Gesellschaft 4.0 statt soziale Unruhen — für ein Europa der Menschen
Technologie muss Menschen nützen
In der Wirtschaft spricht alles über Industrie 4.0, jedoch kommt der Hype in der Bevölkerung nicht recht an. „Technologie ist sinnlos, wenn sie Menschen nicht erreicht”, sagte Siemens Chef Joe Kaeser anlässlich einer BDI Veranstaltung zur Hannover Industriemesse 2016 und fügte noch hinzu:
„Wir müssen sicherstellen, dass die gesamte Gesellschaft Nutzen aus der Digitalisierung zieht.” Mit diesen Worten bremste er die zuvor von vielen prominenten Rednern entfachte Euphorie, wie dem Microsoft Chef Satya Nadella, auf ein angemessenes Maß ein.
Welch immense Bedeutung diesen Worten zukommt, zeigt ein Blick auf die Zukunftsprognosen der allermeisten Experten: Die von der Digitalisierung verursachte vierte industrielle Revolution, in Deutschland kurz als Industrie 4.0 bezeichnet, wird Millionen Arbeitsplätze vernichten — der Mensch wird von Maschinen ersetzt. Nun ist das grundsätzlich nichts Neues, hat doch jede industrielle Revolution zuvor auch immer einen massiven Umbau der wirtschaftlichen Strukturen mit sich gebracht.
Der bevorstehende Wandel ist in seiner Geschwindigkeit und seinen Auswirkungen auf sämtliche Gesellschaftsbereiche jedoch derart umfassend und einzigartig, dass ein völlig neues Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, eine Art Gesellschaft 4.0, die alten Strukturen schnellstens ersetzen muss — soll es nicht zu massiven sozialen Unruhen kommen.
Im Klartext bedeutet es, Antworten zu den drängenden Themen des sich abzeichnenden sozialen Umbaus zu finden …
Teilhabe als Schlüssel — Arbeit neu definieren
Die Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder an den Chancen der Digitalisierung wird dabei eine Schlüsselrolle zur Lösung der künftigen Herausforderungen spielen. Und als beteiligt am digitalen Kuchen werden sich nur diejenigen Menschen fühlen, die nicht vom sozialen Abstieg aufgrund von Arbeitsplatzvernichtung betroffen sind, die sich von unserer Demokratie verstanden und ernst genommen fühlen, die ihre Begabungen ausleben können, und die nicht in ihrer Freiheit eingeschränkt werden.
Die technologischen Megasprünge der digitalen Revolution könnten die Menschheit diesbezüglich in völlig neue Dimensionen an persönlicher Selbstverwirklichung führen, wenn nur endlich neue Gesellschaftsmodelle ideologiefrei diskutiert und vor allem auch umgesetzt werden.
Nicht von ungefähr kommt es, dass ausgerechnet in den Konzernzentralen des Silicon Valley über ein, wie auch immer gestaltetes, Grundeinkommen als Antwort auf den erwarteten massiven Kahlschlag von Jobs laut nachgedacht wird. Der digitale Wandel definiert den Begriff Arbeit anders. Nicht nur als menschliche Handlung zum Broterwerb, sondern auch als eine von Maschinen verrichtete Tätigkeit und der daraus resultierenden Freiheit der Menschen zum Einsatz ihrer Talente und Neigungen — auch unabhängig von kommerziellen Erwägungen.
Den „digitalen Gewinn” in Bildung investieren — gesellschaftlicher Spaltung entgegenwirken
Der von der Digitalisierung erwartete immense Profit darf nicht einigen wenigen Marktakteuren vorbehalten bleiben, während der große gesellschaftliche Rest — diesmal auch fast die gesamte Mittelschicht — leer ausgeht und verarmt. Eine Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der gesellschaftlichen Risiken und Verluste, wie wir es bereits während der Bankenkrise erlebt haben, wäre auf Dauer der Anfang vom Ende eines sozialen, friedlichen Miteinanders.
