Umberto Eco und der Urfaschismus

Ich weiß noch genau, als ich Der Name der Rose das erste Mal sah. Es war zusammen mit meiner Mutter, ich dürfte 8 oder 9 gewesen sein. Sie und ich waren allein zu Hause mit meinem kleinen Bruder, der nebenan schlief; ich saß auf einem der beiden Sofas und zeichnete. Was Umberto Eco eigentlich für ein Mensch war, für eine Persönlichkeit, wusste ich damals nicht. Für mich (und ich glaube auch, für meine Mutter) war er einfach Kriminalautor — ich habe den Film geliebt (und tu dies noch). Gestern starben er und Harper Lee — und was das bedeutet, weiß ich mit mittlerweile 28 durchaus.

Jasmin Schreiber
9 min readFeb 20, 2016

Ich habe daher Ecos Urfaschismus (1995) ausgegraben und die Thesen mit den Positionen von AfD und NPD in Beziehung gesetzt.

Der Name der Rose ist ein Buch, das mich durch mein ganzes Leben begleitet hat. Ich sah den Film, ich las das Buch, ich hörte das Hörbuch. Mehrfach. Alles. Und je älter ich wurde und je öfter ich mich damit beschäftigte, umso genauer entfaltete sich das Bild dieser Geschichte, der Metaphern, der Bilder. Die Geschichte passte zu jeder meiner Lebensabschnitte. War sie doch erst Kriminalgeschichte, wurde sie in meiner Pubertät für mich eine Sektion des Christentums, in meinen späten Teens zu einem essayistischen philosophischen Spiegel der Epoche und ist für mich bis heute immer noch so facettenreich.

Später las ich noch mehr von Eco — Das Foucaultsche Pendel, Die Geschichte der Hässlichkeit, Essays.

Ganz besonders spannend fand ich seinen Essay aus dem Jahre 1995. In der deutschen Übersetzung trägt er den schlichten Titel Urfaschismus und ist in meinen Augen so aktuell wie eh und je — gerade jetzt.

Auf ZEIT Online könnt ihr euch den gesamten Essay hier durchlesen. Für diesen Blogartikel habe ich meine liebsten Stellen zusammengefasst und verbinde am Ende Ecos Thesen zum Urfaschismus mit den Positionen der AfD und NPD.

“In meinem Lande sagen einige Menschen heute, der Befreiungskrieg sei eine tragische Zeit der Spaltung gewesen, und wir bedürften der nationalen Versöhnung. Die Erinnerung an diese schrecklichen Jahre müsse unterdrückt werden, refoulée, verdrängt. Aber aus Verdrängung entstehen Neurosen. Versöhnung mag Mitleid bedeuten und Respekt für alle, die aufrichtig ihren eigenen Krieg kämpften, aber Vergeben ist nicht Vergessen. Ich könnte sogar Eichmann zugestehen, daß er allen Ernstes an seine Mission glaubte, aber ich kann nicht sagen: “Also gut, komm zurück, und tu es noch mal.””

“Und obwohl auch mich die verschiedenen naziähnlichen Bewegungen hier und da in Europa einschließlich Rußlands beunruhigen, werde ich ebensowenig glauben, daß der Nazismus in seiner ursprünglichen Form als nationale Bewegung wiederauferstehen könne. Dennoch: Politische Regimes können zwar gestürzt, Ideologien kritisiert und abgelehnt werden — aber hinter einem Regime und seiner Ideologie steht immer eine Art des Denkens und Fühlens, eine Anhäufung kultureller Gewohnheiten, obskurer Instinkte und unauslotbarer Triebe.

Sprachgewohnheiten bieten häufig wichtige Hinweise auf zugrundeliegende Gefühle.”

Ganz besonders wichtig finde ich hier Elemente, aus denen Eco einen Ur-Faschismus zusammensetzt und der in allen faschistischen Regimes und Einstellungen aufzufinden sind. Ich liste sie hier verkürzt als Zitate auf, ausgeführt findet ihr sie im oben verlinkten Artikel.

Nun zu den Positionen von AfD, NPD & Co. Die Zitate dieser Parteien werde ich nicht verlinken — so ein Schund braucht nicht noch Linkpower von mir. Ihr findet die Passagen jedoch ganz leicht, indem ihr sie googlet.

