Digitalisierung, Daten, Demokratie

Unter dem Motto „Next Digital Level — Let’s build the Media we want” diskutierten zum Auftakt der 33. MEDIENTAGE MÜNCHEN Experten aus Medien, Politik und Wirtschaft Szenarien für die nächste Stufe des digitalen Evolutionsprozesses.

Birgit Unger
DELUXE Mallorca
6 min readOct 23, 2019

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Die Medialisierung nahezu aller Lebensbereiche stellt die digitale Gesellschaft vor Herausforderungen, für die Medienmacher und -nutzer, Medienpolitik und -wirtschaft, Individuen und Öffentlichkeit neue Lösungen finden müssen. Der Bayerische Ministerpräsident Dr. Markus Söder erklärte in seiner Eröffnungsrede, Medien würden technologische Entwicklungen schneller vollziehen als andere Branchen. Die Zukunft werde entscheidend von Technologien geprägt, und wer erfolgreich sein wolle, dürfe nicht ängstlich sein. Zugleich räumte Söder auch Risiken ein. Diese resultierten aus der sinkenden Bedeutung von Fakten im öffentlichen Diskurs, aus sogenannten alternativen Fakten oder Hate Speech. Trotz solcher Phänomene gebe es zum Fortschritt keine Alternative. Andernfalls würden andere „die Welle reiten“ und Deutschland drohe zu einer „digitalen Kolonie“ von großen US-Internetunternehmen zu werden.

In seinem Grußwort forderte der Bayerische Ministerpräsident, die Medienpolitik müsse schneller auf technologische Entwicklungen reagieren. Söder bezeichnete die deutsche Medienregulierung als anachronistisch, altbacken und kleinteilig. Die „unendliche Staatsvertragsmäanderei“ müsse beendet werden. Wichtig sei, die Wieder- und Auffindbarkeit von Rundfunkprogrammen zu sichern, eine chancengleiche Plattformregulierung zu schaffen und Zulassungsverfahren für Rundfunk zu reduzieren. Außerdem müsse auch für private Medienunternehmen eine Public-Value-Idee diskutiert werden. Ausdrücklich sprach sich Söder für eine Stärkung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus, ohne den die Medienwelt ärmer sei. Deshalb müssten sich ARD und ZDF auch im Internet entwickeln können. Ideen zur Budgetierung und zur Indexierung des Rundfunkbeitrages seien „nicht schlecht“. Vielleicht ergebe sich nach der Landtagswahl in Thüringen für die Landesparlamente „mehr Beinfreiheit“, um eine gemeinsame Lösung zu entwickeln, sagte Söder und empfahl außerdem eine „starke gemeinsame Plattform“ europäischer Medienanbieter.

Siegfried Schneider, Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) und Vorsitzender der Gesellschafterversammlung der Medien.Bayern GmbH, befürwortete in seinem Grußwort die Schaffung einer „Medien- und Kulturplattform“. Die BLM wolle so zunächst lokale und regionale Angebote besser auffindbar machen. Ziel müsse es sein, ein eigenes Ökosystem aufzubauen, wo technische und gesellschaftliche Standards miteinander verbunden und in einem „eigenen Schaufenster“ sichtbar gemacht werden könnten.

Schneider hob die Bedeutung digitaler Medien für eine demokratische Gesellschaft hervor. Angesichts von Fake News, Desinformation und Hate Speech müssten Werte wie Meinungsfreiheit, demokratische Öffentlichkeit und digitale Selbstbestimmung auch in der Online-Welt gesichert werden. Obwohl der Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Zeitbudget der Medienkonsumenten hart sei, müsse über die Verantwortung von sozialen Online-Netzwerken diskutiert werden, und zwar „gerade aufgrund der enormen Reichweiten und der damit verbundenen Meinungsbildungsrelevanz vor allem bei jungen Nutzern“.

