Was Sie über COVID-19-Daten wissen sollten

Um uns besser schützen zu können, ist es essentiell, die Mängel in einigen berichteten COVID-19-Daten und die Gründe dafür zu verstehen.

Antje Lehmann-Benz
COVID-19 DATA
18 min readApr 5, 2020

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Hinweis: Dies ist eine Übersetzung des englischsprachigen Artikels “What you should know about COVID-19 data” von Deniz Altınbüken. Bei den verwendeten Links wurden einige durch ähnliche, deutschsprachige Quellen ersetzt. Solche konnten jedoch nicht für alle Links gefunden werden.

Seit Ende Februar sehe ich mir Diagramme an, um die Krankheit COVID-19, verursacht durch das neue Coronavirus namens SARS-CoV-2, besser zu verstehen. Sie tun sicherlich das Gleiche. Die rasche Ausbreitung von SARS-CoV-2 macht die Datensammlung zu einer sehr anspruchsvollen Aufgabe, was wiederum zu spärlichen und unvollständigen Daten führt. Wenn wir nicht aufpassen, können unsere Schlussfolgerungen daraus komplett falsch sein. Leider basiert eine beträchtliche Anzahl von Nachrichten auf falschen Informationen: Weil sie Details übersehen, wie die verwendeten Daten gesammelt wurden und was sie bedeuten. Dies trägt zu der großen Unsicherheit bei, mit der wir während dieser sich schnell entwickelnden Pandemie umgehen müssen.

Um uns vor falschen Informationen zu schützen, sollten wir die Unzulänglichkeiten der uns verfügbaren Daten verstehen. So können wir uns auf die wirklichen Probleme konzentrieren, statt auf die falschen. Darüber hinaus sollten wir noch verstehen, warum und wie eine Behauptung durch Zahlen untermauert werden und dennoch falsch sein kann.

VORHANDENE DATEN

Im Dezember begann sich SARS-CoV-2 unter den Menschen in China auszubreiten. China meldete die durch SARS-CoV-2 verursachte COVID-19-Krankheit am 31. Dezember 2019 als Lungenentzündung unbekannter Ursache an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Somit bezieht sich der erste veröffentlichte Eintrag in diesem Kontext mit 548 Fällen und 17 Todesfällen auf China. China stellte diesen ersten Dateneintrag am 22. Januar 2020 zur Verfügung.

COVID-19-Datensammlung des Robert-Koch-Instituts.
COVID-19-Datensammlung des Robert-Koch-Instituts. Quelle: RKI

Zurzeit findet man online Hunderte, vielleicht Tausende von Grafiken und interaktiven Karten zur Verbreitung von COVID-19. Die meisten davon stützen sich, wie auch die oben genannte, auf öffentlich verfügbare Daten. Einige Institutionen, darunter einige der im Folgenden aufgeführten, pflegen diese anhand von Ankündigungen von Regierungen und Behörden:

Auch wenn alle Zeitungsartikel, Blogartikel und wissenschaftlichen Arbeiten den gleichen zugrunde liegenden Datensatz verwenden, kommen sie manchmal zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Um den Grund dafür zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, wie die Daten zu COVID-19 gesammelt werden.

DATENERHEBUNG

Um zu verstehen, wie sich COVID-19 verbreitet, sammeln und kommunizieren offizielle Behörden die folgenden Faktoren: Anzahl der Tests, Anzahl der Fälle, Anzahl der Todesfälle, Anzahl der Patienten in kritischem Zustand und Anzahl der Genesungen. Um diese Zahlen zu verstehen, müssen wir uns ansehen, wie sie erhoben werden.

Die Anzahl der Tests: Die Anzahl der Tests für einen bestimmten Tag bezieht sich auf die Anzahl der Tests, die an diesem Tag fertig bearbeitet wurden. Für ein bestimmtes Land wird diese Zahl dadurch bestimmt, wie schnell die Tests produziert und verarbeitet werden. Wenn die Geschwindigkeit der Testproduktion und -verarbeitung zunimmt, steigt folglich auch die Anzahl der Tests pro Tag. Einige Länder haben die Tests sehr schnell hochgefahren. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels scheinen andere Länder die Testkapazitäten langsamer zu erhöhen. Darüber hinaus sind in den meisten öffentlich kommunizierten Tabellen keine Testdaten enthalten. Das macht es schwieriger, die im Folgenden aufgeführten Zahlen richtig einzuordnen.

