Über Bommelmützen — Was es heißt, den Diskurs zu ändern
von Maria Janosch
Im November kamen meine Eltern aus dem Urlaub auf der Südhalbkugel zurück. Dort war zwar Sommer, in Deutschland war es aber schon ziemlich kalt und meine Eltern erlebten deswegen den wohl schlimmsten Temperatursturz ihres Lebens. Ich, ausgerüstet mit einer kuscheligen Mütze, bot diese meinem Vater an. Er lehnte ab, mit der Begründung, es sei ja eine Bommel an der Mütze, die wolle er nicht aufsetzen. Wenn Sie jetzt auch denken: Klar, diese Mützen mit den pelzigen Kugeln dran sind nur was für Frauen: Herzlich Willkommen im aktuellen Diskurs. Es geht um die Begriffe Sex und Gender und darum, warum das Tragen von Bommelmützen revolutionärer sein kann, als Sie vielleicht denken.
Mit der Debatte um die Begriffe Sex und Gender, biologisches und soziales Geschlecht, wird häufig der Name Judith Butler in Verbindung gebracht. Wie viele andere Gendertheorien geht auch ihr Ansatz davon aus, dass die kulturelle Konstruktion von Geschlechterdifferenz sich historisch verändert hat. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Erwartungen an ein Gender auch in der Gegenwart veränderbar sind. Wie genau gehen diese Veränderungen vonstatten?
Butlers Theorie gibt hier eine klare Antwort: die Verantwortung liegt bei uns allen, bei jeder*m Einzelnen.
Ihre Theorie kommt nicht ohne die Begriffe Norm, Macht und Diskurs aus. Normen prägen das menschliche Zusammenleben. In diesem Sinn sind Normen keine Gesetze, wie sie im Strafgesetzbuch oder Ähnlichem festgeschrieben sind. Stattdessen sind sie ein Orientierungsmaßstab für angemessenes Verhalten. Zum Beispiel nehmen manche Menschen ihre Mütze ab, wenn sie ein Zimmer betreten, weil das als höflich gilt. Normen zu befolgen ist ein freiwilliger Akt. Gleichzeitig kann das Nicht-Befolgen einer Norm Konsequenzen haben. Im besten Fall werden Sie seltsam angeschaut, weil Sie in einem Zimmer eine Mütze tragen. Im schlimmsten Fall werden Sie von Ihren Mitmenschen ausgeschlossen.
Für Butler ist Geschlecht eine Ansammlung solcher Normen. Genau wie das Ideal, dass man die Mütze abnehmen sollte, wenn man ein Zimmer betritt, ist es historisch veränderbar. Butler interessiert sich für einen besonderen Aspekt dieser Ansammlung von Normen in zeitgenössischen westlichen Gesellschaften. Sie nennt diesen Aspekt „heterosexuelle Matrix“. Damit meint sie Heterosexualität und die Übereinstimmung von Sex und Gender. Sie sind ein Mann, werden so wahrgenommen, und stehen auf Frauen. Um als Mann wahrgenommen zu werden, haben sich bestimmte Zeichen etabliert, die verhindern, dass Mitmenschen einen Mann als eine Frau wahrnehmen. Dazu gehört auch, dass man als Mann keine Bommelmütze trägt. Umgekehrt ist es das Gleiche: Als Frau sollte man als Frau wahrgenommen werden und ein Teil davon, Frau zu sein, ist, auf Männer zu stehen. Geschlecht als Norm hat also soziale Macht.
Das ist nicht Macht in dem Sinne von Angela Merkel, die als Bundekanzlerin im Bundestag eine Gesetzesvorlage einbringen kann. Nach Butler ist Macht nichts hierarchisches, sondern ein Netzwerk, welches sich durch die Gesellschaft zieht. Nicht nur Angela Merkel und die übrigen Mitglieder des Bundestags haben Macht, sondern jeder einzelne Mensch kann eine Norm reproduzieren. Anders als bei deutschen Gesetzen braucht es nicht den Bundestag, sondern den Diskurs, um Normen zu erhalten.
