In meinem Büro ist Gutmensch ein Schimpfwort

Adam™
5 min readAug 12, 2015

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via https://www.flickr.com/photos/hippie/2475835909

Heute hatte ich ein ganz besonderes Erlebnis in einem eigentlich für mich gewohnten sozialen Umfeld. Eine Erfahrung die ich mit euch teilen möchte, zum einen weil ich wissen will, wie ihr darüber denkt und zum anderen, weil ich wissen will ob ihr auch eine ähnliche Veränderung wahrnehmen könnt.

In den letzten Monaten, ja sogar Jahren hat sich mein berufliches Umfeld nicht verändert. Immer die gleichen Personen, der gleiche Job, eine annähernd gleichbleibende Arbeitssituation immer wieder nur unterbrochen durch kleine Störungen in der Matrix, aber im Prinzip eine stabile Umgebung.

Eine Umgebung in der ich mich eigentlich wohl fühlen kann. Kollegen, deren Einstellung zum öffentlichen Leben, zu gesellschaftlichen Themen, zur Politik wie auch zu diversen kleinen Lebensfragen ich schon oft und wiederholend gehört habe. Meinungen die in manchen Fällen eine gewisse Egalität zeigten, andere widerum, die bei bestimmten Themen radikale Ansichten kundtaten aber im grossen und ganzen Kollegen die einem das Leben nicht schwerer machten als es eh schon war.

Aber in diesen letzten Monaten habe ich einen Ruck wahrgenommen. Die Richtung könnt ihr euch denken.

Wann immer irgendein Thema aufkommt, das geeignet ist dafür benutzt zu werden, andere Personengruppen anzuprangern, wird das gemacht. Es werden Ängste kundgetan, die um den Job, die um den Verlust des eigenen sozialen Status. Aber ganz besonders die Angst vor Fremden.

Blind werden die Parolen wiederholt, die man an jeder Strassenecke aufschnappt. Jeder Flüchtling ist ein Wirtschaftsflüchtling. Jeder Fremde ein Dieb, ein Mörder, Vergewaltiger oder sonstiger Krimineller bis man sich von seiner Unschuld überzeugt fühlt.

Jeder Flüchtling hat natürlich ein Smartphone und zigtausende Euro, weil er sonst ja gar nicht nach Europa gekommen wäre. Im Umkehrschluss ist auch jeder Kriminelle automatisch ein Ausländer. Immer. Jedes mal wenn irgendwo von einer strafbaren Handlung berichtet wurde, war die erste Frage “Aus welchem Land der wohl ist” — völlig ausgeschlossen, dass ein Österreicher eine Straftat begehen könnte.

Dann kam der 11. August. Erneut wurde in diesem Land ein Fall von Polizeigewalt bekannt. Ein Anwohner filmte zwei Polizisten dabei, wie sie einen passiv dastehenden Mann bei einer Amtshandlung brutal und unkontrolliert zu Boden haben fallen lassen, so dass er quasi mit dem Gesicht aufgeschlagen hat. Wer seine Arme hinter dem Rücken gefesselt hat, hat nunmal keine Möglichkeit sich bei einem Fall irgendwie abzufangen.

Dieses Thema kam natürlich auch im Büro auf. Ein Kollege begann mit den Worten “Unglaublich! Da filmt irgendein Idiot zwei Polizisten wies einen kriminellen Ausländer mal richtig behandeln und dann kriegen die gleich Probleme” — ich musste schlucken.

Lange hab ich die Luft aber nicht anhalten können, bis es aus mir rausplatzte. Mit allen möglichen Argumenten versuchte ich diesem Satz zu entgegnen. Dass das ein brutaler Übergriff auf einen passiven und wehrlosen Mann war. Dass nur ein Richter darüber entscheiden kann, ob jemand einer Straftat schuldig ist oder nicht und schlussendlich, dass die Polizisten verdammt noch mal nicht in ihren Berichten zu lügen haben und ich meine verdammten Steuern genau dafür bezahle, dass die Exekutive die Gesetze durchsetzt und befolgt und nicht selber zum Gesetzesbrecher wird.

So ein “kleiner” Übergriff kann so immens viel Schaden erzeugen, dass das Image vom “Freund und Helfer” — und die österreichische Polizei hatte das wohl wirklich mal — nachhaltig zerstört wird.

