Dido, Lila und die Möglichkeiten, dem Schicksal zu entfliehen

Lisa Eberle
Dem Schicksal Entkommen
6 min readMay 30, 2019

von Silja Soniemi

Elena Ferrantes Neapolitanische Saga handelt von der langjährigen Freundschaft zwischen zwei Frauen, Elena (Lenù) und Lila, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Elena ist blond, dicklich und klein, Lila groß, schlank und dunkelhaarig. Während Elena auf das Gymnasium geht und studiert, bricht Lila die Schule ab und arbeitet im Geschäft ihrer Familie mit. Verbunden werden die beiden Frauen durch ihren sozialen Hintergrund und ihrer Abscheu, die sie ihm gegenüber empfinden: Beide werden nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Armenviertel von Neapel geboren, das in den Büchern einfach nur „Rione“ (ital. für Stadtteil) genannt wird, und beide lehnen die Zukunft, die sie dort als Frauen erwartet, konsequent ab. Beide, so scheint es, versuchen ihrem Schicksal zu entkommen.

Aber was ist denn „Schicksal“? Gibt es das überhaupt? Und wenn ja, wie kann man ihm entkommen?

Anders als heute, hätten in der römischen Antike viele Menschen die Frage, ob es Schicksal denn gäbe, mit einem kräftigen „Ja“ beantwortet. Dort war „fatum“ (lat. für Schicksal) ein wichtiges Konzept. Es bedeutete das, was dem Willen der Götter entsprach. Herrscher und Feldherren, so die Vorstellung, wurden von „fatum“ auserwählt und geleitet. Das wohl berühmteste Beispiel hierfür ist Aeneas, ein trojanischer Prinz, dessen „fatum“ es war, Rom zu gründen. Das ist das zentrale Motiv in der Aeneis, dem berühmten Epos, in dem Vergil Aeneas‘ Weg von Troja nach Italien beschreibt.

Wiederkehrendes Thema dieses Epos‘ ist, dass sein‘ihr Schicksal zu erfüllen nicht einfach ist. Aeneas ist ein zögernder und beinahe widerwilliger Gründer von Rom, nicht zuletzt, weil es eine Reihe von Göttern gibt, die beständig sein Schicksal verhindern wollen. So versucht zum Beispiel Juno, Aeneas von der Erfüllung seines „fatum“ abzuhalten. Sie spült ihn und seine Männer als Schiffbrüchige an die nordafrikanische Küste und läßt sie dort auf Dido treffen, die Gründerin und Königin von Karthago, welche die Schiffbrüchigen einlädt, sich in der Stadt niederzulassen.

Vergils Darstellung von Aeneas‘ Aufenthalt bei Dido in Karthago spielt eine große Rolle in der Neapolitanischen Saga. Anders als bei Vergil steht hier aber nicht der Kampf Aeneas‘, sein „fatum“ zu erfüllen, im Vordergrund; stattdessen liegt der Fokus auf Didos ganz anders geartetem Verhältnis zu Schicksal. Didos Geschichte ist nicht, ihr Schicksal zu erfüllen, sondern ihm zu entkommen.

Dido und die Aeneis tauchen gleich im ersten der vier Bücher der Neapolitanischen Saga auf. Dort entwickelt Lila eine besondere Faszination für Dido. Elena, die anders als Lila die erste Klasse eines Gymnasiums besuchen darf, liest in der Schule die Aeneis. Zu dieser Zeit ist Lila sehr eifrig und möchte die Bücher und die Themen, die Elena in der Schule behandelt, verstehen. Deshalb bittet sie Elena, ihr zu sagen, was sie täglich in der Schule lernt. So lernt Lila über Dido, und in ihrer Faszination für die Figur liest sie viel schneller als Elena in der Schule. Diese Faszination Lilas für Dido scheint daher zu rühren, dass sie das Leben der Gründerin und Königin von Karthago mit ihrem eigenen in Verbindung setzt. Angelehnt an Dido entwirft Lila für sich die Rolle der (Neu-)gründerin bzw. der Reformerin des Rione. Für Lila ist Dido die erste Frauenfigur, die sie nicht ablehnt. Später wird sie versuchen, ihr Leben nach dem Vorbild von Dido zu gestalten und das Rione tatsächlich neuzugestalten. In diesen wiederholten Versuchen, ihr Leben und ihre Umgebung jenseits alles Altbekannten neuzugestalten, greift Lila einen zweiten Aspekt der Geschichte von Dido auf.

Tod der Dido (Vergilius Vaticanus, ca. 400 n. Chr.)

Nachdem Aeneas nach Karthago kommt, verliebt sich Dido in ihn. Unter Junos Aufsicht scheint in einer Höhle während eines Sturms sogar eine Heirat zwischen den beiden vonstattenzugehen. Als Aeneas dann doch mit seinen Männern Karthago verlässt und nach Italien fährt, bringt sich Dido selbst um. Vergil beschreibt ihren Tod als etwas, das ohne „fatum“ geschah; Dido sei „ante diem“, vor dem für ihren Tod bestimmten Tag, gestorben. Während das „fatum“ von Aeneas und somit sein Bruch mit Dido unausweichlich schien, konnte die Königin von Karthago im Moment des Todes mit ihrem Schicksal brechen.

