(Antike) Mütter moderner Frauen. Warum Frauen weibliche Vorbilder brauchen

von Greta Ratsch

Lisa Eberle
Dem Schicksal Entkommen
6 min readMar 25, 2019

--

Detail der Statue von Artemis/Diana im Louvre in Paris

Ich hatte schon viele literarische Vorbilder: Winnetou, Robin Hood und die drei Musketiere sind einige davon. Nur wenige dieser Vorbilder waren weiblich.

Vielleicht stelle ich einfach die falschen Anforderungen an meine Idole. Mutig müssen sie sein, verwegen, stark und geheimnisvoll. Sie sollen kämpfen, reiten und Heldentaten vollbringen. Warum aber finde ich solche Attribute bei Frauen nur selten? Und ist das eigentlich ein Problem? Antike Literatur jedenfalls scheint nicht der beste Ort, um danach zu suchen. Zumindest nicht auf den ersten Blick.

Aus unserer heutigen Perspektive scheint die Antike ein Zeitalter der Männer gewesen zu sein. Mit ihr assoziieren wir Helden wie Achilles und Aeneas, Kaiser wie Augustus und Nero, Feldherrn wie Agrippa und Alexander, Dichter wie Homer und Vergil. Alle haben sie in den unterschiedlichsten Bereichen Großes vollbracht. Gleichzeitig verbindet sie etwas, das ebenso trivial und offensichtlich wie auch elementar wichtig ist: Jeder dieser Männer war ein Sohn. Die meisten waren auch Väter, Ehemänner und Brüder. Diese Männer hatten Mütter und Töchter, Gattinnen und Schwestern. In der Antike gab es also durchaus Frauen.

Das klingt vielleicht banal, ist es aber nicht. Denn es geht darum, sich an sie zu erinnern. Wer die Ilias liest, wird feststellen, dass in dem Buch kaum weibliche Figuren vorkommen. Moment! werden wahrscheinlich viele Leser‘innen an dieser Stelle rufen. Da gibt es doch die schöne Helena, wegen der das ganze Theater überhaupt erst losgegangen ist. Damit haben Sie natürlich recht. Aber seien wir ehrlich: ging es im Trojanischen Krieg denn tatsächlich um Helena? Oder war sie nicht vielmehr nur das Objekt, an dem sich die Auseinandersetzungen entzündeten, das Gut, worüber gestritten wurde, der Schatz, den der eine Heros dem anderen raubte, eine Beleidigung solchen Ausmaßes, dass sie nicht ungesühnt hingenommen werden konnte?

Die Frau als (schönes) Attribut eines Mannes: das scheint die Funktion vieler weiblicher Figuren in antiker Literatur ziemlich treffend zu beschreiben. In den meisten Fällen scheinen sie treue Ehegattinnen zu sein, die zuhause auf ihre Männer warten, egal wie lange diese durch die Welt segeln (man denke an Penelope, die Frau des Odysseus); gehorsame Töchter, die den Freier heiraten, dem sie von ihrem Vater versprochen werden (Hermione, die Tochter des Menelaos); verehrende Schwestern, die in ihrer Schwäche auf die Stärke des rächenden Bruders vertrauen (Elektra, die Tochter des Agamemnon); hingebungsvolle Mütter, die sich aus Gram um den Tod des Sohnes selbst das Leben nehmen (Eurydike, die Frau des Kreon). Oder eben — wie Kassandra, Andromache oder Helena — die schöne Kriegsbeute beziehungsweise der Grund, weshalb sich die heldenhaften, heißblütigen Herren in einen Krieg stürzen, der zehn Jahre währt.

Wer an antike Literatur denkt, dem‘der fallen mit Sicherheit weit mehr tapfere, starke, mutige und vor allem aktiv handelnde, von ihrem Umfeld als Leitbild anerkannte Männer ein als Frauen. Aber dürfen wir daraus schließen, dass es letztere nicht gegeben hat?

Das Gegenteil ist der Fall: die griechische und auch die römische Mythologie ist voll von Frauengestalten, die es an Mut und Tapferkeit durchaus mit ihren männlichen Pendants aufnehmen können. Nur sind ihre Geschichten weit weniger bekannt, ein Umstand, der zweifelsohne dem Erhalt von Geschlechterbildern in der Gegenwart geschuldet ist und der gleichzeitig dazu beiträgt, diese kontinuierlich aufrechtzuerhalten. Die heutige Zeit prägende Vorstellungen von „männlichen“ und „weiblichen“ Eigenschaften finden so in der Vergangenheit ihre Bestätigung. Wer sich jedoch etwas tiefer einliest in die sagenhafte Welt des Altertums, stößt zwangsläufig auf Frauen, deren Leben und Handeln solchen Geschlechterbildern klare Alternativen entgegensetzt. Oftmals verschleiert lediglich die Art, wie ihre Geschichten erzählt werden, die Sicht darauf.

Penelope wartete bekanntlich zwanzig Jahre auf die Rückkehr von Odysseus. Ihr Ausharren auf Ithaka hat sie zum Inbegriff der treuen Gattin gemacht. Wo bleibt jedoch das Lob für ihre Stärke, ihren Mut und ihre Klugheit, über die Penelope zweifellos verfügen musste, um zwanzig Jahre lang zahlreiche heiratswütige Helden zum Narren und Odysseus somit sein Königreich zu (er)halten? In ihren nächtlichen Aufenthalten am Webstuhl, bei denen sie das am Tag Gewebte wieder auflöste, zeigte sich Penelope mindestens so listig wie ihr für diese Eigenschaft berühmter Mann.

