Was ist „Dem Schicksal Entkommen“?

von Lisa Pilar Eberle

Lisa Eberle
Dem Schicksal Entkommen
4 min readMar 24, 2019

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Dem Schicksal Entkommen ist ein Publikationsprojekt mit Studierenden im Seminar Alte Geschichte an der Eberhard-Karl-Universität Tübingen.

Im Wintersemester 2017/18 unterrichtete ich eine Übung, die sich mit der Rezeption antiker Texte in feministischer Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts beschäftigte. Ziel der Veranstaltung war es zu verstehen, wie die verschiedenen modernen Autor’innen, u.a. Christine Brückner, Ali Smith und Elene Ferrante, mit den antiken Texten umgingen und was der Bezug auf die Antike zu ihren eigenen Vorhaben beisteuerte. Dazu setzten wir uns auch mit den jeweiligen feministischen Bewegungen und Theorien auseinander, welche die Werke der modernen Autor’innen prägen, vom italienischen Differenzfeminismus bis hin zu Judith Butlers Gendertheorie.

Die Veranstaltung war als eine Übung zur Antikenrezeption konzipiert, wie sie in vielen Seminaren für Alte Geschichte in Deutschland angeboten wird. Der Fokus auf feministische Texte bot sich unter anderem deshalb an, weil nicht nur die Übersetzung der ersten drei Bände von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga sondern auch das entsprechende „Ferrante-Fieber“ im Jahr 2017 nach Deutschland gekommen war. Für Althistoriker‘innen ist das besonders spannend, lassen sich die Referenzen auf Vergils Aeneis, die sich durch die Bücher und Leben der beiden Protagonistinnen von Ferrantes Werk ziehen, doch nicht überlesen.

Bald jedoch wurde klar, dass diese keine normale Übung war. Ein Kollege, dessen Büro eine Wand mit dem Seminarraum teilte, in dem die Veranstaltung stattfand, fragte mich in der Mitte des Semesters, was ich mit meinen Studierenden am Donnerstagnachmittag denn so machen würde. Es würde ja immer hoch her gehen. In der Tat. Die Studierenden hatten viel zu sagen: über die antiken Texte, die wir analysierten, über deren moderne Rezeption in den Romanen, die wir lasen, und über die verschiedenen feministischen Theorien, die wir anhand dieser Bücher diskutierten.

Zum einen war dieses Engagement der Studierenden der Aktualität der Thematik geschuldet. Der Grundsatz „Nein heißt Nein“ war gerade als Paragraph 177 in das deutsche Strafgesetzbuch integriert worden und von den USA ausgehend hatte #MeToo auch begonnen in Deutschland und Europa hitzige Debatten auszulösen. Gleichzeitig wurde auch schnell klar, dass hier Probleme wie Genderidentität und Rollenbilder angesprochen wurden, die viele der Studierenden in ihren eigenen Leben beschäftigten. In der Auseinandersetzung mit antiken und modernen Texten formulierten viele der Studierenden ihre Annahmen und Meinungen zu diesen Themen neu.

Um diesen außergewöhnlichen Umständen Rechnung zu tragen, entschieden wir uns die Essays, welche die Studierenden als Teil der Übung verfassten, zu veröffentlichen. Dem Schicksal Entkommen ist die Publikation dieser Texte.

Der Titel der Publikation ist einem antiken Text, Vergils Aeneis, entliehen. Auf seinen Irrfahrten von Troja nach Italien, wo das Schicksal Aeneas die Gründung Roms vorbestimmt hat, stranden er und seine Gefährten auch in Nordafrika, in Karthago, einer Stadt, die von einer Frau, von Dido, beherrscht wird. Zwischen Dido und Aeneas entwickelt sich rasch eine Liebesbeziehung, die jedoch zu einem abrupten Ende kommt, als Aeneas, seinem Schicksal folgend, Nordafrika verlässt um nach Italien zu segeln. Die verlassene Dido verbrennt sich daraufhin selbst.

Selbstmord der Dido auf dem Scheiterhaufen (BUFFdiss, Berlin)

In Vergils Darstellung ist die Geschichte von Dido und Aeneas nicht irgendeine Episode auf Aeneas Weg nach Italien. Vergil widmet ihr ein ganzes Buch, Buch 4, von insgesamt zwölf Büchern. Diese erzählerische Prominenz ist der wichtigen Rolle Karthagos in der Geschichte Roms geschuldet. Karthago war der Gegner, den die Römer am meisten fürchteten. Ihre Furcht war scheinbar so groß, dass Karthago das Ende des dritten und letzten Kriegs zwischen den zwei Städten nicht überlebte. Nach 146 v. Chr. gab es die Stadt in Nordafrika und ihre Bevölkerung nicht mehr.

Obwohl die Beziehung von Dido und Aeneas also zweifellos ein Mittel der Reflexion, Erklärung und Legitimation römischer Geschichte darstellt, lässt sie auch andere Lesarten zu. In der Aeneis werden Dido, ihr Leben und ihre emotionale Verfasstheit unabdingbar von Aeneas Kampf, sein vermeintliches Schicksal zu erfüllen, geprägt. Gleichzeitig beschreibt Vergil ihren Selbstmord als etwas, das ohne Schicksal (nec fato, 4.696), ohne Vorsehung geschah. Die Frau, deren Leben davon gezeichnet war, Kollateralschaden im Schicksal eines anderen Menschen, eines Mannes, zu sein, beendet also ihr Leben in einem Moment absoluter Selbstbestimmung.

Inwiefern Selbstbestimmung für Frauen und Männer erstrebenswert ist, was sie verhindert — was denn also heute das Schicksal wäre — und wie man diesem Schicksal vielleicht doch entkommen kann, sind Fragen, die sich wie ein roter Faden durch die hier veröffentlichten Essays ziehen.

Zum Schluss möchte ich mich bei den Teilnehmer’innen der Übung und bei Lukas Weber, der die Publikation der Texte klug und hilfreich begleitet hat, von ganzem Herzen bedanken. Auch ich habe viele meiner Meinungen und Annahmen im Kontext der Veranstaltung und dieser Publikation neu formuliert.

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