Über Vielfalt bei der re:publica

Johnny Haeusler
6 min readMay 18, 2015
Foto Credit: re:publica/Jan Zappner

Dieser Artikel erschien zuerst in meinem Blog Spreeblick.

Von außen betrachtet muss die re:publica wie ein Hippiefestival wirken. Glückselige Tweets voller Herzchen berichten vom Event, Selfies von breit grinsenden Menschen füllen die Timelines, und ich habe vollstes Verständnis dafür, wenn manchen Anderen, die nicht in Berlin dabei sein wollten oder konnten, etwas übel wird in Anbetracht solcher Dauereinigkeit, die doch gar nicht wahr sein kann.

Und so ist es auch gar nicht der Irrglaube, dass alle Anwesenden einer Meinung seien oder sich das bedingungslose Grundliebhaben durchgesetzt habe, der so viele Gäste der re:publica glücklich strahlen lässt. Sondern es ist die Diversität, die Vielfalt der anwesenden Menschen, die sich trotz ihrer Unterschiede darauf geeinigt haben, drei Tage lang auf Grundlage der Minimalbasis “Ich interessiere mich dafür, was das Internet mit meinem Leben und dem Anderer macht” eine möglichst gute und inspirierende Zeit zu haben.

“So stelle ich mir die Gesellschaft der Zukunft vor”

Drei Tage lang bekommt man eine Ahnung davon, wie unsere Gesellschaft eben auch aussehen könnte. Holm Friebe schrieb in einem bewegenden Facebook-Post: “So stelle ich mir die Gesellschaft der Zukunft vor”. Und Felix Schwenzel attestierte in seinem Vortrag während der rp15: “Wir müssen geschützte Orte schaffen, an denen man sich mit Gleichgesinnten treffen kann und an denen man in Ruhe nachdenken und diskutieren kann. Sowas gibt’s auch in der Fleischwelt: Einer dieser Orte öffnet jedes Jahr für drei Tage seine Türen und heißt re:publica.”

Und ich könnte als Mitverantwortlicher der re:publica nicht glücklicher sein über diese und andere lobende Worte unserer Gäste.

Man kann man sich auf der re:publica wenigstens einmal einbilden, wir würden alle miteinander auskommen, nett zueinander sein, uns gegenseitig respektieren oder auch nur in Ruhe lassen. Und wenn das nach Hippiescheiße klingt, dann soll es halt so sein. Bei der Menge an Hate & War auf der Welt kann ein bisschen Love & Peace nicht schaden.

Selbstverständlich ist ein dreitägiges Festival, ein Kongress, eine Konferenz keine wirkliche Alltagssimulation. Und natürlich sind die Gäste der re:publica kein kompletter Querschnitt der Gesellschaft. Dennoch sehe ich auf dem Event in Berlin so viele verschiedene Nationalitäten, so viele Menschen mit körperlichen Einzigartigkeiten, so viele Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer, so viele unterschiedliche Alterklassen wie auf kaum einer anderen Veranstaltung. Auch einen Anteil von 44% weiblicher Gäste bekommen nicht viele Treffen dieser Art hin. Und ja, wir sind stolz auf diese Zahlen und Fakten und erwähnen sie daher immer wieder gerne.

Die Vielfalt der re:publica ist kein Zufall

Denn die Vielfalt der re:publica ist kein Zufall, sondern sie ist vom gesamten Team gewollt und seit 2007 bewusst gefördert worden. Während der Frauenanteil bei den Gästen zwar schon bei der ersten re:publica-Ausgabe relativ hoch war, sah es bei den Vortragenden nämlich noch ganz anders aus. Also sprach unser Team aktiv diejenigen Frauen an, von denen wir wussten, dass sie kluge, interessante und unterhaltsame Dinge zu sagen hatten, und wir luden sie ein, Teil der re:publica zu sein.

Manche von ihnen waren verständlicherweise unsicher, da sie zuvor noch nicht auf Bühnen gestanden hatten, noch nie einen Vortrag gehalten hatten. Da es aber gerade bei den ersten Ausgaben der rp vielen Menschen ganz genauso ging, trauten sich andere Newbies auch und stellten fest, dass das Publikum großherzig genug war, auch Patzer zu verzeihen. Und so setzte während der ersten Versionen der re:publica nicht nur, aber eben auch unter den weiblichen Vortragenden eine gewisse Sogwirkung ein: Wenn die oder der das kann, dann kann ich das auch! Und dieser schöne Effekt ermutigte auch die Pionierinnen, weiterzumachen, auch auf anderen Veranstaltungen aufzutreten oder sogar eigene auf die Beine zu stellen. Und wer heute Sprecherinnen für eine Veranstaltung sucht, sollte mal einen Blick auf speakerinnen.org werfen.

Ebenso versuchten wir dafür zu sorgen, dass auch Diskussionspanels paritätisch besetzt sind. Wenn uns beim Call for Papers eine Debattenrunde voller Männer angeboten wurde, baten wir die Einreichenden um mehr Frauen auf der Bühne. Und wenn es dann hieß, “Wir finden zu dem Thema keine Expertinnen”, dann half das Programm-Team bei der Suche und wurde natürlich oft fündig.

So konnten das Programm-Team und die Gäste der re:publica in den vielen folgenden Jahren beweisen: Die oft gehörte Aussage “Es gibt nicht genug Frauen, die etwas zu dem Thema beitragen können” ist Bullshit. Was wiederum zur Folge hatte, dass auch der Anteil der nicht selbst vortragenden Besucherinnen der re:publica relativ hoch blieb, denn wenn mehr Frauen auf Bühnen stehen, kommen auch mehr Frauen, die ihnen zuhören.