Ich war allein. Niemand konnte nachvollziehen was ich gesagt habe. Lächerlich waren meine Argumente. Ein typischer Gutmensch wäre ich doch. Ein Standard-Leser. Einer von diesen Hipstern, die alles teilen wollen und unsere Gesellschaft wegen uns den Bach runtergehen wird. Wieso soll ein Polizist nicht sofort eine Bestrafung durchführen können? Wieso muss man da auf einen Richter warten? Warum ist der Mann jetzt auf freiem Fuss? Der hat sicher wieder gestohlen und vermutlich noch 20 Autos gestohlen in der Zwischenzeit. Die haben ihn viel zu sanft angefasst. Unterm HC wär das nicht passiert!

Bäm. Da war es. Das Aufblitzen des Innersten. Eine Manifestation des Verlangens nach einer starken Hand. Die mal aufräumt in diesem Land. Die allen zeigt wo es lang geht. “Der wirds euch Gutmenschen schon zeigen, der HC.”

Das war vor 1–2 Jahren alles noch nicht so. Was ist passiert? Wieso habt ihr so viel Angst? Ihr lebt im fünftreichsten Land der Union. Es geht euch gut. Selbst, wenn es euch furchtbar mies geht, geht es euch immer noch GUT. Ihr habt keine Ahnung wie es diesen Flüchtlingen geht. Ihr musstet nicht weg. Ihr musstet nie weg. Ihr erklärt euch begrifflich zur “höheren Schicht” und zum besseren Volk in dem ihr gerne jegliches bevorzugt osteuropäische Land als “da Unten” bezeichnet. Für euch ist es eine mittlere Katastrophe wenn irgendwo Anwohnerparkplätze nicht mehr für euch zur Verfügung stehen. Wegen solchen Lappalien wollt ihr die Regierung stürzen. Ihr lasst euch von den Politikern auf den Zehen herumtrampeln, aber prügelnde Polizisten fallen nichtmal in den Begriff “Gewalt”?

“Na, Gewalt is wenn ich mit dem Schuh auf das Gesicht von dem Typen am Boden getreten hätt”

Wisst ihr wie ich mich fühle? Wie jemand, der Angst haben muss, dass er nicht das Falsche sagt. Das habe ich noch nie empfunden. Ich habe mir kein Blatt vor den Mund genommen. Aber heute… Heute hatte ich zum ersten mal das Gefühl, dass ich hier nicht sicher bin.

Meine Meinung war für die anderen schier abartig. Realitätsfern und weltfremd. Wie kann ich es nur zulassen, dass all die Ausländer in dieses Land kommen und uns alles wegnehmen.

Verdammt nochmal. Ja, dann nehmen sie euch und mir halt etwas weg. Das stört euch wirklich so sehr? Das jemand in Not einen Schlafplatz braucht, dass Neugeborene vielleicht nicht in einem aufgeheizten Bus übernachten sollten, weil es keine anderen Plätze gibt? Stört es euch so sehr, dass Polizisten einen vermuteten Straftäter vielleicht nicht in einem Anfall von Selbstjustiz erstmal “gscheid hernehmen” bevor sie dann in ihren Einsatzberichten lügen?

Wo ist das Problem dabei, dass wir alle ein bisschen schmutziger werden und die Ärmsten ein bisschen sauberer?

Ich habe Angst. Angst vor den Wahlen im Oktober. Ich weiss jetzt schon, was ihr da in meinem Büro wählen werdet. Ich habe euch gar nicht dazu befragt, das muss ich aber auch gar nicht. Es quillt euch ja aus jeder Pore.

Ich hoffe euer Heiland wird euch dann auch zeigen wo es lang geht, wenn ihr trotzdem den sozialen Abstieg erleben werdet.

Denn eines ist klar. Dass ihr vielleicht euren Job verliert und in ein paar Jahren nicht mehr so viel Wert seid wie heute, DAS liegt garantiert nicht an Migranten und kriminellen Ausländern. Sucht den “Feind” nicht unter euch, sondern weiter oben.

In meinem Büro ist “Gutmensch” jetzt offenbar ein Schimpfwort. Zum Glück ist mein Rücken breit.

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