Die Anzahl der Krankheitsfälle: Die Anzahl der Fälle für einen bestimmten Tag wird durch die Anzahl der positiven Testergebnisse bestimmt, die an diesem Tag gesammelt wurden. Eine mit COVID-19 infizierte Person wird nur dann in die Fallzählung aufgenommen, wenn sie getestet wird und ein positives Ergebnis erhält. Da nur eine begrenzte Anzahl von Tests zur Verfügung steht und die Bearbeitungszeiten lang sein können, sind nicht für jede Person Tests verfügbar. In den USA werden zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels nur Personen mit hohem Risiko und Symptomen getestet. Folglich beinhalten die offiziell kommunizierten Fallzahlen viele der an COVID-19 erkrankten Personen (vor allem diejenigen, die mildere oder keine Symptome haben) nicht. Die genaue Höhe dieser Dunkelziffer und somit ihr Anteil an der Gesamtzahl ist noch nicht bekannt.

Die Anzahl der Todesfälle: Die Anzahl der Todesfälle an einem bestimmten Tag bezieht sich auf die Anzahl der Patienten, die an diesem Tag verstorben sind und die zuvor ein positives Testergebnis erhalten haben. Wenn sich eine Person mit COVID-19 infiziert hat und vor dem Test verstorben ist, wird sie möglicherweise nicht zur Anzahl der Todesfälle gezählt. In Fällen, wo eine Person nicht getestet wurde oder ihr Test noch ausstand, kann dies auch Post-Mortem stattfinden. Wenn ein Krankenhaus die vorhandenen Mittel einteilen und für andere Patienten einsetzen muss, kann es sein, dass für einige Todesfälle keine Post-Mortem-Tests stattfinden. Auch wenn dies einige tatsächliche Todesfälle von der Gesamtzahl ausschließen würde, wäre dies immer noch eine vernünftige Entscheidung, sobald Leben auf dem Spiel stehen. Es ist auch wichtig, den umgekehrten Fall einer Person zu berücksichtigen, die positiv getestet wurde, aber aus anderen Gründen verstorben ist. Wir wissen nicht, ob die kommunizierten Zahlen zu Todesfällen diese seltenen Fälle einschließen.

Die Zahl der Patienten in kritischem Zustand: Diese Zahl gibt an, wie viele Patienten mit einem positiven Testergebnis an einem bestimmten Tag kritische Symptome aufweisen. Wenn eine Person in kritischem Zustand ist, aber nicht getestet wurde, wird sie wahrscheinlich nicht in diese Zählung einbezogen.

Die Anzahl der Genesungen: Die Anzahl der Genesungen bezieht sich auf die Patienten, deren COVID-19-Test negativ war, nachdem sie zuvor eine positive Diagnose erhalten hatten. Die COVID-19-Tests weisen entweder die SARS-CoV-2-Gene oder die Antikörper nach, die unser Immunsystem zur Bekämpfung des Virus produziert. Bestehende COVID-19-Tests sind nicht 100% genau und können falsche Ergebnisse liefern. Um dem entgegenzuwirken, entlassen viele Krankenhäuser ihre Patienten erst, nachdem sie ein paar aufeinander folgende negative Testergebnisse erhalten haben. Wenn Krankenhäuser nur über geringe Ressourcen verfügen, können sie Patienten mit weniger negativen Testergebnissen entlassen. Nebenbei bemerkt weisen Experten auf diese falsch-negativen Testergebnisse als Grund für gemeldete Neuinfektionen hin.

Statistik aus dem täglichen Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 5. April 2020.
Statistik aus dem täglichen Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 5. April 2020. Quelle: RKI

Wenn Sie sich also eine Statistik wie diese anschauen und die Zählungen sehen, sollten Sie sie wie folgt lesen:

“Von allen COVID-19-Tests, die heute in Deutschland abschließend bearbeitet wurden, haben 5.936 positive Ergebnisse geliefert. Von allen COVID-19-Tests, die in Deutschland vorgenommen wurden, hatten 91.714 positive Ergebnisse. 1.342 der Patienten, die in Deutschland positiv getestet wurden, sind gestorben, was zu einer Sterblichkeitsrate für COVID-19 von 1.5% in Deutschland führt (1.342*100/91.714).184 Patienten, die zuvor positiv auf COVID-19 getestet wurden, sind heute verstorben. Etwa 28.700 Menschen konnten von der Erkankung wieder genesen.”

