Albaner war für das serbische Label ein potentieller Unterstützer einer gegnerischen Kriegspartei.

Wohlgemerkt potentiell! Potentiell bedeutet, dass jeder Zivilist mit der Zuordnung zu einem gegnerischen Label ein Feind ist den man vernichten oder zumindest vertreiben muss. Diese Zuordnung zu einem Label wird allerdings durch die Angehörigen eines anderen Labels vorgenommen. Aufgrund ihrer Ideologie und ohne das sich der Zugeordnete dagegen wehren könnte passiert dies letztlich völlig willkürlich Der Effekt ist, dass jeder um sein Leben fürchten muss. Das jeder Bedroht ist, da er von einer Kriegspartei willkürlich als Gegner klassifiziert werden kann.

Dies gilt auch für Frauen und Kinder. Die ersten „produzieren“ potentielle Gegner und die anderen wachsen zu potentiellen Gegner heran. So werden faktisch alle Zivilisten zu Angriffszielen bewaffneter Gruppen und exzessive Gewaltakte gegen Zivilisten werden zu regelmäßigen Ereignissen. Die Zerstörung der Ressourcen des Gegners bedeutet die Vernichtung von unbeteiligten Menschen.

Grabsteine an der Völkermord-Gedenkstätte in Potočari in der Nähe von Srebrenica. Foto: Michael Büker

Die Normalität der „Neuen Kriege“ heißt Völkermord!

Die gezielte Vernichtung und Vertreibung von Angehörigen einer Gruppe fällt unter das Verbot der Genozidkonvention. Genau dies ist das zentrale Mittel der neuen Kriege. Man will der gegnerischen Seite das Wasser entziehen, man will alle potentiellen Unterstützer dieser Seite vernichten, alle die man als Angehörige einer gegnerischen Gruppe sieht, insbesondere die Zivilbevölkerung. Im Gegensatz zu dem, was wir für gewöhnlich als Völkermord bezeichnen, verübt hier aber nicht eine Seite dieses Verbrechen, sondern alle Konfliktparteien greifen zu dieser extremen Gewalt. Jede Partei verübt Völkermord.

Wir sehen, wie sehr sich der Krieg verändert hat. Wir sehen, warum Zivilisten heute den Großteil der Kriegsopfer stellen. Es ist klar, warum es immer mehr Flüchtlinge gibt. Das wichtigste ist aber die Erkenntnis, dass die Grausamkeiten der „Neuen Kriege“ kein Rückfall in die besinnungslose Barbarei vergangener Jahrhunderte sind, sondern das extreme Gräueltaten und Völkermord rationale Mittel der Kriegsführung geworden sind und es auf absehbare Zeit bleiben werden. Die Beispiele dafür sind Legion und man braucht nur die aktuellen Nachrichten verfolgen, um zu erkennen, dass aktuell mehrere dieser „Neuen Kriege“ nach genau diesem Muster geführt werden.

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