Antigone, der Sophokles in einer Tragödie ein Denkmal gesetzt hat, bietet ein weiteres Beispiel. Die Geschichte handelt von den Geschehnissen in Theben, nachdem Ödipus seine göttlich prophezeiten Verfehlungen (den Vater erschlagen, die Mutter geheiratet) erkannt und die Stadt verlassen hat. Seine Söhne Eteokles und Polyneikes, die ihm auf den Thron folgen, entzweien sich im Streit, woraufhin letzterer mit einem fremden Heer gegen Theben zieht und sich die beiden Brüder im Kampf gegenseitig töten. Ihr Onkel Kreon, nunmehr Herrscher der Stadt, verbietet bei Androhung der Todesstrafe, den abtrünnig gewordenen Polyneikes zu bestatten.

Wer brachte den Mut auf, sich dem Befehl zu widersetzen und den Gefallenen angemessen und wie von den Gött‘innen gefordert beizusetzen? Nicht etwa einer der männlichen Helden, die diese Geschichte bis dahin dominiert haben. Nein. Antigone, die Schwester des Toten, bestattete ihren Bruder. Was kein Mann in ganz Theben wagte, führte sie aus und nahm dafür einen grausamen Tod in Kauf. Ist das nicht eine mindestens ebenso tapfere Tat, wie sich im Bauch eines hölzernen Pferdes zu verstecken und dann bei Nacht und Nebel eine Stadt zu überfallen? Ist es richtig und angemessen, dass der Mut und die Tapferkeit von Odysseus, Agamemnon und Achill weitaus bekannter sind als die von Antigone? Das sei einmal dahingestellt. Wichtig ist dieser Umstand jedoch auf jeden Fall. Denn die Schwierigkeit, tapfere und mutige Frauen als Vorbilder zu finden, hat Konsequenzen.

Ein Vorbild ist eine‘r, dem‘der ich nacheifere, den‘die ich bewundere. Eine‘r, der‘die in mir den Wunsch weckt, ebenso zu handeln und zu sein. Wenn diese‘r eine durchweg männlich ist, gibt mir das als Frau nicht unweigerlich das Gefühl, es wäre besser, auch ein Mann zu sein? Zumal gerade Eigenschaften wie Kühnheit, Entschlossenheit, Verwegenheit, Stärke, die mir an Winnetou, Old Shatterhand, d‘Artagnan und den anderen am besten gefallen, bis heute oft als „klassisch männlich“ gelten. Frauen mit diesen Eigenschaften werden hingegen als „burschikos“ bezeichnet. Ihr Charakter scheint mit ihrer Weiblichkeit unvereinbar zu sein.

Ich bin davon überzeugt, dass unser Geschlecht nicht vorbestimmt, welche Eigenschaften wir haben. Deshalb sollte es auch nicht vorbestimmen, welche Eigenschaften wir haben sollen. Idealerweise müssten Frauen wie Männer selbst entscheiden können, wer sie sind und wer sie sein wollen. Die Wichtigkeit weiblicher Vorbilder für diese Form der Selbstbestimmung hat eine Gruppe italienischer Feministinnen in den 1970er und 1980er Jahren unter dem Stichwort „Affidamento“ beschrieben.

In groben Zügen erklärt, besagt deren These, dass sich Frauen einander anvertrauen sollen (ital. affidarsi — sich anvertrauen), um so Autonomie zu erlangen, mithilfe der Anderen und durch die Unterschiede, die sie voneinander abgrenzen. Dabei sind es insbesondere diese Unterschiede, die die Grundlage der „Affidamento“-Beziehung ausmachen. Die eine erkennt in der Anderen ein „Mehr“, eine Überlegenheit, etwas Erstrebens- und Beneidenswertes in einem bestimmten Punkt und wird durch dieses Vorbild zu dem Versuch inspiriert, für sich selbst eine Brücke zu bauen zwischen dem, was sie ist und dem, wozu sie aufblickt, was sie gerne sein möchte. „Sich anvertrauen“ ist hier nicht als verbaler Austausch zu verstehen, sondern als ein „die eigene Person der anderen, die man persönlich für sich als Autorität anerkannt hat, überantworten“.

Diese Art der Verbindung wird oft mit einer Mutter-Tochter-Beziehung verglichen. Dass dabei auch Neid und Konkurrenz eine Rolle spielen, ist zweitrangig. In erster Linie führt dieses individuelle Auswählen eigener, nicht von der Gesellschaft oder explizit den Männern vorgegebener Ideale zur persönlichen Freiheit der Frau, zu selbstbestimmtem Handeln in der Welt und dazu, dass ich für mich persönlich festlege, wie ich als Frau sein möchte.

Auch Antigone handelte selbstbestimmt. Ihr Mut und ihre Stärke sind ein solches „Mehr“, das damals wie heute inspirieren könnte. Ihrem Vorbild nachzueifern wäre ein Weg, zu den eigenen Stärken, zur persönlichen Freiheit zu gelangen und eigenständig, selbstbewusst in der Welt aufzutreten.

Statue von Artemis/Diana im Louvre in Paris

Mein liebstes Vorbild aus der Antike, meine antike Mutter, ist aber Artemis, eine der zwölf Gottheiten auf dem griechischen Olymp. Als Göttin der Jagd sind ihre Attribute goldene Pfeile und ein silberner Bogen. Sie braucht keinen Mann, um sich zu verteidigen. Wehrhaft und selbstbewusst streift sie frei und allein jagend durch die Wälder. Ich kann in ihr meine Ideale verwirklicht sehen: Stärke, Mut und Unabhängigkeit. Nicht umsonst gilt sie auch als Hüterin und Beschützerin der Frauen. Und in dem Moment, in dem ich als Frau diese „männlichen“ Eigenschaften in einer anderen Frau identifiziere und für mich persönlich als erstrebenswert und vorbildlich festlege, werden diese Eigenschaften auch „weiblich“.

--

--