ZEITSPANNE DER DATEN

Ist Ihnen bei den Zahlen etwas aufgefallen? Wenn wir über Fälle und Todesfälle an einem bestimmten Tag sprechen, beziehen wir uns auf Ereignisse, die in der Vergangenheit stattgefunden haben:

  • Die am 5. April bekannt gegebenen positiven Testergebnisse beziehen sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf Menschen, die vor ein paar Tagen erste Symptome hatten. Wenn man bedenkt, wie lange es im Durchschnitt dauert, bis die Menschen COVID-19-Symptome zeigen (der Durchschnitt wird auf 5,1 Tage geschätzt, und 97,5% derjenigen, die Symptome entwickeln, tun dies innerhalb von 11,5 Tagen), haben sich diese Menschen wahrscheinlich innerhalb der letzten zwei Wochen mit dem Virus infiziert.
  • Die am 5. April verstorbenen Patienten beziehen sich auf Menschen, die zuvor positiv getestet wurden. Da nicht veröffentlicht wird, wie viele Tage sie gegen COVID-19 kämpften, wissen wir nicht, wann sie sich infiziert haben und wann sie als offizieller Fall gezählt wurden.

Kurz gesagt: Zahlen, die als zum selben Tag gehörend bekannt gegeben werden, beziehen sich nicht auf Ereignisse (wie die Ansteckung mit dem Virus), die am selben Tag stattfanden. Dies kann insbesondere zu einer falschen Todesrate führen: Bei der Berechnung der Sterblichkeitsrate könnten alle bis zu diesem Tag verfügbaren Daten verwendet werden. Dazu gehören sowohl Fälle, die zu Todesfällen oder Genesungen führten, als auch laufende Fälle. Diese Diskrepanz in der Zeitachse, kombiniert mit der Unterschiedlichkeit der Tests, macht die Todesrate zu einer sehr schwer zu berechnenden Metrik.

UNTERSCHIEDLICHE LÄNDER

Seit Beginn der COVID-19-Pandemie hatte jedes Land auf dieser Erde Angst davor, den ersten Fall innerhalb seiner Grenzen zu entdecken. Als dieser Artikel entstand, haben die meisten Länder der Erde COVID-19-Fälle bekanntgegeben. Jedes Land hat jedoch unterschiedliche Infektions- und Todesraten gemeldet.

Diese Unterschiede in den Infektions- und Todesraten könnten auf geografische, sozioökonomische und politische Unterschiede zwischen den Ländern zurückgehen. So breitet sich SARS-CoV-2 in dicht besiedelten Gebieten schneller aus. Wenn ein Land schnell schwierige Entscheidungen trifft, um Kontaktsperren und Reisebeschränkungen durchzusetzen, kann die Ausbreitung des Virus daher auch schnell verlangsamt werden.

Um Schlüsse über die Wirksamkeit und Notwendigkeit dieser Maßnahmen für ein Land ziehen zu können, ist es entscheidend, bei der Analyse von Daten aus verschiedenen Ländern die folgenden Punkte zu berücksichtigen:

Die Anzahl der Tests: Wie bereits erwähnt, wirkt sich die Anzahl der durchgeführten Tests direkt auf die Anzahl der gefundenen Fälle aus. Wenn mehr Tests zur Verfügung stehen, werden auch mehr Fälle mit leichten Symptomen hinzugezählt, die nicht mit dem Tod enden. Wenn ein Land mehr Einwohner testet und mehr Fälle findet, kann die Sterblichkeitsrate für dieses Land folglich sinken. Diese These wird unterstützt durch die bekanntgegebenen Todesraten aus Ländern wie Deutschland und Südkorea, in denen Tests weiter verbreitet sind als in anderen Ländern.

Bevölkerung: Die angekündigten Zahlen werden als Fall- und Sterbezahlen für ein bestimmtes Land angegeben. Die Länder haben jedoch drastisch unterschiedliche Bevölkerungszahlen. Um dies zu unterstreichen: Wuhan ist eine Stadt in China mit einer Bevölkerung von 11 Millionen Menschen. Sie liegt in der Provinz Hubei mit 60 Millionen Einwohnern. Zum Vergleich: Das ist größer als England (55 Millionen) und etwas kleiner als Frankreich (67 Millionen). Auf der anderen Seite hat die Schweiz eine Bevölkerung von 8 Millionen Menschen, genau wie New York City. Angesichts dieser Unterschiede in der Bevölkerung entspricht ein Vergleich der Gesamtzahl der Fälle zwischen den Ländern nicht der Realität. Ein genaueres Bild ergibt sich, wenn man die Zahl der Fälle pro 1 Million Menschen betrachtet. Als dieser Artikel entstand, betrug die Zahl der Fälle pro 1 Million Menschen 937 in den USA, 2061 in Italien und 2699 in Spanien. Diese Zahl hilft uns zwar, die Vergangenheit zu verstehen. Aber wenn wir die Zukunft abschätzen wollen, ist die Wachstumsrate der Fälle und Todesfälle eine bessere Metrik. Dabei ist wichtig, dass die Wachstumsrate ebenfalls von vielen Faktoren beeinflusst wird, wie z.B. der sozialen Distanz und der Bevölkerungsdichte.

