Packt die Smartphones weg. Genießt den Moment!

Philipp Steuer
4 min readNov 10, 2015

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Vergangenen Sonntag war ich seit längerem Mal wieder auf einem Konzert. 4.000 Leute im ausverkauften Kölner Palladium. Die Band: Bring Me The Horizon. Zielgruppe: 14–30. Die Show war gut, doch mir sind zwei Sachen aufgefallen, die mich ziemlich traurig und ein Stück weit auch wütend gemacht haben.

Es ist ja mittlerweile schon normal, dass man sein Smartphone zückt, wenn die Band auf die Bühne kommt. Gefühlt 80% starten den Videomodus, halten es hoch und versuchen, so viel wie möglich vom Auftritt zu filmen. Um sich dann am Ende über beschissen verwackelte Videos mit ebenso beschissenem Sound zu „erfreuen“. Das hat sich leider so eingebürgert und wird man aus den Mitmenschen nicht mehr rausbekommen. Damit müssen wir uns abfinden.

Aber am Sonntag wurde für mich direkt doppelt eine neue Stufe erreicht, durch die der Drang in mir wuchs, meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen.

Selfiestick des Grauens

Fall 1: Neben den ganzen Smartphones hielt plötzlich eine Person einen Selfiestick inklusive Smartphone in die Höhe. Einen Selfiestick! Mittig, relativ weit vorne, um möglichst viel vom Auftritt mitzufilmen. Ich habe schon viel Elend gesehen, aber einen Selfiestick auf einem Konzert? Sind die Teile nicht irgendwie auch durch das Waffengesetz auf Konzerten verboten? Wie dem auch sei, zum Glück machten einige andere Zuschauer die Dame nach ein paar Liedern dann darauf aufmerksam, dass der Selfiestick die Sicht von den Menschen hinter ihr deutlich beeinträchtige und sie zeigte auch Einsicht.

Livestream des Grauens

Fall 2: Da meine bessere Hälfte höhentechnisch relativ kurz geraten ist und nichts sehen konnte, gingen wir nach oben. Das Kölner Palladium hat eine Art Balkon in U-Form, von dem man super auf die Bühne schauen kann. Mit ein wenig Glück fanden wir am Rand einen Platz und hätten alles sehen können, wäre da nicht eine nette junge Dame gewesen die — Achtung — die ganze Zeit ihr Smartphone über die Balustrade hielt und per Livestream ihrer Freundin das Konzert zeigte. Kein Witz! Wir konnten direkt auf das Display sehen und ja, sie hatte tatsächlich Facetime angeschmissen. Nicht nur für ein Lied, sondern für den Rest des Konzertes.

Ich verstehe das einfach nicht. Klar, ich liebe mein Smartphone auch, keine Frage. Ich hab es oft in der Hand. Routenplanung, Handyticket für die Bahn, Starbucks: All das mach ich mittlerweile nur noch über meinen treuen Freund. Ich kann es oft selbst nicht weglegen, und wenn ich es getan habe, verspüre ich direkt den Drang, es wieder herauszuholen und nach möglichen Updates zu schauen.

Eine Beziehung wie Gollum und der Ring. Aber die beiden genannten Fälle gingen mir persönlich dennoch zu weit und stimmten mich nachdenklich.

Hallo beschissene Aufnahme, tschüss Moment!

Wieso? Weil man durch das aktive Mitfilmen von Konzerten nicht nur beschissene Aufnahmen erhält, sondern selbst auch überhaupt nichts von der ganzen Show mitbekommt. Multitasking ist eine Lüge, unser Gehirn kann sich nicht 100 prozentig auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren, sondern muss in diesen Fällen Abstriche machen. Wer selbst schon gefilmt hat, weiß dass man dabei immer an Sachen denkt wie „Nimmt es noch auf?“, „Halte ich es gerade?“, „Hab ich alles drauf?“ und und und.

Der Moment jedoch geht verloren und kann durch kein technisches Gerät festgehalten werden. Die Szene ja. Das Gefühl und die Erfahrung nicht.

Ich finde es einfach unfassbar dämlich, in welche Richtung sich das entwickelt. Bringen wir bald alle unsere Drohnen mit zu Konzerten, um möglichst nah an das Gesicht des Sängers heran zu fliegen, nur um ein möglichst gutes Bild seines Gesichtes mit der GoPro einzufangen?

Das wird natürlich nicht passieren. Wobei ich Selfiesticks und crappy Smartphone-Livestreams bisher auch für nicht praktikabel hielt.

Wir filmen, aber verpassen

Ich habe mich gefragt, wieso wir das machen. Und kam dann zu dem Schluss, dass es etwas mit unserem allgemeinen Nutzerverhalten zu tun hat. Täglich halten wir alles Wichtige mit unserem Smartphone fest, egal ob Eindrücke, Gedanken oder Situationen. Vieles davon teilen wir, was auch vollkommen okay ist. Ich muss mich da nur an meine eigene Nase fassen.

Aber so wie wir gelernt haben, Smartphones für uns einzusetzen, müssen wir anscheinend auch wieder lernen, wann wir sie in der Tasche lassen sollten. Klar, ich habe dann kein Video vom Konzert. Aber hey, so habe ich es in seiner Gänze wahrgenommen. Das Licht, den Sound, die Emotionen, die Atmosphäre. Ich habe es bereits gesagt, aber diese Dinge kann kein Smartphone der Welt festhalten.

Das sind in meinen Augen kostbare Momente, die wir als kleine Gedankenschätze in unserem Kopf abspeichern und mit nach Hause nehmen sollten. Denn diese Aufnahmen haben einen exzellenten Ton und eine verdammt gute Auflösung.

Ein Gefallen

Deshalb tut mir den Gefallen: Packt beim nächsten Konzert eurer Smartphone weg. Und die Selfiesticks. Und die Drohnen.

Genießt den Moment.

Danke.

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Philipp Steuer

Marketing Liebhaber. Buchautor. Läufer. Optimist. Menschenfreund. 100% Pflanzlich. Hundevater.