  1. “Das erste Merkmal des Urfaschismus ist der Traditionskult.”
    Parteien, die sich “heimatlich” ausrichten — zum Beispiel die AfD oder NPD — fokussieren das Thema Tradition ganz stark. Beispiele: AfD: “Sächsische Tradition unterstützen” (offizielle Webseite AfD Fraktion Sachsen). NPD: “Kultur und Tradition sind keine Modeerscheinungen, sondern Produkt der Genese unseres Volkes, unserer Mentalität” (Hauptseite der Partei).
  2. “Traditionalismus impliziert die Ablehnung der Moderne.”
    Hier kann man ebenfalls die obigen Quellen als Beispiele nehmen. Zur Moderne gehören zum Beispiel die Lebensrealität von uns Frauen, die sich deutlich vom Leitbild Mutter und Hausfrau aus den 50ern unterscheidet. Rechte Strömungen pochen auf eine Wiederbesinnung auf dieses rückständige Bild der Frau. Übrigens auch bezogen auf das Familienbild (Zwei Eltern, hetero, Kinder) und die Sexualität.
  3. “Irrationalismus ist auch abhängig vom Kult der Aktion um der Aktion willen.”
    “Mißtrauen gegenüber der Welt des Intellekts war immer ein Symptom des Urfaschismus.”
    Diese Punkte treffen ebenfalls auf die AfD und NPD zu. Hier ist aber ein interessanter Unterschied zu bemerken. Inszeniert sich die NPD als reine “Volks”partei, also vom “Volk”, für das “Volk” und lehnt Professoren, Politiker, Künstler, Musiker und andere intellektuelle “Eliten” ab, geht die AfD aus einem Setup als “Professorenpartei” hervor. An der Parteispitze stehen Doktoren und Lehrer, die sich bürgernah geben und dem “Volk” voranstehen.
  4. “Kein synkretistischer Glaube kann analytischer Kritik widerstehen.”
    “Der kritische Geist macht Unterscheidungen. In der modernen Kultur lobt die Wissenschaft mangelnde Übereinstimmung als nützlich für die Bereicherung des Wissens. Für den Urfaschismus ist fehlende Übereinstimmung Verrat.”
    Dieser Punkt liest sich etwas sperrig, lässt sich aber auf den Umgang der Anhänger von NPD und AfD mit “Gutmenschen” und der “Lügenpresse” herunterbrechen. Diese beiden Gruppen — in Kombination mit den Politikern der Volksparteien — stellen für die Rechtspopulisten die immer schön skandierte Gruppe der “Volksverräter” dar. Die Meinungen weichen von ihren ab, weshalb sie falsch und destruktiv sein müssen.
  5. “Der Urfaschismus wächst und sucht Unterstützung, indem er die natürliche Angst vor Unterschieden ausbeutet und verschärft.”
    “Der erste Appell einer faschistischen oder vorfaschistischen Bewegung richtet sich gegen Eindringlinge. So ist der Urfaschismus qua Definition rassistisch.”
    Dass Menschen Angst vor neuen und/oder fremden Sachen, Personen und Umständen haben, ist erst einmal nicht verwerflich. Und wenn eine Oma aus Sachsen, die noch nie einen Ausländer getroffen hat, erst einmal Angst vor der Migration hat, ist auch noch nicht ungewöhnlich oder verabscheuungswürdig. Angst vor Unbekanntem ist erst einmal einfach menschlich, beziehungsweise etwas, das wir mit allen Lebewesen teilen.
    Was Parteien wie die AfD und NPD — und teilweise sogar die CSU — daraus aber machen, ist, aus diesen unbewussten Urängsten ein Feuer zu entzünden, das in irrationalen Hass abdriftet. Ich möchte die CSU hier an dieser Stelle nicht mit rechten Gruppierungen in einen Topf werfen, dennoch macht sie sich dieser Tage leider sehr häufig ebenfalls des Populismus schuldig und bedient rechte Ressentiments. Dieses Zündeln führt dazu, dass aus geistiger Brandstifterei brennende Flüchtlingsheime werden. Die Menschen, die “besorgten Bürger”, werden von diesen politischen Meinungsführern betrogen, benutzt, verkauft und verraten. Doch das merken die Betroffenen gar nicht, da sie perfide abgelenkt, umgarnt und hinters Licht geführt werden.
  6. “Der Urfaschismus entstand aus individueller oder sozialer Frustration.”
    “Deshalb gehörte zu den typischen Merkmalen des historischen Faschismus der Appell an eine frustrierte Mittelklasse, eine Klasse, die unter einer ökonomischen Krise oder der Empfindung politischer Demütigung litt und sich vor dem Druck sozialer Gruppen von unten fürchtete.”