COVID-19 Inkubationszeit: Neuesten Studien zufolge entwickeln 97,5% der Personen mit COVID-19-Symptomen diese innerhalb von 11,5 Tagen. Erst dann werden sie vermutlich getestet und als Fall gezählt. Die tatsächlichen Auswirkungen von Maßnahmen wie z.B. „Lockdowns“ (Abriegelung von Gebäuden oder Regionen) beginnen sich also etwa zwei Wochen nach ihrer Durchsetzung zu zeigen. Solche Verzögerungen wurden in China, Italien und Kalifornien beobachtet: Etwa zwei Wochen nach der Einführung der Sperren begann sich die Wachstumsrate der Fälle und Todesfälle zu verlangsamen. Bei der Bewertung der Wirksamkeit der Maßnahmen muss diese Verzögerung also unbedingt berücksichtigt werden.

Kapazität des Gesundheitssystems: In schweren Fällen führt COVID-19 zu einer Schädigung des Lungengewebes, was Patienten das Atmen erschwert. Darüber hinaus infiziert SARS-CoV-2 unsere eigenen Immunzellen, wodurch sie unser gesundes Gewebe angreifen. Daher müssen Patienten, deren Körper diese Symptome nicht mehr gut abwehrt, auf die Intensivstation eingewiesen werden. Dort brauchen sie ein Bett und in den meisten Fällen ein Beatmungsgerät. Wenn sich ein Ausbruch zu schnell entwickelt, könnten zu viele Patienten gleichzeitig solche Mittel benötigen, und die Kapazitäten der Krankenhäuser werden überlastet. Um dies mit den Zahlen aus New York zu belegen, die beim Verfassen dieses Artikels vorlagen: Man konnte lesen, dass der Staat New York 2.200 Beatmungsgeräte vorrätig hatte. Täglich wurden 350 neue Patienten zur Intensivpflege aufgenommen, und diese benötigten Beatmungsgeräte. Wenn sich die Fallzahlen konstant so weiterentwickeln, heißt das, dass alle Beatmungsgeräte innerhalb etwa einer Woche in Betrieb genommen werden müssten. Wenn die Patienten länger als eine Woche an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden müssen, stünden für neue Patienten keine Beatmungsgeräte zur Verfügung. In einer Situation wie dieser verursacht die fehlende Kapazität in den Krankenhäusern Todesfälle, die sonst vielleicht nicht eingetreten wären, was die Sterblichkeitsrate für das Land de facto erhöht.

Altersverteilung und Gesundheit: Schließlich deuten die vorhandenen Daten darauf hin, dass COVID-19 für ältere Menschen tödlicher ist. Dafür könnte es mehrere Gründe geben: Erstens könnte der Körper älterer Menschen den durch COVID-19 verursachten körperlichen Belastungen schlechter standhalten. Zweitens, wenn Krankenhäuser überlastet sind und Beatmungsgeräte knapp werden, werden jüngere Patienten oft bevorzugt behandelt, was die Sterblichkeitsrate bei älteren Patienten erhöht. Folglich kann sich die Demographie eines Landes auf die Sterblichkeitsrate dort auswirken. Außerdem können bei jüngeren Menschen viele Faktoren den Ausgang von COVID-19 für sie bestimmen: Etwa die Anzahl der Viren, die sie sich zugezogen haben, ihr allgemeiner Gesundheitszustand und ihre genetischen Vorbedingungen. Im Moment wissen wir nicht genug, um die Bedeutung dieser Faktoren zu verstehen. Wenn also jüngere Menschen in einem Land aufgrund uns unbekannter Faktoren anfälliger sind, wäre dies nicht durch die Zahlen anderer Länder gestützt.

Wenn Sie die Daten aus verschiedenen Ländern analysieren und versuchen, eine Schlussfolgerung über den Stand der Dinge in Ihrer eigenen Region zu ziehen, ist es sehr wichtig, solche Details im Auge zu behalten.