Man merkt: Wir tun das alles auch aus Eigennutz. Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung ist weiblich. Eine Konferenz, die sich gesellschaftlicher Themen annehmen will, macht sich lächerlich, wenn diese Themen nur oder hauptsächlich von Männern diskutiert werden. Ein Event, auf dem das eben nicht der Fall ist, fühlt sich für alle Beteiligten besser an und zieht daher auch wieder mehr neue Gäste an. Eine klassische Win-Win-Win-Win-Win-Situation, wenn ich richtig mitgezählt habe.

Das gilt auch für Diversität in weiterer Hinsicht, denn seit Beginn der Veranstaltung versuchen wir, die re:publica so barrierefrei wie möglich zu gestalten. Wer als Veranstalterin oder Veranstalter einmal in der verdammt peinlichen Situation war, nicht daran gedacht zu haben, wie der Vortragende mit seinem Rollstuhl auf die Bühne kommt, der macht diesen Fehler kein zweites Mal. Zwar gab es absurderweise in diesem Jahr trotzdem einen Fall, an dem für eine Bühne die Rampe nicht sofort zur Verfügung stand, dennoch sind wir mit der Barrierefreiheit inzwischen ganz gut vorangekommen und lernen jedes Jahr weiter dazu.

Nicht immer war die Umsetzung einfach, aber wir wurden konstant gut beraten — nämlich von den Gästen selbst — und wir wurden von diversen Partnern auch finanziell bei der Umsetzung unserer Ziele unterstützt. Wir lassen einige Vorträge für schwerhörige oder gehörlose Menschen live untertiteln, und wir schaffen Rollstuhlzugang zu fast allen Bereichen, sowohl für die Zuhörerinnen und Zuhörer als auch für Vortragende. Dabei darf u.a. der konstante Einsatz von Raúl Krauthausen nicht unerwähnt bleiben, der mit seinen eigenen Vorträgen und Unternehmungen Inspiration und Motivation für so viele von uns ist und von dem ich viel gelernt habe. Die Tatsache, dass man über eine re:publica schlendert und zum Beispiel Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer eben nicht als außergewöhnliche Gäste, sondern als selbstverständlichen Teil der Veranstaltung wahrnimmt; dass man miteinander plaudert, sich kurz zulächelt oder halt auch ignoriert, weil man sich noch nicht kennt — all das ist neben dem konstanten Einsatz des re:publica-Teams auch Raúls Arbeit und der seiner Kolleginnen und Kollegen zu verdanken.

Gäste aus allen Kontinenten

Ebenfalls mehr Vielfalt bringt, natürlich, ein möglichst internationales Publikum. Auch diesbezüglich ist das Team aktiv, bindet helfende Partner ein, sorgt für mehr Vorträge wenigstens auf Englisch, außerdem haben wir zumindest für manche Bühnen Simultandolmetscherinnen. Die Integration des Global Innovation Network bringt Gäste, Entrepreneure und Expertinnen unter anderem aus Asien, Afrika, Lateinamerika nach Berlin, und in diesem Jahr half uns u.a. die Islamforscherin Riem Spielhaus neben ihrem eigenen Vortrag, indem sie mit Idil Baydar Neuköllner Comedy und mit Betül Ulusoy eine muslimische Bloggerin und Juristin aus Berlin auf der Bühne begrüßte, die spannende, witzige und unglaubliche Geschichten aus ihrem Alltag zu erzählen hatte.

Es war für mich die wichtigste Erkenntnis der diesjährigen re:publica: Dass sich der unermüdliche Einsatz des Teams für eine wirklich vielfältige Veranstaltung sichtbar und spürbar lohnt. Inhaltlich, kulturell und emotional. Wer sich einbildet, eine halbwegs relevante Veranstaltung machen zu können, bei der man nur die Masse berücksichtigt oder bei der man behauptet, das Gros der Experten sei nun einmal männlich; wer wirklich glaubt, man könne politische Themen einseitig diskutieren, der macht einen riesigen Fehler, denn er isoliert sich und sein Vorhaben.

Aber auch, wenn ich hier etwas großkotzig klinge, weiß ich, dass wir noch lange nicht da sind, wo wir hin müssen. Zu einer Gesellschaft nämlich — oder wenigstens zu einer Veranstaltung, welche die Begriffe “Inklusion” und “Integration” nicht mehr nötig hat, weil ein möglichst umfangreiches Miteinander selbstverständlich geworden ist.

Toni Mahoni hat sich einmal in einem Videocast darüber gewundert, warum gesunde und natürlich gewonnene Lebensmittel immer den Zusatz “Bio” tragen. Viel logischer wäre es doch, wenn ohne Gifte hergestelltes Obst und ohne Antibiotika-Futter gewonnenes Fleisch einfach “Obst” und “Fleisch” hießen. Und alles andere hätte dann halt den Zusatz “Unnatürlich erzeugt” oder so. Das würde den täglichen Einkauf durchaus erleichtern.

So stelle ich mir das auch für das Thema der Vielfalt vor. Ich möchte barrierefreie Events mit Gästen unterschiedlichster Herkunft und einem repräsentativen Anteil von Frauen nicht mehr “integrativ” oder “inklusiv” nennen. Sondern alle anderen “ignorant”.

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