Bier: das magische Elixier der Japaner

und wie es Menschen öffnet. Der Aha!-Effekt einer ehemaligen Kaumtrinkerin

Brigitta Buzinszki
5 min readOct 17, 2016
http://de.engadget.com/2015/04/19/japans-collagen-bier

“Rie (so nannte mich mein Gastvater), wie wäre es mit einem Bier?
Schon am Suchen!”, rief ich, meinen Kopf im Kühlschrank. Es stand eine ganze Reihe Dosenbier im mittleren Fach — Suntory, natürlich; mein Gastvater arbeitete mit vollem Einsatz für die Firma, was hieß, dass im Haus jegliche Flüssigkeit den Markennamen trug; Suntory-Saft, Suntory-Wasser — gelegentlich auch Suntory Whisky, für den Suntry eigentlich berühmt geworden war.

Aber am wichtigsten war für uns das Bier. Er und ich, unterhielten uns selten so gut wie mit jeweils ein-zwei Schlucken im System und einem Glas zum Sichdaranfestklammern. Kennengelernt hatten wir uns beim Heimtorkeln nach einer Whisky-Verköstigung — ein Abenteuer, das einen ganz eigenen Artikel verdient; weil mir aber der Whisky auf Dauer — und leidenschaftliche Whiskyliebhaber seien mir an dieser Stelle gnädig — die Kehle abbrannte, blieben wir beim Bier.

Bevor ich meine Gastfamilie kennenlernte

war ich überzeugte Kaumtrinkerin gewesen; nicht, weil mir Bier und Wein je zuwider waren, sondern weil sich das Ziel beim Trinken um mich herum in zwei Extreme teilte— Vollsuff oder gar nichts.
Die Aussicht, durch Alkohol die Kontrolle über mein Umfeld sowie meinem Charakter zu verlieren, machte mir Angst und deswegen dachte ich:
danke, und nein danke!

Dann passierte der Ausflug nach Japan, wo ich zwischen Staunen und Neugier einen Weg fand, Alkohol gezielt einzusetzen. Nicht als den Katalysator, der die innige Liebe zu Kloschüsseln entflammte und meinen Kopf ganz durcheinander brachte, sondern als Schlüssel zu den Personen, die ich kennenlernen wollte.

メンツをうしなう oder auch “losing face”

ist eines der Gründe, warum das Kennenlernen ohne Alkohol äußerst schwierig war. Der Ausdruck bezieht sich auf das Verhalten — vor allem auf das falsche Benehmen und seine Konsequenzen. Das Gesicht ist dabei mit einer kleinen Randbemerkung oder einer falschen Geste schnell verloren; das Zurückgewinnen oft ein Knochenjob.

Für die unter euch, die nichts mit Japan am Hut haben, sei gesagt, dass es irrsinnig viele Wege gibt, Höflichkeit auszudrücken — für unzählbar viele Situationen die passende, eine Art — und genauso viele Fettnäpfchen paaren sich dazu, wenn man sich denn, im Ton vergreift.
Diese Gefahr bürgerte sich in den Charakter der Nation derart ein, dass außerhalb des engen Familienkreises — oder manchmal nicht einmal dort — ein Ablegen dieser distanzierten Höflichkeit schwierig ist.

Deswegen lernt man Phrasen, die man sich vor einem Aufenthalt einhämmert; damit ja keine Familie meint, ein undankbares Ding aufgenommen zu haben, das sich nicht zu benehmen weiß.

— das kann schnell damit enden, dass ihr im inzwischen kalten Badewasser bei jedem Kondenstropfen auf die lauwarmen Fließen eure Situation neu lamentiert; ich weiß, dass ich das gemacht habe. Es war zum Verrücktwerden.

Diese strikten Höflichkeiten

— und die Angst, sie zu vernachlässigen, bauen eine dicke Mauer zwischen dir und die Welt da draußen, über die man mit Smalltalk oft nicht hinwegkommt; es ist für jeden Ausländer eine Erfahrung, die schnell das Gefühl von Einsamkeit vermitteln kann;

auch wenn du nicht alleine bist. Es dauerte lang, meiner Gastmutter dieses Problem zu erklären; sie verstand nicht, was mir denn fehle, schließlich hatte ich Freunde und sie kümmerte sich hervorragend um mich.