Der Diskurs ist für Butler, wie wir alle über Dinge denken und reden. Er wiederholt die Norm, trägt sie und bringt somit Macht zum Ausdruck. Dadurch, dass der Diskurs die Norm ständig aufgreift und verbreitet, ist er produktiv. Wenn mein Vater es ablehnt, meine Mütze aufzusetzen, wiederholt er die Norm, dass Männer keine Bommelmützen tragen. So macht er die Mütze für sich und andere Männer wiederholt untragbar.
Was heißt das für Sex und Gender? Geschlecht entsteht aus dem Diskurs, der die Heterosexualität und das Mann-Frau-Denken als Norm widerspiegelt. Dadurch gilt Heterosexualität als normal, ebenso, wie wir in den Kategorien Mann und Frau denken. Alles, was nicht in dieses Bild passt, wie Homosexuelle oder Transsexuelle oder Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau identifizieren, werden als nicht normal betrachtet. Indem die Norm wiederholt wird, werden Geschlechterbilder erschaffen. Geschlechtsidentität entsteht durch den Diskurs.
Butler geht so weit zu sagen, dass man auf das biologische Geschlecht außerhalb des Diskurses nicht zugreifen kann. Sie bestreitet nicht, dass es an Geschlecht eine biologische Komponente gibt. Allerdings muss man, um diese biologische Komponente zu verstehen, über sie sprechen. Dabei greift man unweigerlich auf Diskurse zurück und, in Butlers, Sinn, auf genormte Begriffe. Im Moment des Darüber-Sprechens wird das biologische Geschlecht zu einem Teil der kulturellen Deutung von Geschlechterdifferenz. Das biologische Geschlecht selbst bleibt eine Leerstelle, die nicht wirklich fassbar ist.
Ok, und was heißt das jetzt für mich, werden Sie sich denken? Es heißt, dass wir alle über Sex und Gender reden. Damit reproduzieren wir den Diskurs. Es kann aber sein, dass eine Person oder eine Gruppe von uns eine Norm nicht vertritt. Findet die Mehrheit diese neue Norm gut, kann sich eine neue Norm etablieren und der Diskurs ändert sich dadurch. Bedeutet: Wir alle machen den Diskurs. Wenn meine Mutter, mein Vater und ich demnach in der Stadt unterwegs sind und mein Vater, der dann doch der Kälte nachgibt, eine Bommelmütze trägt, sind ich und meine Mutter der Ansicht, dass es vollkommen ok ist, wenn er diese Mütze trägt. Andere Leute sehen das und es besteht die Möglichkeit, dass sie diese Meinung übernehmen, was den Diskurs, wenn auch vielleicht auf einen engen Kreis beschränkt, ändert.
Weiter gefasst: Nehmen wir an, die Norm ist, dass nur Frauen Bommelmützen tragen. Wenn nun genügend Menschen der Meinung sind, dass dies nicht zutrifft, weil Bommelmützen auf alle Köpfe passen, kann die Aussage „Alle Menschen können Bommelmützen tragen“ zur neuen Norm werden. Geschlechterbilder sind also nicht nur veränderlich; hier ist ein Weg, wie sie sich verändern können.
Wenn nun die Geschlechtsidentität im Diskurs veränderlich ist, kann man für die Ungleichbehandlungen von Frauen nicht auf die Biologie, die man ja nach Butler sowieso nie wirklich verstehen kann, zurückgreifen. Letztlich ist die Biologie in unserer heutigen Lebensweise auch egal. Wir müssen keine Mammuts mehr erlegen, um nicht zu verhungern. Frauen sind auch nicht deshalb ungeeignet, Führungspositionen einzunehmen, weil sie von Natur aus emotionaler sind als Männer, sie werden nur auf Grund des Diskurses als emotional und damit als unfähig angesehen. Oder anders gesagt, an Bommelmützen ist nichts per se weiblich oder männlich.
Somit kann jede*r den Diskurs und damit Geschlechterbilder ändern. Macht liegt in alltäglichen Dingen und Handlungen. Indem solche alltäglichen Dinge getan werden, werden Normen eingehalten oder eben nicht. Der Diskurs wird wiederholt, oder eben nicht. Ergo, jede*r Einzelne kann die Geschlechterordnung durch alltägliche Dinge ändern. Auch Sie. Zum Beispiel dadurch, dass Sie an einem Wintermorgen zu einer Mütze mit Bommel greifen — oder eben nicht.