Es entspricht dem Geist der Internetpioniere, den „digitalen Gewinn” in Infrastruktur und Bildung zu investieren — denn Bildung ist der Schlüssel zur Beteiligungsgerechtigkeit. Sie ermöglicht Menschen, ihre Fähigkeiten aktiv in die Gesellschaft einzubringen, und die Investitionen an ihre „Sponsoren” mit Zinseszins zurück zu zahlen.
Investitionen in Gigabit-Glasfasernetze, Voraussetzung für sogenannte Smart Countries und Smart Cities, eröffnen völlig neue Möglichkeiten an Bürgerbeteiligung, mehr direkter Demokratie, Wissensvermittlung und Aufklärung. Besonders Letzteres hat eine hohe Bedeutung, da der gesellschaftlichen Spaltung in „wissend und unwissend” tatkräftig entgegengewirkt werden muss.
Die Entwicklung der „Virtuellen Realität” sollte hier ganz neue Akzente setzen, kann sie doch elegant mit der Offlinewelt kombiniert werden. Messen wie die CeBIT, die sonst eher einem Fachpublikum zugewandt sind, könnten damit ihr Zielpublikum und damit ihre gesellschaftliche Relevanz noch deutlich vergrößern.
Die re:publica, als kleine Konferenzmesse mit Themen rund um das Web 2.0 gestartet, entwickelt sich hier zum absoluten Trendsetter und setzt Maßstäbe — zeigt bereits im zehnten Jahr, wie es geht: Die Veranstaltung findet teilweise auch im Internet statt, Interessierte sind über verschiedene soziale Medien eingebunden.
Die digitale Transformation bietet alle Chancen, eine Gesellschaft in Wohlstand und einer demokratischen Mitte zu einen. Großen Chancen stehen stets jedoch auch große Risiken gegenüber. Und zu den größten Risiken unserer schönen neuen Welt gehört zweifellos der Missbrauch von Technologie — einer totalen Überwachung und Kontrolle der Menschheit etwa.
Die Freiheit des Internet ist untrennbar mit dem Nutzen für den Menschen verknüpft
Die Möglichkeit und das Recht der freien Meinungsäußerung gilt in westlichen Demokratien als eines der größten und wichtigsten Errungenschaften — bislang galt das auch für das Internet.
Wie groß und wertvoll die Macht des freien Wortes, einer authentischen, zeitnahen Berichterstattung sein kann, zeigte sich während des sogenannten arabischen Frühlings. Dort entfalteten soziale Medien ihre demokratische Wirkung und waren so am Sturz von Diktatoren maßgeblich beteiligt.
Mit der Freiheit soll es jetzt bald vorbei sein: Konzerne, Staaten und sogar Organisationen wie die UN wollen nun unter dem Vorwand, gefährliche Ideologien und terroristische Propaganda zu eliminieren, eine weltweite Zensur des Internets einführen. Mögen die Absichten einiger Protagonisten durchaus edel sein, doch wären solche (Sperr-)Filter ein derartig mächtiges Werkzeug, dass sie zu Missbrauch förmlich einladen — nicht nur in Diktaturen.
Wer gibt denn vor, was politisch korrekt ist, und ab wann es als Hetze zu gelten hat? Zu groß sind die Verlockungen, unliebsame politische Inhalte zu blockieren — denn wer die Medien kontrolliert, kontrolliert den Staat.
Unzensierte, freie soziale Netzwerke, sowie eine weitgehende Beteiligungsgerechtigkeit, sind zentrale Voraussetzungen in der Gestaltung einer menschenfreundlichen Zukunft — einer lebenswerten Gesellschaft 4.0.
Wäre es nicht die richtige Zukunftsvision und neue Leitidee für eine reformierte EU, zu diesen globalen Herausforderungen Konzepte — auch als Antwort auf den Brexit — anzubieten?
Originally published at www.huffingtonpost.de.
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