GENETISCHE DATEN

SARS-CoV-2 breitet sich weiterhin rasch auf der ganzen Welt aus. Als dieser Artikel entstand, lag die Zahl der Fälle bei über 1 Million. In Labors auf der ganzen Welt werden genetische Daten über SARS-CoV-2 gesammelt, und es gibt öffentlich zugängliche Datensätze und Grafiken, mit deren Hilfe Menschen diese analysieren können. Ähnlich wie bei den Zahlen, die über die Verbreitung von COVID-19 gesammelt wurden, ist es sehr wichtig, auch die genetischen Daten zu verstehen, bevor man Schlussfolgerungen zieht.

Als Beispiel: Es gibt Daten, die zeigen, dass SARS-CoV-2 während seiner Ausbreitung genetische Mutationen durchläuft. Einige Artikel legen nahe, dass diese Mutationen die Übertragbarkeit und Tödlichkeit des Virus verändern können. Außerdem könnten sie die gegen das Virus gewonnene Immunität unbrauchbar machen. Die Karte unten zeigt die Reise von SARS-CoV-2 anhand von Proben aus der ganzen Welt.

Weltkarte, die die Übertragung von SARS-CoV-2 visualisiert.
Weltkarte, die die Übertragung von SARS-CoV-2 visualisiert. Quelle: Nextstrain

Bevor man daraus Schlüsse zieht und wegen einer Karte Angst bekommt, ist es wichtig, die Details zu kennen. Genetische Daten über SARS-CoV-2 werden durch die Sequenzierung der genetischen Codes der Viren erstellt, die von Individuen entnommen werden. Das RNA-Molekül in SARS-CoV-2 trägt das virale Genom, mit dem es sich vermehrt. Das RNA-Molekül ist von einer von einer Lipidmembran bedeckten nukleokapsidischen Proteinschicht umgeben, die wiederum mit Spike-Proteinen besetzt ist (deshalb schützt uns das Waschen der Hände mit Seife vor COVID-19: Die Seife bricht die Lipidmembran auseinander und zerstört das Virus). SARS-CoV-2 verwendet diese Spike-Proteine, um sich an Epithelzellen in unserer Lunge zu binden, sie zu infizieren und sie zu benutzen, um sich selbst zu kopieren.

Struktur von SARS-CoV-2.
Struktur von SARS-CoV-2. Quelle: Economist; Illustrator: Manuel Bortoletti

Ein Mensch wird immun gegen SARS-CoV-2, wenn die von seinem Immunsystem produzierten Antikörper lernen, sich an die Spike-Proteine des Virus zu binden. Wenn die Spike-Proteine von Antikörpern bedeckt werden, kann das Virus die Lungenzellen nicht infizieren und sich selbst kopieren. Um der Immunität also zu entgehen, müsste SARS-CoV-2 so mutieren, dass seine Spike-Proteine verändert werden. Ist dies möglich? Um das zu ergründen, müssen wir verstehen, wie Viren mutieren.

Grob zusammengefasst: Sobald ein Virus eine Zelle infiziert, beginnt es, Virusteile zu replizieren, indem es die Zelle als Fabrik benutzt. Die Vorlagen für seine Teile sind in der RNA kodiert, die es trägt. Der Replikationsprozess ist fehleranfällig, insbesondere wenn RNA verwendet wird. Diese zufälligen Fehler, die während der Replikation auftreten, können sich auf die Struktur oder Funktion eines neu geschaffenen Virus teilweise oder gar nicht auswirken. Wenn sie sich jedoch auswirken, kann das für das Virus negativ oder positiv sein. Einige Fehler können seine Struktur oder Funktion verändern, wodurch das neue Virus entweder an einer weiteren Verbreitung gehindert wird (positiv für die Menschen) oder ihm geholfen wird, der Immunität zu entkommen (negativ für die Menschen). Da diese Fehler zufällig auftreten, ist es aber immer noch wahrscheinlicher, dass sich ein bestimmter Fehler gar nicht stark verändernd auswirkt.

Diese Informationen enthalten noch längst nicht alles, was wir über Viren wissen oder lernen können. Wenn wir uns darüber bewusst sind, sieht die obige Weltkarte aber schon weniger beängstigend aus. In der Karte sind verschiedene Proben von SARS-CoV-2 als markante Linien dargestellt. Die ausgeprägten Linien deuten jedoch auf keinen Unterschied in der Struktur oder im Verhalten von SARS-CoV-2 in diesen Proben hin. In der Originalversion des untenstehenden Diagramms, das die gleichen Daten verwendet, können Sie sogar mit der Maus über die Punkte fahren und sehen, ob verschiedene Proben irgendwelche Nukleotidmutationen aufweisen.

Visualisierung verschiedener SARS-CoV-2-Proben.
Visualisierung verschiedener SARS-CoV-2-Proben. Quelle: Nextstrain.