    Dass vor allem in den neuen Bundesländern die Flüchtlingsheime brennen, ist kein Zufall. Oft sind die Täter Personen, die bei der Wende sozial und ökonomisch abgehängt und komplett vergessen wurden. Gregor Gysi hat im Interview mit Jung&Naiv großartig erklärt, wieso die Wiedervereinigung eigentlich eher ein BRD+1 war, was den neuen Bundesländern versprochen wurde und wie man das Grundgesetz so umgebogen hat, dass man nach dem Zusammenschluss keine gemeinsame Verfassung ausarbeiten musste, wie es eigentlich vorgesehen war. Gewinner zünden keine Flüchtlingsheime an – Verlierer und Versager tun das. Selbstmitleid ist nämlich so viel angenehmer und einfacher, als sich mit seiner Situation auseinanderzusetzen und konstruktiv daran zu arbeiten, sie zu verbessern. Leider.
  7. “Den Menschen, die sich einer ausgeprägten sozialen Identität beraubt fühlen, spricht der Urfaschismus als einziges Privileg das häufigste zu: im selben Land geboren zu sein.”
    “Dies ist der Ursprung des Nationalismus. Außerdem bezieht eine Nation ihre Identität nur aus ihren Feinden. (…) Die Anhänger müssen sich belagert fühlen.”
    Eine Nation identifiziert sich durch Abgrenzung von anderen. Um in unserem deutschen Nationalstaat zu leben, muss man sagen: Ich bin Deutscher, was immer auch impliziert: Und kein Franzose/Österreicher/Türke/Araber. Ein Nationalstaat bedeutet immer: Ich bin hier, und nicht da. Ich bin ich, und nicht die anderen. Abgrenzung ist normal und gesund, zum Beispiel im Bereich des Individuums. Um sich zu definieren, muss man auch immer sagen, was man nicht ist. Ich bin zum Beispiel ich, und nicht du. Ich bin keine Rassistin. Ich mag Lakritze. Ich bin eine Frau.
    Was im individuellen Kontext wichtig und gesund ist, solange es in Maßen geschieht, kann auf politischer Ebene hässliche und gefährliche Züge annehmen.
    Und am einfachsten ist es, sich über etwas zu definieren, das man in die Wiege gelegt bekommen hat: Über die Nation. Die Ethnie. Das Geschlecht. Die sexuelle Orientierung. Und wenn man dieses Set mit genug Menschen teilt, kann man sich als die Norm sehen und alle anderen Zusammenstellungen an Eigenschaften als “abnormal” — also von der Norm abweichend — herausstellen und dann auch ausgrenzen. Als die anderen. Als nicht vertrauenswürdig. Gefährlich.
    Und genau damit spielen NPD und AfD — vor allem im Bezug auf das “belagert” sein. Selbst die CSU spricht von Flüchtlingsströmen, -wellen, etc. Sehr beliebt ist unter Rechtspopulisten das Begriffsset “Invasion” und “Invasoren”. Das alles ist brachiale Sprache, die uns Angst machen soll.
  8. “Die Anhänger müssen sich vom offensichtlichen Reichtum und der Macht ihrer Feinde gedemütigt fühlen.”
    Hiermit spielen AfD und NPD auch ganz im Hinblick darauf, dass wir Gutmenschen ja so privilegiert seien, während “das Volk” abgehängt würde. Wir studierten, wir hätten ja keine Ahnung von der Realität. Wir sollten aufwachen. Und die Flüchtlinge haben sogar alle Smartphones.
  9. “Im Urfaschismus gibt es keinen Kampf ums Überleben — das Leben ist nur um des Kampfes willen da.”
    Einfach mal ne Rede von Björn Höcke anhören. Das sagt schon alles.
  10. “Elitedenken ist ein typischer Aspekt jeder reaktionären Ideologie, insoweit sie im Grunde aristokratisch ist, und aristokratisches und militaristisches Elitedenken hat eine grausame Verachtung des Schwächeren im Gefolge.”
    “Der Urfaschismus kann nur ein allgemeines Eliteempfinden vertreten. Jeder Bürger gehört dem besten Volke der Welt an, die besten Bürger sind die Mitglieder der Partei, jeder Bürger kann (oder sollte) der Partei beitreten.”
    AfD-Anhänger und NPD-Leute brüsten sich damit, “die Wahrheit” zu haben. Die wissen Bescheid. Die sehen durch. Alle, die der NPD und AfD folgen, haben endlich die “Augen geöffnet”. Sie sind auserwählt zu sehen, was die ganzen “linksversifften Gutmenschen” nicht wahrhaben können oder wollen. Klar soweit?
