Die ungerechte Welt der Frauen — im heutigen Indien und anderswo

von Tamara Cakmak

Lisa Eberle
Dem Schicksal Entkommen
5 min readMar 29, 2019

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Moderne Großstädte, Wolkenkratzer und modisch gekleidete Frauen. Eine Menschenschar läuft hektisch durch die Stadt. Viele Geschäftsleute, Menschen, die einkaufen und ein paar Tourist‘innen. Das ist das Bild einer Großstadt. Doch jede glamouröse Metropole hat ihre Schattenseite.

Dharavi Slum in Mumbai (Unequal Scenes)

So auch Mumbai, die Hauptstadt Indiens, mit ca. 13 Millionen Einwohner‘innen. In dieser Stadt ist die Schere zwischen Arm und Reich besonders groß. Auf der einen Seite gibt es pompöse Gebäude und reiche Menschen, auf der anderen Seite die Slums. Dort leben die Menschen in ärmsten Verhältnissen. Die Häuser, die man eigentlich nicht als Häuser bezeichnen kann, bestehen aus Wellblechen, haben oftmals keine Türe und sind nicht witterungsresistent. Des Weiteren fehlen ein Kanalisationssystem, Strom und Wasser. Es riecht streng nach Müll und die Menschen sitzen vor ihren Häusern. Die Meisten haben keine Arbeit oder arbeiten für sehr wenig Geld in einer Fabrik. Dadurch, dass die Menschen in so armen Verhältnissen leben und oftmals nicht einmal Geld für Lebensmittel haben, sind sie nicht in der Lage, Geld für die Bildung ihrer Kinder auszugeben. Dies entwickelt sich zu einem Teufelskreis, dem kaum noch zu entkommen ist.

Die Eltern haben keine gute Bildung genossen und bekommen aus diesem Grund keine gut bezahlte Arbeit. Sie haben kaum Geld um ihre Familie zu ernähren und können ihre Kinder nicht zur Schule schicken. Gleichzeitig spielt auch die indische Kultur eine große Rolle, da es das sog. „Kastensystem“ gibt, durch welches Menschen in den unteren Kasten als „Unberührbare“ angesehen werden und somit aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden.

Doch nicht nur die Lebensumstände wie Kaste und der Wohlstand eines Menschen bestimmen die vorliegende Ungleichheit, sondern auch das Geschlecht. Wenn es in Indien zur Geburt eines Mädchens kommt, entscheidet die Familie bzw. der Mann über Leben und Tod des Kindes, da eine Frau als Last für die Familie angesehen wird. In der indischen Gesellschaft ist es üblich, dass Frauen nicht arbeiten und somit nicht die Familie unterstützen können.

Dazu kommt, dass die Mädchen in den Augen der Familien verheiratet werden müssen, was sich aber für den Großteil der armen indischen Bevölkerung als Schwierigkeit darstellt, da sie für die Familie des Bräutigams viel Gold kaufen und Geld zahlen müssen. Um nicht in solch eine Situation zu geraten, kommt es oftmals zu einem Schwangerschaftsabbruch, wenn die Familien erfahren, dass die Frau ein Mädchen erwartet. Oftmals sind es auch die Frauen selbst, die aus purer Verzweiflung um ihre finanzielle Existenz zu dieser drastischen Maßnahme greifen. Dies führt wiederum zu einem Mangel weiblicher Bürger, was demografische Folgen nach sich zieht.