Zurück zu der Frage, ob SARS-CoV-2 mutieren kann, um der Immunität zu entgehen oder tödlicher zu werden: Die Antwort scheint ja zu sein. Solche Mutationen sind möglich. Die farbigen Diagramme implizieren jedoch nicht, dass das bereits geschehen ist. Es ist wichtig zu verstehen, wie wahrscheinlich so etwas ist, da diese Fähigkeit von Virus zu Virus verschieden ist. Es deutet sogar vieles darauf hin, dass SARS-CoV-2 sehr schlecht darin sein könnte, sein Spike-Protein zu mutieren. Um endgültige Antworten zu erhalten, müssen wir auf neue Forschungsergebnisse warten. Und dafür brauchen wir mehr Zeit.

FORSCHUNG UND ZEIT

Der Ausbruch von COVID-19 ist eine sich schnell entwickelnde, komplizierte und beispiellose Situation. Um komplexe Situationen wie diese Pandemie vernünftig beurteilen zu können, sind wir auf wissenschaftliche Forschung angewiesen. In allen Bereichen, die für COVID-19 relevant sind, wie Mathematik, Statistik, Wirtschaft, Datenwissenschaft, maschinelles Lernen, Biologie, Genetik, Virologie, Chemie und Medizin, nutzen Experten wissenschaftlichen Methoden, um Antworten auf unbekannte Fragen zu finden. Wenn beispielsweise ein Virologie-Forschungsteam die Antwort auf eine Frage finden will (“Wie wird SARS-CoV-2 durch die Temperatur beeinflusst?”), führen sie in ihrem Labor Hunderte von Experimenten durch und halten die Ergebnisse schriftlich fest. Viele Experimente werden zehn- oder sogar hundertmal wiederholt, und zwar mit unterschiedlichen Parametern, um das Vertrauen in die gesammelten Daten zu erhöhen. Am Ende schreiben die Forscher einen Artikel, in dem sie die von ihnen verwendeten Techniken, die gesammelten Daten und die Schlussfolgerungen, die sie aus ihren Daten abgeleitet haben, beschreiben. Bevor der Artikel veröffentlicht werden kann, wird er von anderen Experten auf dem Gebiet überprüft, die untersuchen, ob die Forscher die richtigen Techniken verwendet, die Experimente korrekt durchgeführt und die Daten richtig interpretiert haben. Wenn der Artikel dann genehmigt wird, wird er veröffentlicht und damit Teil des öffentlichen Wissens.

Da wir COVID-19 schnell verstehen und bekämpfen müssen, schreitet die Forschung, die die Ausbreitung von COVID-19 untersucht und SARS-CoV-2 untersucht, schneller als üblich voran. Diese Geschwindigkeit hat Vor- und Nachteile.

Forschung, die schnell durchgeführt und veröffentlicht wird, hilft uns, den Ausbruch von COVID-19 unter Kontrolle zu bringen. Es gibt einige beeindruckende Beispiele dafür, wie eine agile (flexible und schnell reagierende) Forschung helfen kann. Schnell entwickelte SARS-CoV-2-Tests haben uns geholfen, Fälle zu identifizieren und zu isolieren. Modelle zur Vorhersage der Auswirkungen von sozialen Distanzierungsmaßnahmen halfen bei der Verlangsamung der Ausbreitung. Neue Behandlungsmethoden helfen, die Symptome für die Patienten zu lindern. Und die rasche Erforschung von Impfstoffen gibt uns Hoffnung auf die Ausrottung von COVID-19.

Andererseits können Artikel, die schnell und ohne Überprüfung durch andere Experten veröffentlicht werden, Fehler enthalten. Forschung, die sich normalerweise auf Daten aus Hunderten von Experimenten stützt, kann nun nur Daten aus weniger Experimenten verwenden. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Schlussfolgerungen falsch sind. Es ist deshalb sehr wichtig, solche Artikel weiterhin zu hinterfragen und zu überprüfen, nachdem sie Teil des öffentlichen Wissens geworden sind. Außerdem muss man sich vor Augen zu halten, dass die Experimente unter bestimmten Laborbedingungen durchgeführt werden; daher sind Kontext und Fachwissen erforderlich, um die richtigen Schlussfolgerungen aus Forschungsartikeln zu ziehen. Nachrichtenartikel und andere Inhalte, die ohne die Beratung durch Experten erstellt werden, können zu falschen Schlussfolgerungen führen und die Öffentlichkeit in die Irre führen.