Welchen Einfluss durch Machine Learning trainierte Algorithmen auf die Meinungsbildung haben, erklärte Zeynep Tufekci, die als Technologie-Soziologin an der University of North Carolina Chapel Hill forscht und lehrt. So hätten etwa die YouTube-Empfehlungsalgorithmen dazu geführt, dass Wähler im vergangenen US-Präsidentschaftswahlkampf politisch „immer extremere“ Inhalte angezeigt bekommen hätten. Die Folgen seien die Radikalisierung der Nutzer und eine Fragmentierung des Publikums, was gesamtgesellschaftlich zunächst kaum wahrgenommen worden sei. Ähnliche Effekte beschrieb Tufekci auch für Facebook. Das alles führe schnell zu Filterblasen und Polarisierung, bewirke in der Summe schließlich eine Art „kollektive Verschmutzung“ des Meinungsklimas. Als Alternative zu „autoritären Infrastrukturen“, wie sie im Silicon Valley oder in China geschaffen würden, empfahl die US-Professorin, in Europa Tools und Empfehlungsalgorithmen zu entwickeln, von denen Werte wie Daten, Meinungsvielfalt und Privatsphäre geschützt werden.

Während der von Tanit Koch, bei der Mediengruppe RTL Deutschland Chefredakteurin der Zentralredaktion, moderierten Diskussion des Medientage-Gipfels schlug Ulrich Wilhelm eine neue gesamteuropäische Plattform-Initiative vor, um der Macht von Google und Facebook etwas entgegenzusetzen. Der Intendant des Bayerischen Rundfunks und ARD-Vorsitzende regte ein komplett neues Ökosystem für Browser, Suchmaschinen und Empfehlungsalgorithmen an, das ähnlich wie die Airbus-Flugzeuge durch eine Art europäisches Konsortium realisiert werden könne. Conrad Albert, stellvertretender Vorstandsvorsitzender von ProSiebenSat.1 Media, mahnte, es bleibe nicht mehr viel Zeit, um geeignete Lösungen zu entwickeln. Er warnte vor der ökonomischen Macht der Online-Konzerne aus den USA und vor der antidemokratischen Wirkung eines „eskalierenden Automatismus an extremen Effekten bei Social Media“.

Corinna Milborn, Informationsdirektorin des österreichischen TV-Vollprogramms Puls 4, forderte, Facebook und Google müssten sich medien- und steuerrechtlich endlich an die geltenden Regeln halten. Auch sie sprach von mehr Kooperation und davon, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein „Gegenpol“ zu den Unternehmen aus dem Silicon Valley bilden müsse. Deshalb habe sie kein Verständnis dafür, wenn die ARD anderen TV-Programmanbietern ihr Filmmaterial nur gegen Entgelt überlasse, während dieselben Bilder zugleich bei Facebook gepostet würden. So werde der Konkurrenz zu mehr Reichweite verholfen, ohne dass Facebook etwas dafür zahlen müsse. Dazu gebe es keine Alternative, entgegnete der ARD-Vorsitzende Wilhelm. Schließlich würden Facebook und Google inzwischen so etwas wie eine öffentliche Infrastruktur bilden.

Jesper Doub, der bei Facebook als Director News Partnerships für den Wirtschaftsraum Europa, Naher Osten und Afrika (EMEA) arbeitet, räumte ein, der Social-Media-Marktführer habe am Anfang „eine ganze Menge Fehler gemacht“. Jetzt aber bemühe sich das Unternehmen darum, seiner Verantwortung gerecht zu werden. So starte demnächst in den USA beispielsweise ein neues Facebook-Angebote mit dem Arbeitstitel NewsTab. Dort werde in Kooperation mit Medienunternehmen ausschließlich professioneller Journalismus angeboten, der nicht unmittelbar auf Reichweite abziele, sondern auf Nachrichtenwert und Aktualität.

