Die Daten der Demokraten

Erik Meyer
4 min readDec 28, 2015

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Seit der Wiederwahl von Obama gilt datengetriebenes Campaigning in den USA als Faktor für den Erfolg bei Wahlen. Gab es im Vorwahlkampf nun einen Datendiebstahl?

Während sich Hillary Clinton, Bernie Sanders und Martin O'Malley auf die dritte TV-Debatte der demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten vorbereiteten, entwickelte sich in der innerparteilichen Auseinandersetzung ein Nebenkriegsschauplatz: Verantwortliche aus dem Team von Sanders hatten unberechtigter Weise Zugriff auf Datenmaterial der Clinton-Kampagne. Diese Episode wirft ein Schlaglicht auf die Bedeutung, die die Vermessung der Wählerschaft für die Kampagnenführung haben kann. Und freilich markiert der Vorfall einige Probleme des “computational campaign management”.

Die Berichterstattung über die Relevanz digitaler Wahlkampfinstrumente für Obamas erfolgreiche Kampagnen war von Beginn an überschwenglich; 2012 geriet sie dann zur Mythologisierung: In einer “Höhle” in Obamas Hauptquartier hausten demnach Hipster-Nerds, deren technologische Raffinesse dem Amtsinhaber die Wiederwahl sicherten. Vor allem durch diverse Datenerhebungsverfahren gespeiste Modelle der Wählerschaft ermöglichten ein exaktes Micro-Targeting potenzieller Spender, Influencer und schließlich Wähler sowie die punktgenaue Verausgabung der finanziellen und organisatorischen Ressourcen. Denn das Profil der Wähler steuerte nicht nur zielgruppenspezifische Mailings, sondern auch den Einsatz von Freiwilligen, die von Tür zu Tür zogen und Sympathisanten zur Stimmabgabe mobilisierten.

Sanders Blick über die Firewall

Nachdem der linke Außenseiter Bernie Sanders bei der Mobilisierung von Unterstützung im Vorwahlkampf gegen die Favoritin Hillary Clinton Achtungserfolge erzielen konnte, spielen nun diese Aspekte bereits im Kampf um die demokratische Präsidentschaftskandidatur eine erhebliche Rolle. Dabei stützen sich beide Kampagnen auf eine beständig aktualisierte Datenbank der Demokratischen Partei (Democratic National Committee — DNC).

Dies hat damit zu tun, dass sich Bürger zur Teilnahme an den Vorwahlen als Unterstützer der Demokraten registrieren. Insofern setzen die Anwendungen der innerparteilichen Konkurrenten also auf der gleichen Plattform des Dienstleisters NGP VAN auf und sind dort durch technische Vorkehrungen voneinander getrennt: The company maintains a master voter list for the DNC and rents it to national and state campaigns, which then add their own, proprietary information gathered by field workers and volunteers.

Ein Fehler ermöglichte nun Zugangsberechtigten von Seiten Sanders einen kurzen Einblick in das Datenmaterial der Clinton-Kampagne. Seitens NGP VAN wurde protokolliert, dass diese Gelegenheit auch dazu genutzt wurde, betreffende Daten zu sichern. Die Demokratische Partei reagierte darauf mit einer drakonischen Maßnahme und entzog Sanders den Zugriff auf die Datenbank. Dagegen wehrte sich Sanders mit juristischen Mitteln und erreichte eine Einigung, die seiner Kampagne wieder Zugang zur Partei-Plattform gewährt.

Kritische Kollaboration

In der Auseinandersetzung um den Vorfall argumentierten beide Lager mit der immensen Bedeutung der Daten, wie die Formulierungen von Clintons Kampagnen-Manager Robby Mook und Sanders Kampagnen-Manager Jeff Weaver verdeutlichen:

Mook said, the information stored in the database included ‘fundamental parts of our strategy.’ Weaver (…) said the party had cut Sanders’ team off from the ‘lifeblood of any campaign.

Die Sanders-Kampagne bezifferte den Verlust, der in diesem Zusammenhang unter anderem im Bereich des Fundraising entstehe, auf 600.000 US-Dollar pro Tag. Vor dem Hintergrund dieser Angaben liegt es nahe, auch die Rolle des Dienstleisters als Gatekeeper zu problematisieren. Dass nahezu jede Kampagne eines demokratischen Bewerbers in den USA auf NGP VAN vertraut, ist eine strategische Entscheidung, betont Nancy Scola:

But it’s an article of faith among Democrats that sharing software and some data gives them an advantage over Republicans, who pick and choose from a far more fractured set of software vendors.

American Exceptionalism?

Wer nach der Relevanz dieser Episode für Parteiendemokratien fragt, braucht selbst in Europa nicht weit zu blicken. Der Überraschungserfolg des Linken Jeremy Corbyn bei der Wahl zum Vorsitzenden der Labour-Partei war unter anderem auch datengetrieben:

The digital team’s secret weapon was a soft-spoken young tech expert named Ben Soffa. (…) Soffa created an app — using the American political organising software NationBuilder — that allowed volunteers to make calls to potential supporters from their own homes. The app provided information about an individual’s Labour membership, which constituency they lived in and its electoral history. Volunteers would follow a series of questions, with the answers fed back to Soffa’s team through the app.

Dabei stützte sich die Corbyn-Kampagne auf Daten der Parteiorganisation und konnte Sympathisanten zu Wählern machen, denn nicht nur Parteimitglieder waren wahlberechtigt.

Dies mag in Deutschland auf den ersten Blick undenkbar sein, aber vor einigen Jahren brachte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel für die Kür des Kanzlerkandidaten seiner Partei schon einmal Vorwahlen nach US-Vorbild ins Gespräch. Auch hier wäre also der Zugriff auf die Datensammlungen der Partei für alle Bewerber gleichermaßen zu gewährleisten. Dass beispielsweise E-Mail-Adressen von Sympathisanten von besonderer Bedeutung sind, scheint sich jedenfalls schon bis zu den Volksparteien herumgesprochen zu haben. Im Kontext der Bemühungen zur Modernisierung der Parteiarbeit haben CDU und die von Obamas Wahlkampfstratege Jim Messina für die nächste Bundestagswahl beratene SPD erst kürzlich die Erhebung von E-Mail-Adressen zum zentralen Bestandteil ihrer Websites gemacht.

Originally published at www.netzpiloten.de, crossposted at politik-digital.de.

Siehe zu diesem Thema auch diese Beiträge aus meinem Profil:

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