Das beste Beispiel dafür ist ein Artikel, der die Stabilität von SARS-CoV-2 auf verschiedenen Oberflächen untersucht. Die Forscher bewerteten die Oberflächenstabilität von SARS-CoV-2 in Aerosolen und auf verschiedenen Oberflächen. Um die Stabilität in der Luft zu untersuchen, injizieren sie 50 % der infektiösen Dosis von SARS-CoV-2 aus Gewebekulturen (TCID₅₀) in ein Goldberg-Fass, das im Grunde ein geschlossenes 40-Liter-Fass ist. Dann zählen sie die Anzahl der SARS-CoV-2, die noch existenzfähig bleiben.

Lebensfähigkeit von SARS-CoV-1 und SARS-CoV-2 in Aerosolen und auf verschiedenen Oberflächen.
Lebensfähigkeit von SARS-CoV-1 und SARS-CoV-2 in Aerosolen und auf verschiedenen Oberflächen. Quelle: NEJM

In einigen Nachrichtenartikeln wurde berichtet, dass SARS-CoV-2 in der Luft 3 Stunden lang lebensfähig bleibt, wobei dieser Artikel als Quelle dient. Diese Schlussfolgerung ist nicht korrekt. Was wir maximal sagen können nach Betrachtung der Forschung: „In einem geschlossenen 40-Liter-Fass, in das SARS-CoV-2-Aerosol injiziert wurde, sank die Zahl der Viren in den drei Stunden, in denen das Experiment durchgeführt wurde, um das Zehnfache. Die Anzahl der Viren ging nicht auf 0 zurück.“ Ein daraus gezogener Schluss, dass SARS-CoV-2 nach 3 Stunden im Freien lebensfähig bleibt, ist falsch. Um das sagen zu können, müssten wir Experimente im Freien unter verschiedenen Bedingungen durchführen.

Dies bedeutet natürlich nicht, dass der Forschungsartikel falsch oder unbedeutend ist. Im Gegenteil, solche Forschung ist wichtig, um die Stabilität von SARS-CoV-2 auf verschiedenen Oberflächen zu verstehen. Daraus könnten Pläne entstehen, dass man Kupfer häufiger für Oberflächen in Krankenhäusern verwendet. Der springende Punkt ist, dass es wichtig ist, die richtigen Schlussfolgerungen aus den Forschungsartikeln zu ziehen, und dass wir außerdem unsere begrenzte Zeit und Ressourcen auf die richtigen Probleme lenken sollten.

FAZIT

In diesem Artikel haben wir uns damit beschäftigt, welche Mängel in den COVID-19- und SARS-CoV-2-Daten bestehen und worauf wir bei der Untersuchung dieser Daten achten müssen. Für einen korrekten Umgang ist es wichtig zu verstehen, wie die Daten gesammelt werden und auf welchen Zeitrahmen sie sich beziehen. Artikel, die ohne Rücksichtnahme auf Details geschrieben wurden, könnten falsche Schlussfolgerungen enthalten und falsche Informationen in der Öffentlichkeit verbreiten.

Die Schwierigkeiten bei der Verwendung von COVID-19-Daten sollten uns nicht davon abhalten, zu untersuchen, zu analysieren und darüber zu berichten. Es ist wichtig, dass wir weiter forschen, um den Ausbruch unter Kontrolle zu halten, um Behandlungen und Impfstoffe zu entwickeln. Wenn wir die Mängel der COVID-19-Daten und die für die Arbeit mit ihnen erforderlichen Nuancen anerkennen würden, könnten wir unseren Beitrag geschickter leisten.

Was sollten Sie also tun?

Das Beste, was Sie tun können, ist, die Komplexität der Situation zu erkennen, mit der wir es zu tun haben, und die Tatsache, dass wir noch nicht über alle Daten verfügen, um sie zu begründen. Daher kann es für Sie und Ihre Mitmenschen von entscheidender Bedeutung sein, dass Sie auf den Rat von Experten hören, sich auf der sicheren Seite bewegen und manchmal Dinge tun, die Ihnen vielleicht übertrieben erscheinen. Wenn Sie Texte veröffentlichen, wäre es außerdem gut, die Daten und die Schlussfolgerungen, die Sie daraus ziehen, ständig zu hinterfragen. Einige konkrete Vorschläge:

  • Wenn Sie ein Reporter sind und über einen Forschungsartikel berichten möchten, können Sie sich in einem Gespräch mit einem Experten auf diesem Gebiet mehr über den Zusammenhang informieren sowie über die relevanten Details, die Sie hervorheben sollten.
  • Bevor Sie von anderen erstellte Inhalte weitergeben, können Sie prüfen, ob sie durch Rücksprache mit einem Experten erstellt wurden oder ob sie von Experten unterstützt werden.
  • Wenn Sie jünger sind, denken Sie vielleicht, dass COVID-19 für Sie nicht gefährlich ist. Wenn Sie die Unzulänglichkeiten der verfügbaren Daten berücksichtigen, sollten Sie diese Annahme vielleicht überdenken und Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, die Ihnen das Leben retten könnten.
  • SARS-CoV-2 kann auf verschiedenen Oberflächen für eine gewisse Zeit anhalten. Selbst wenn es keine genauen Daten über die Oberflächen gibt, mit denen Sie im täglichen Leben interagieren, ist es ziemlich schlüssig, dass SARS-CoV-2 auf Oberflächen lebensfähig bleibt. Dies ist ein Beispiel für einen Fall, in dem wir nicht die genauesten Daten benötigen. Wir können unser Infektionsrisiko senken, indem wir einfach unsere Hände regelmäßiger mit Seife waschen.

Abschließend möchte ich sagen, dass in diesen beispiellosen und hochkomplexen Zeiten das Infragestellen der Daten, die Sie betrachten, Ihr Leben retten kann. In einer sich schnell entwickelnden Situation, in der es Zeit braucht, ein vollständiges Verständnis zu entwickeln, könnte Vorsicht und Sicherheit die richtige Wahl sein. Seien Sie also vorsichtig, hinterfragen Sie die Dinge, die Sie lesen, stellen Sie Ihre eigenen Gedanken in Frage. Waschen Sie Ihre Hände. Bleiben Sie zu Hause und bleiben Sie sicher.

Weiterverbreitung

Ich habe diesen Artikel geschrieben, um die Datenkompetenz rund um COVID-19 zu verbessern. Neben der Wichtigkeit, auf Experten zu hören, müssen auch wir als Einzelpersonen diese Situation einschätzen können, die unser Leben so stark beeinflusst — um uns selbst zu schützen. Dies kann für viele Menschen Leben oder Tod bedeuten. Wenn Sie dabei helfen wollen, die Informationsqualität bzgl. COVID-19 zu verbreitern, teilen Sie bitte diesen Artikel. Er wurde auch in die folgenden Sprachen übersetzt:

Sie können mich kontaktieren unter contact@denizaltinbuken.com, falls Sie Ihn in eine andere Sprache übersetzen möchten.

Datenquellen

Wenn Sie daran interessiert sind, Daten selbst zu analysieren, können Sie öffentlich zugängliche Daten zur Erstellung Ihrer Grafiken und Modelle verwenden. Dadurch werden Sie sehen, wie schwierig die Verwendung von COVID-19-Daten ist und wie schnell man unleserliche Diagramme wie das untenstehende erstellen kann. Unten finden Sie eine Liste der von mir verwendeten Quellen, die auf GitHub verfügbar sind:

Grafik, die die Anzahl der Fälle für jedes Land der Erde unter Verwendung unstrukturierter Daten zeigt.
Grafik, die die Anzahl der Fälle für jedes Land der Erde unter Verwendung unstrukturierter Daten zeigt. Datenquelle: JHU CSSE¸Grafik von Deniz Altınbüken

Hinweis

Ich bin keine Expertin in Virologie, Medizin, Biologie, Genetik, Wirtschaft, Soziologie, Politik oder Statistik. Ich habe auf dem Gebiet der verteilten Computersysteme promoviert und bin ein Experte für Aufbau, Verständnis, Vereinfachung und Verbesserung komplexer Systeme durch Kodierung, Datenanalyse und Tests. Ich forsche seit vielen Jahren, arbeite mit maschinellem Lernen und Datenanalyse. Dieser Artikel wurde nicht geschrieben, um eine bestimmte Person oder Institution zu kritisieren. Er soll objektiv sein und die Komplexität des Systems, mit dem wir es zu tun haben, sowie die Nuancen der verfügbaren Daten unterstreichen. Er wurde unter Verwendung von Daten und Quellen verfasst, die am 4. April 2020 verfügbar waren. Wenn Sie einen Fehler finden, können Sie mir eine E-Mail an contact@denizaltinbuken.com schicken.

Quellen

Der Inhalt dieses Artikels stützt sich auf Hunderte von Artikeln, die ich in den vergangenen Monaten gelesen habe. Zudem auf die öffentlich verfügbaren Daten, die ich viele Stunden lang analysiert habe. Hier sind die Quellen aufgezählt, an deren Lektüre ich mich erinnere — ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

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Antje Lehmann-Benz
COVID-19 DATA

Project management trainer, but interested in so many things!