Die indische Regierung versucht seit Jahrzehnten diesen „Genderzid“, die Abtreibung aufgrund des „falschen“ Geschlechts, einzuschränken bzw. zu verhindern. Dies wird durch das Gesetz „Pre-natal Diagnostic Techniques Act” von 1994 versucht, welches das Bestimmen des Geschlechts des Fötus verbietet. Das Nichteinhalten dieses Gesetzes führt zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe. Da es aber der technische Fortschritt ermöglicht, durch moderne Ultraschallgeräte […] die aus China nach Indien geschmuggelt werden das Geschlecht des Kindes trotzdem vor der Geburt zu erfahren, kommt es immer noch zu vielen Abtreibungen weiblicher Föten. Diese Operationen werden meist nicht von professionellen Ärzten durchgeführt, sondern von älteren Frauen oder illegal praktizierenden Ärzten. Sie werden meist nicht in sterilen Kliniken oder gut ausgestatteten Arztpraxen durchgeführt, sondern in irgendwelchen Hinterzimmern mit veralteten Instrumenten. Solche Abtreibungen stellen also auch ein Risiko für die werdenden Mütter dar, da es noch während oder nach den Operationen häufig zu Komplikationen kommt, die bis zum Tod führen können. Im vergangenen Jahr ist solch ein Sachverhalt von der indischen Polizei aufgedeckt worden. Sie ermittelten in dem Fall einer bei einer illegalen Abtreibung gestorbenen Frau und fanden dort die Überreste von 19 abgetriebenen weiblichen Föten vor.

Leider kommt es auch oftmals zu Tötungs- und Vernachlässigungsdelikten, wenn ein Mädchen geboren wird. Jedoch wird in Indien kaum über solche Vorfälle geredet, da diese auf grausamste Weise durchgeführten Morde für „normal“ angesehen werden. Auch heute hat die Frau in Indien, vor allem in ärmlicheren Verhältnissen, keinen Wert, kein Mitspracherecht und wird auch dementsprechend behandelt.

Die Philosophin Simone de Beauvoir sagt in ihrem Buch Das Andere Geschlecht: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, sondern wird es.“ Nicht die Biologie gibt Frauen (und Männern) ihren Lebensweg vor. Die Gesellschaft tut es. Ein Mensch wird durch die Gesellschaft, in der er lebt, geprägt. Zum einen ist es die Familie, die von klein auf gewisse Vorstellungen und Werte vermittelt, auf der anderen Seite das schulische-, berufliche- und soziale Umfeld, das einen Menschen zu dem macht, was er ist. Genauso geschieht es auch mit Frauen. Vor allem in konservativen Familien gibt es die Vorstellung, dass Mädchen bzw. Frauen keine Bildung genießen sollten Dies sei „unnötig“, weil sie früher oder später eh heiraten und eine Familie gründen würden. Deshalb würden sie sowieso nie arbeiten und eine Karriere haben können.

Dies führt dazu, dass sich viele Frauen kein anderes Leben vorstellen können und sich alles gefallen lassen. Sie kennen es nicht anders, weil es ihnen von ihren Müttern so vorgelebt wurde. Sehr viele Frauen leben in dauerhafter Abhängigkeit ihrer Männer und denken, nicht ohne diese leben zu können.

Zum einen sind sie wirtschaftlich von ihren Ehemännern abhängig, zum anderen ist es der gesellschaftliche Druck, der den Frauen keine andere Wahl lässt, als zu schweigen. Frauen, die von ihren Männern getrennt leben, werden oftmals belästigt und können kein sicheres Leben führen, da es in vielen Ländern auch keine Unterstützung oder Hilfe durch den Staat für Frauen gibt, die unter jeglicher Form von Gewalt leiden.

Auch in der westlichen Welt und in allen gesellschaftlichen Formen kommt es zu Fällen der Unterdrückung, Benachteiligung und Misshandlung von Frauen und Mädchen. Die Denkweise der männlichen, aber auch ein großer Teil der weiblichen Bevölkerung (wie zum Beispiel die Mütter, die ihre Töchter zum Schweigen animieren, da sie sonst einen „schlechten Ruf“ in ihrem Umfeld hätten) muss sich ändern. Frauen, die mit ihrem Leben bzw. ihrer Lebensweise unzufrieden sind, müssen lernen darüber zu reden und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Nur durch eine Veränderung dieser Gedanken, die als Norm in vielen Ländern verankert sind, kann es zu einer Verbesserung und zur Aufklärung dieser Missstände kommen.

Vielleicht zeigt dieses Beispiel des indischen Kastensystems aber auch genau, dass die ungerechte Welt der Frau unauflöslich mit anderen Formen von Ungerechtigkeit verwoben ist und eben auch nur gemeinsam mit diesen Formen von Ungerechtigkeit verbessert werden kann.

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