  11. “In einer solchen Perspektive werden alle zum Heldentum erzogen.”
    Und wieder verweise ich einfach auf Björn Höcke, der übrigens — ganz in nazistischer Tradition — große Stücke auf germanische Heldensagen, Geschichte und Religion hält.
  12. “Da sowohl endloser Krieg als auch Heroismus recht schwierige Spiele sind, überträgt der Urfaschist seinen Willen zur Macht auf die Sexualität.”
    “Hier liegt der Ursprung des machismo (zu dem Frauenverachtung ebenso gehört wie gewalttätige Intoleranz gegenüber ungewöhnlichen Sexualgewohnheiten, von der Keuschheit bis zur Homosexualität).”
    Einfach mal das Frauenbild der AfD und NPD prüfen. Und die Einstellung zur Homosexualität. Ich denke, das muss ich nicht noch weiter ausführen, da das einfach sonnenklar und bekannt ist. Sahnehäubchen dazu: Die Angst vorm “afrikanischen Ausbreitungstyp” (Höcke) und generell der Sexualität des “virilen muslimischen Mannes”.
  13. “Der Urfaschismus gründet sich auf einen selektiven Populismus, einen sozusagen qualitativen Populismus.”
    “In einer Demokratie haben die Bürger individuelle Rechte, aber in ihrer Gesamtheit besitzen sie politischen Einfluß nur unter einem quantitativen Gesichtspunkt — man folgt den Entscheidungen der Mehrheit. Für den Urfaschismus jedoch haben Individuen als Individuen keinerlei Rechte, das Volk dagegen wird als eine Qualität begriffen, als monolithische Einheit, die den Willen aller zum Ausdruck bringt.”
    Der Ruf “Wir sind das Volk” spiegelt genau diese Einstellung wieder. Es gibt keine Individuen, es gibt nur den Willen des Volkes, geteilte Einstellungen und Positionen, die man mit Kerzen, Plakaten und Fackeln in der Hand in die Dresdner Nacht hinausruft. Ungeprüft und egalitär. Alle Individuen sind gleich, das Volk ist gleich, nur ist das Volk eben gleicher als zum Beispiel Flüchtlinge oder linkspolitisch eingestellte Bürger. Ganz viele Leute aus diesem “Volk” glauben ja tatsächlich, dass sie die Mehrheit sind. Dass sie DAS Volk sind. Ganz klarer Filterbubble-Effekt. Umso wichtiger ist es, ihnen laut und entschieden entgegenzutreten und zu zeigen: Nein, seid ihr nicht. Ihr seid ein Teil des Volkes, das Volk ist divers. Und wir anderen finden euch kacke, übrigens.
  14. “Der Urfaschismus spricht Newspeak.”
    “Orwell erfand in “1984” Newspeak als offizielle Sprache von Ingsoc, dem englischen Sozialismus. Aber Elemente des Urfaschismus sind verschiedenen Formen der Diktatur gemeinsam. Alle Nazi- oder faschistischen Schulbücher bedienten sich eines verarmten Vokabulars und einer elementaren Syntax, um die Instrumente komplexen und kritischen Denkens im Keim zu ersticken.”
    Rechte und rechtspopulistische Strömungen haben ihre eigene Sprache, mit der sie sich untereinander erkennen und miteinander identifizieren. Beispiele: Lügenpresse, Gutmensch, linksversifft, BRD GmbH, Volksverräter, Widerstand, Zensur, Öko-Stalinisten, Gender-Ideologie, Schwarz-rotes Regime, Nazikeule, Facharbeiter, Multikultiwahn. Die Liste ist endlos. Dabei werden ganze argumentative Passagen in neudeutsche Begriffe zusammengedampft oder bestehende Begriffe umgedeutet. So reduzieren sich Diskussionen — zum Beispiel in den Kommentarspalten von Facebook, Spiegel Online und Co. — auf das simple Herausfeuern dieser Begriffe, sodass Gleichgesinnte direkt wissen, was gemeint ist. Mehr muss man da nicht erklären. Jeder weiß, was gemeint ist. Und wenn nicht, sind es Linksversiffte — und mit denen redet man ja eh nicht.

Darüber, wie demokratisch die AfD ist, könnt ihr euch jetzt ja ein eigenes Urteil bilden. Zur NPD muss man hier, glaube ich, nichts mehr sagen. Und diesen Text beende ich mit dem letzten Satz aus Ecos Essay:

Freiheit und Befreiung sind eine niemals endende Aufgabe.

(Ursprünglich veröffentlicht auf www.lavievagabonde.de)

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Jasmin Schreiber

Hurra, Hurra! So nicht. | Illustratorin: www.felicevagabonde.com | Politisch | schreibt Geschichten | Journalistin: www.lavievagabonde.de | #refugeeswelcome