Heike Raab, Staatssekretärin und Bevollmächtigte des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund und für Europa, Medien und Digitales, berichtete, bei den Verhandlungen des neuen Medienstaatsvertrages würden die Themen Transparenzgebot und Diskriminierungsverbot in puncto digitale Plattformen ganz oben auf der Agenda stehen. Als Staatssekretärin von Rheinland-Pfalz ist Raab für die Rundfunkkommission zuständig, in der die Bundesländer die Medienpolitik koordinieren. Sie kündigte an, im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz auf Schloss Elmau, die in diesem Jahr parallel zu den MEDIENTAGEN MÜNCHEN stattfindet, solle der neue Staatsvertrag „auf die Zielgerade“ gebracht werden. Die Staatssekretärin versprach für die Regulierung einen „Paradigmenwechsel“. Im Vordergrund würden dabei kommunikative Chancengleichheit und Vielfaltssicherung stehen.

Tawny, ein Münchener Startup für Emotion-AI, misst die Gefühle von Usern anhand von sensorischen, auditiven oder visuellen Daten und gibt sie an connected devices oder Services weiter, damit diese personalisierter auf den Kunden eingehen können.

Im Mittelpunkt weiterer Diskussionen des Medientage-Gipfels standen neue Geschäftsmodelle. Dominique Delport, Président International von Vice Media, erläuterte, wie das Lifestyle- und Jugendmagazin weltweit versucht, in 25 Sprachen eine junge Zielgruppe über unterschiedliche Kanäle anzusprechen. „Wir lassen junge Leute andere junge Leute interviewen“, beschrieb Delport das Konzept von Vice, das dem Unternehmen zuletzt sechs Emmy-Preise bescherte. Dabei spielten Algorithmen keine Rolle. Ganz anders bei YouTube: Dort bedeutet Recommendation, dass Algorithmen Nutzern gezielt Empfehlungen geben. Andreas Briese, der bei Google für Partnerschaften in Zentraleuropa zuständig ist, erklärte, ursprünglich sei der YouTube-Algorithmus auf möglichst viele Klicks, später auf eine maximale Verweildauer ausgerichtet gewesen. Inzwischen gehe es darum, gezielt Videos zu offerieren, die Vielfalt bieten würden, um Themen aus der Nische zu Mainstream-Inhalten zu machen.

Dass die Internetökonomie zunehmend auf Algorithmen angewiesen ist, bestätigte auch Ringier-Geschäftsführer Marc Walder. Data-Analytics-Prozesse seien mittlerweile von enormer Bedeutung für den Werbe- und Konsumentenmarkt. Um online für die Werbewirtschaft attraktiver zu sein, habe sich in der Schweiz eine Allianz gebildet, die Lesern den Zugang zu ihren Online-Inhalten künftig nur noch erlaube, wenn sie sich einmalig einloggen. Anschließend aber hätten die Leser die Wahl, ob sie dauerhaft der Verwendung ihrer Nutzerdaten zu Werbezwecken zustimmen oder nicht. Dass nach der Print-Branche auch das lineare Fernsehen in den Sog von Online-Geschäftsmodellen gerät, machten alle Diskussionsteilnehmer deutlich. Zwar sei das klassische Fernsehen nicht tot, argumentierte Susanne Aigner-Drews, Senior Vice President von Discovery. Allerdings müssten Bewegtbildinhalte überall dort angeboten werden, wo die Konsumenten seien — also auch im Internet. Fred Kogel sprach in diesem Zusammenhang von einem „Konsolidierungsprozess“. Kogel gründete gemeinsam mit dem Finanzinvestor KKR in den vergangenen Monaten die Unternehmensgruppe Leonine. Als ein „Home of Talents“ entstehe ein Content-Haus, das Inhalte für Kino und Fernsehen in den Sparten Entertainment, Fiction, News und Dokumentation produzieren werde, kündigte Kogel an. Erfolg bedeute künftig vor allem, sehr klein und sehr kreativ in der Nische zu agieren oder sehr groß für den Mainstream zu produzieren.

Weitere Informationen erhalten Sie unter www.medientage.de.
Medientage München 2019 – 23. bis 25. Oktober.

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Birgit Unger
DELUXE Mallorca

PR & Content Creation. In 2007, Birgit took on the travel magazine DeluxeMallorca.com as editor-in-chief. Her background is in advertising.