In der Antike war „fatum“ der Wille der Götter. In der Welt von Lila und Elena, wie sie Ferrante zeichnet, bilden hingegen die Umstände, in die man hineingeboren wird, das Schicksal. Im Fall von Lila und Elena sind das Armut, Gewalt und Abhängigkeit. Als Frau geboren zu werden heißt zudem, in seinen‘ihren Lebensentwürfen auf die Rollen von Ehefrau, Hausfrau und Mutter beschränkt zu werden. In ihrer Erzählung betrachtet Ferrante mehrere Wege, wie Menschen wie Lila und Elena denn diesen Umständen entkommen können.

Zum einen gibt es die Wege, die von der Gesellschaft vorgesehen sind. Heutzutage kann ein‘e Schüler‘in, der‘die aus einem bildungsärmeren Umfeld kommt, durch Anstrengung und Leistung in der Schule einen höheren Abschluss erwerben als seine‘ihre Eltern oder Geschwister. Das ist genau der Weg, den Elena einschlägt. Eigentlich sollten beide Mädchen auf die weiterführende Schule gehen, doch Lila wird von ihren Eltern nicht unterstützt und muss in der Schusterwerkstatt und im Haushalt arbeiten, heiratet mit 16 Jahren und wird dadurch Ehefrau, Hausfrau und später auch Mutter. Lenù dagegen darf gehen und kann so dem Schicksal einer ungebildeten Ehefrau und Mutter entkommen, besucht das Gymnasium und absolviert ein Studium.

Ferrante zeigt aber auch die Beschränkungen dieses Wegs auf. Die Schule und das Studium erlauben es Elena zwar, der Gewalt und den Abhängigkeiten des Rione zu entkommen, mit ihrem Schicksal als Frau hat sie aber noch viel länger zu kämpfen. Ihre Ehe mit dem Sohn des berühmten Professor Airota, in der sie die Rolle der Hausfrau und Mutter innehat, scheint sie zunächst in eine dunkle und dumpfe Sackgasse zu führen, aus der sie schließlich nur über ihre Beziehung zu Mariarosa, der Schwester ihres Mannes, herausfindet.

Tatsächlich sind es für Ferrante immer Beziehungen zu anderen Frauen, die ihren Protagonistinnen helfen, neue Wege und Möglichkeiten jenseits ihres Schicksals für sich zu entdecken. Das ist, was Dido Lila ermöglicht. Das ist, was Mariarosa für Elena tut. Das ist in der Tat, wie die von Spannungen und Neid geprägte Freundschaft zwischen Elena und Lila ihre beiden Leben beständig bereichert und vorantreibt.

Aber Ferrante verweist noch auf einen weiteren Weg, dem Schicksal zu entkommen. Genau wie am Anfang ihres Lebens lässt sie Lila zum Ende noch einmal Dido imitieren. Lila bringt sich nicht um. Sie entfernt jedoch jegliche Spur von sich selbst aus ihrer Wohnung, verschwindet und bleibt unauffindbar. Sie entzieht sich ihrem Schicksal, so könnte man meinen, indem sie sich, ihr Leben und sein Ende unbekannt und unerzählbar macht. Lilas Selbstentfernung aus ihrem Leben ist der Ausgangpunkt der Erzählung. Denn Elena entscheidet sich daraufhin, ihre Freundschaft mit Lila aufzuzeichnen. Das Resultat, so die Fiktion, ist die Neapolitanische Saga.

Bertolt Brecht sagte: „Man ist erst wirklich tot, wenn keiner mehr an einen denkt.“ Auf jüdischen Friedhöfen wird als Zeichen, dass das Grab eine‘n Besucher‘in hatte, ein Stein auf den Grabstein gelegt. Es ist ein Zeichen dafür, dass an den‘die Verstorbene‘n immer noch gedacht wird. Diese Symbolik zeigt die Unendlichkeit der Gedanken an den‘die Verstorbene‘n. Ich empfinde dies als ein sehr schönes Symbol, da der‘die Verstorbene nicht in Vergessenheit geraten kann. Ein Stein symbolisiert Beständigkeit. Kein Sturm, kein Unwetter kann ihn so leicht zerstören.

Die Neapolitanische Saga erinnert an Lila. Die Bücher machen diese Frau und ihr Leben unvergesslich. Vor allem aber sind sie ein Monument für Lilas unaufhörliche Bestrebungen, ihrem Schicksal zu entkommen und ihr Leben selbst zu gestalten; ein Bestreben, dass schließlich soweit ging, dass wir ihr Leben nicht mehr kennen.

Heutzutage ist es einfacher als zu Zeiten der Romane Ferrantes, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Es gibt immer einen anderen Weg und auch eine Möglichkeit, seine‘ihre Lebenssituation zu verändern. Als Frau kann ich heute selbst bestimmen, wie und ob ich mein Leben mit einem Mann, einer anderen Frau oder auch alleine bestreiten möchte. Ich kann sogar Mann sein.

Ich habe das Privileg, eine Frauengeneration vor mir gehabt zu haben, die sich gegen eine Gesellschaft der Unterdrückung der Frau stellte und mir somit das Recht auf eine freie Meinung und vor allem das Recht auf Bildung sicherte. Gemeinsam mit Geschichten über Frauen wie Dido, Elena und Lila, mit Monumenten weiblicher Selbstbestimmung also, bedeutet für dies mich, die Möglichkeit zu haben, mein Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können.

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