Ich war drauf und dran aufzugeben und mich in einen Kokon zu wickeln, um dort die restlichen Monate durchzuschlafen, bis ich wieder nach Deutschland fliegen könnte. Dann jedoch, schlug mein Gastvater vor Trinken zu gehen— und mit einem Mal, löste sich mein Problem in Luft auf.

Bier ist ein Ticket

aus unangenehmen, angespannten Verhältnissen hinaus. Ein Freifahrtsschein Dinge zu sagen oder zu Fragen, die man in nüchternen Gesprächen nie zu Wort bringen würde — in Deutschland nun auch, würde man denken. Jedoch ist so eine Offenheit in unregelmäßigen Abständen in Japan essenziell.

Es geht in den Gesprächen nämlich nicht um brisante Themen wie Sex — nun, zumindest nicht immer — oder die politische Einstellung.
Es geht um Themen wie Familie, um Gefühle jeglicher Art; um Probleme, Wünsche oder Bedenken, die man schon seit Tagen oder Wochen mit sich trägt.

Hier Zuhause kann ich solche Gespräche auch ohne Bier ganz einfach initiieren ohne unhöflich zu sein — und sogar meist noch Antworten darauf bekommen.

Meine Gastmutter — die eine Ausnahme unter allen Regeln — schaffte es zum Glück, mit einer Tasse starken Kaffees und etwas Schokolade alles anzusprechen; sonst hätte ich mit ihr vom Morgengrauen bis Sonnenschwund gesoffen wie ein Weltmeister, um zu erfahren, ob ich nicht doch mehr im Haushalt helfen sollte. Irgendwann waren wir nach einem Kaffeegespräch so weit, dass sie mir die Wäsche anvertraute und damit schien die Sache gegessen.

Nicht so vergleichsweise direkt und ehrlich waren aber mein Gastvater — oder Freunde der Familie, die ich seltener sah.

In einer engen Runde voll Fremde

will man doch dazugehören; angesprochen werden, selbst ansprechen, kommunizieren ist das Ziel. Aus diesen Fremden könnten schließlich neue Vertraute werden.

Und während mir in Deutschland selten in den Sinn kam, Bier als Mittel zum Zweck zu sehen, war der Effekt in Japan derart überwältigend, dass die Erkenntnis mich förmlich umhaute.

Es fielen die frustrierenden Barrieren und Vorbehalte; es schwand von jeder Seite der Drang, alles richtig zu machen und streng anständig zu sein. Ich hatte die schönsten und tiefsten Gespräche im beschwipsten Zustand; am nächsten Tag lachten wir dann über die dummen Dinge, die der ein oder andere von sich gegeben hatte. Oder wir planten bereits die nächste “Party” — ein Beisammensitzen bei gutem Essen und genügend Alkohol.

So einfach funktionierte das also!

Ich musste nicht Harry Potters Zauberstab klauen, um die Situation mit Magie zu verändern; es brauchte kein Menschenopfer, kein Gebet keine Tücken und keinen Vollsuff.

Zum Kennenlernen wähle man ganz einfach gutes Essen — es reichen oft auch Kräcker aus dem nächsten Konbini — sowie die Biermarke des eigenen Vertrauens — Suntory ist hier zu empfehlen

— dann öffne man den Mund und lasse ganz zwanglos den Abend verlaufen, wie es einem beliebt; plötzlicher Drang zum Karaoke, unerhört unverschämten Witzen und der Spaß an peinlichen Geschichten könnten auftreten.

Ich garantiere, dass am nächsten Tag die Gesellschaft enger verbunden und das Sprechen auch ohne Bier leichter vonstattengehen wird.

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Brigitta Buzinszki

Lehrerin und Mutter // meine Meinung meist mit Humor verfeinert // Writes occasionally in English about Germany, Hungary and Brazil