Jenseits von Kommentaren: Ringen um den Rückkanal

Erik Meyer
4 min readOct 15, 2015

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Dass Nutzer Beiträge direkt kommentieren können, gilt als große Errungenschaft der Online-Kommunikation. Doch ist mit Kommentaren jetzt Schluss?

Spätestens seit den aktuellen Auseinandersetzungen um die Aufnahme von Flüchtlingen stehen Nutzerkommentare in etablierten Online-Medien, wie Spiegel Online oder Tagesschau.de, fallweise zur Disposition: Die Redaktionen kommen mit dem Monitoring des verbalen Schlagabtauschs unter einschlägigen Berichten nicht mehr zu Rande. Gleichzeitig wird bis hin zur Bundeskanzlerin von Facebook die konsequente Löschung von Einträgen gefordert, die als “Hate Speech” identifiziert werden. Doch es handelt sich nicht nur um eine deutsche Diskussion: Selbst Wired hat bereits das Ende von Kommentaren ausgerufen.

Schon bei Bertolt Brecht ist die Rückkanalfähigkeit der Schlüssel zur Demokratisierung massenmedialer Öffentlichkeit:

Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.
(so eine zentrale Aussage seiner um 1930 formulierten Radiotheorie).

Mit Blogs und sozialen Medien schien eine Realisierung dieser Medienutopie möglich. Doch schon immer sind die Nutzerkommentare unter Artikeln von Online-Medien und unter Status-Updates von prominenten Personen und Organisationen auch ein Ort polemischer Auseinandersetzung.

Negatives Feedback

Begünstigt wird dies vor allem durch zwei Unterschiede gegenüber einem klassischen Rückkanalformat der Massenmedien, dem Leserbrief: Einerseits ist es mit Kommentaren nun leichter möglich, sich anonym zu äußern, und andererseits operieren soziale Medien im Modus der Echtzeitkommunikation. Während aus der Anonymität der Artikulation häufig eine Radikalisierung resultiert, folgt aus der Beschleunigung eine erhebliche Dynamisierung. Das Feedback ist also oft aggressiv formuliert und die Kehrseite viraler Verbreitung sind Kritik-Kaskaden. Die Möglichkeiten zur Einhegung negativer Effekte sind wiederum begrenzt: Facebook reagierte auf die Forderung nach der Löschung problematischer Einträge etwa mit dem Vorschlag, “Hate Speech” durch “Counter Speech” zu korrigieren und relativieren.

Die Wiederkehr des Leserbriefs

Doch selbst im Herkunftsland dieser Vorstellung scheint Selbstregulierung zunehmend obsolet. Hier häufen sich in letzter Zeit Experimente von Online-Medien, die Nutzerkommentare nicht mehr standardmäßig ermöglichen. Dafür, dass Wired nun sogar “A Brief History of the End of the Comments” veröffentlicht hat, gibt es zwei aktuelle Anlässe: Obwohl für Reddit Kommentare und ihre Bewertungen konstitutiv sind, hat die Plattform nun ein Angebot ausgegliedert, das besonders populäre Neuigkeiten aus diesem Austausch aggregiert und kuratiert. Kommentieren lassen sich die Einträge, die bei Upvoted.com veröffentlicht werden, dort dann allerdings nicht mehr.

Und auch der Technologie-Kanal von Vice hat die Kommentarfunktion kürzlich aus grundsätzlichen Erwägungen abgeschaltet:

“Angesichts des Ungleichgewichts in Sachen Qualität zwischen den E-Mails und persönlichen Direktnachrichten, die uns in der Redaktion erreichen, und den Beiträgen in unseren (und vielen anderen) Kommentarspalten, sind wir überzeugt, dass das Problem mit den Kommentaren eine Sache des Mediums ist.”

Interessant ist die Alternative, die dafür angeboten wird:

“Wir möchten euch, liebe Leser, also nicht nur dazu ermuntern, mit unseren Autoren per Twitter oder E-Mail zu diskutieren, sondern bieten ab jetzt auch die Möglichkeit einen Leserbrief an uns zu schicken. Die besten Einsendung werden wir jede Woche auf Motherboard veröffentlichen.”

Konversation statt Kommentar

Auch ein anderes aktuelles Angebot bedient sich ebenfalls eines bereits bekannten Formats, nämlich dem Expertenchat. Dies ist deshalb relevant, weil die Fokussierung auf Kommentare häufig eine Verengung der Rückkanalfunktion auf die Artikulation von (abweichenden) Meinungen darstellt. Andere Angebote können insofern eventuell auch konstruktivere Formen des Austauschs hervorbringen.

Der Social-Bookmarking-Dienst Digg, der über keine Kommentarfunktion verfügt, bietet nun den Dialog mit Autoren an, deren Artikel auf das Interesse der Nutzer von Digg stoßen. Neben dem eigentlichen Chat (-Protokoll) wird dann noch eine redaktionelle Auswahl von Fragen und Antworten veröffentlicht, was wiederum an die Publikation von Leserbriefen erinnert.

Im Zuge einer umfassenderen Überarbeitung des Angebots hat sich schließlich Medium mit der Rückkanal-Funktion beschäftigt und die vorhandenen Formate weiter ausdifferenziert. Bislang gab es kurze Anmerkungen am Rand des Textes, die privat bleiben oder öffentlich gemacht werden konnten, sowie die Möglichkeit zu längeren Antworten, die dann am Ende des Textes aufgeführt werden.

Die kurzen “Notes” sind jetzt als direkte Nachrichten, die nur den Autor erreichen, konzipiert. Um den Text aber weiterhin annotieren zu können, gibt es abschnittsbezogene Antworten. Sie erscheinen im Text auch als Sternchen am Rande und können dort angeklickt werden. Gleichzeitig wird daraus ein eigenständiger Eintrag des Verfassers in seinem eigenen Profil. Dies akzentuiert die Verantwortlichkeit und führt nebenbei zu einer Maximierung von Inhalten. Doch der Autor des ursprünglichen Beitrags behält die Kontrolle darüber, welche Kommentare unter seinem Text sichtbar sind, indem unerwünschte Urheber blockiert werden können.

Dies ist eine interessante Vorgehensweise, insofern die Stellungnahme zu einer Aussage nicht grundsätzlich unterbunden wird. Einen Anspruch darauf, sich mit einer Äußerung etwa unter einem populären Eintrag einzunisten, gibt es aber nicht. Das “Ende des Kommentars” (Wired) als standardmäßiges Angebot von Online-Medien, könnte also auch den Ausgangspunkt für anders konfigurierte Formate des Rückkanals darstellen.

Originally published at www.netzpiloten.de.

Siehe zu diesem Thema auch diesen früheren Beitrag aus meinem Profil:

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