Was der #Landesverrat von Netzpolitik mit der Spiegel-Affäre gemein hat — und was nicht

Jonas Jansen
5 min readJul 30, 2015

--

Fünfzig Jahre nach dem Abschluss der Spiegel-Affäre, der vollkommenen Rehabilitation des Verlags durch das Bundesverfassungsgericht, gibt es in Deutschland wieder eine Ermittlung des Generalbundesanwalts „wegen Verdachts des Landesverrats“ nach § 94 Strafgesetzbuch:

Diesmal hat es das Blog Netzpolitik.org und damit Betreiber Markus Beckedahl, sowie André Meister und “unbekannt” getroffen. Den Grund in Briefform liefert Netzpolitik gleich mit: Zwei Artikel, in denen sie als vertraulich deklarierte Dokumente des Verfassungsschutzes veröffentlicht hatten, veranlassten den Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen offenbar dazu, Netzpolitik anzuzeigen.

Die Solidarität im Netz ist riesig. Und der Vergleich zur Affäre um den berühmten “Bedingt abwehrbereit”-Artikel des Spiegel schnell gezogen.

Doch wie gerechtfertigt ist das?

Vielleicht funktioniert eine Annäherung am besten mit Hilfe eines Mannes, der weiß, wovon er redet: Wolfgang Hoffmann-Riem war Richter am Bundesverfassungsgericht und hat zum Jahrestag der Spiegelaffäre im Jahr 2012 einen Vortrag gehalten, der mit Blick auf die aktuellen Geschehnisse unbedingt lesenswert ist. Komplett findet man ihn etwa hier (PDF).

Hoffmann-Riem beschreibt darin kenntnisreich, wie sich die Affäre dargestellt hat und welcher Aufschrei oder Vorwurf berechtigt war — und welcher nicht.

Nun zu den Parallelen zum aktuellen Fall:

“Das Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts nennt (Medienwissenschaftler Horst) Pöttker einen Meilenstein der Verwirklichung der Pressefreiheit in Deutschland.”

So wie die Reaktionen auf die Nachricht waren, dürfte auch der Netzpolitik-Fall ein besonderer sein. Vielleicht nicht in Spiegel-Ausmaßen, doch irgendwo beim Caroline-Urteil könnte sich die Bewertung einpendeln (bezogen auf Tragweite, nicht Inhalt).

Doch da beginnen die Unterschiede. Denn:

“Soweit die Justiz betroffen ist, glaube ich, dass auch Teile von ihr in der Aufarbeitung der Spiegel-Affäre einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der restaurativen Gründungsphase der Bundesrepublik geleistet haben.”

Aus dieser Phase sind wir lange raus.

Wir befinden uns zwar in einer Überwachungsdebatte, also in einer Situation, in der viele Bürger dem Staat misstrauen. Doch gleichzeitig geht es den Deutschen (möge sich in diesem Begriff eingeschlossen fühlen, wer mag) gleichzeitig so gut, was Wohlstand und Lebensqualität angeht, wie selten zuvor. Zuwanderung, beziehungsweise die Frage “Zieht ein Flüchtling in meine Nachbarschaft?”, scheint derzeit das dringlichere Thema zu sein.

Wenn man sich also die Gleichgültigkeit der Gesellschaft im Bezug auf die NSA-Affäre anschaut, glaube ich nicht daran, dass aus diesem Netzpolitik-Fall so etwas wie die Studenten-Proteste als eine durch die Spiegel-Affäre befeuerte Bewegung entstehen kann. Ich würde mich gerne irren, dazu am Ende mehr.

Doch zuvor noch ein Unterschied: Bei aller Kritik an Generalbundesanwalt und Verfassungsschutz und den Vergleichen zur Spiegel-Affäre muss man festhalten: Die Methoden sind andere.

Die Redaktionsräume von Netzpolitik wurden nicht durchsucht, Material nicht beschlagnahmt und — bislang — niemand festgenommen. Hat die Exekutive aus der Spiegel-Affäre gelernt? Oder befinden wir uns einfach noch in einem anderen Stadium und all das kommt noch? Ist der Druck der Öffentlichkeit jetzt schon zu groß? Oder blasen wir den Netzpolitik-Fall wegen der Parallelen zur Spiegel-Affäre gerade unnötig auf?

Alles Fragen, auf die ich keine Antwort habe, aber auf deren Klärung ich mich freue.

Was die juristisch erfahrenen Mitarbeiter von Netzpolitik vielleicht besser machen, als der Spiegel damals: Auf ihre Rechte bestehen und alle Rechtsmittel nutzen, die sich ihnen bieten. Das wurde nach der Spiegel-Affäre kritisiert, auch Hoffmann-Riem merkt an, dass erst dadurch das Wort des “Justizskandals” richtig salonfähig wurde:

“…Spiegel-Verlag nicht von der Kritik freizeichnen, nicht alle in einem Rechtsstaat verfügbaren Mittel genutzt zu haben, sich nachhaltig um ein Ende der Beeinträchtigung der Pressefreiheit bemüht zu haben.”

Das ist der Vorteil der späten Geburt: Man kann sich an der Geschichte orientieren und aus ihr lernen. Das gilt übrigens für beide Seiten, zwinkerzwinker, Verfassungsschutz.

Das vielleicht Spannendste ist die blitzschnelle Bewertung durch die Verbreitung in Sozialen Medien. Was früher Wochen dauerte, geschieht heute innerhalb von Stunden. Doch Hoffmann-Riem fand dafür 2012 Worte für den Spiegel, die genauso auf Netzpolitik.org übertragen werden können und Mut machen für die weiteren Wochen:

“…politisch und moralisch waren sie längst rehabilitiert, ja über das Ganze fast zu Freiheits- Heroen geworden. Der Spiegel war immer wieder bereit, sie in Hochämtern der Heroisierung als solche zu feiern, und er ist es auch hier und heute — wenn auch inhaltlich differenzierter als früher. Publizistisch und ökonomisch war der Spiegel-Affäre ein voller Erfolg für den Spiegel. Vom Ergebnis betrachtet gilt, ein Besseres als diese Affäre hätte dem Spiegel nicht passieren können. Noch immer taugt sie als Hauptquell publizistischer Mystifizierung des Spiegel.”

Über 17000 Tweets gab es alleine gestern Abend zum Hashtag #Landesverrat, Hunderte posteten Screenshots von abgeschickten Spendenüberweisungen an Netzpolitik.

Am Ende seiner Rede spricht Hoffmann-Riem noch einmal von den Auswirkungen der Spiegel-Affäre:

“1962 war eine Zeit der Unsicherheit und des Umbruchs. Verdächtigungen, Emotionen und Irrationalitäten befeuerten die Unsicherheit, aber nährten auch die noch schwache Flamme des Umbruchs.”

Ich glaube, dass das heute im Kern nicht anders ist. Und zwar auf beiden Seiten. Auch Politiker und Behörden können überfordert sein mit den Forderungen, die aus der Bevölkerung an sie herankommen.

Und nur weil Frau Merkel ein Talent im Weglächeln hat, würde sie vielleicht gerne öfter richtig ehrlich sagen, wie man Flüchtlingen helfen kann, oder warum die NSA-Affäre vielleicht ein viel größeres außenpolitisches Thema wäre, wenn nicht dieses Freihandelsabkommen TTIP noch mehr Politik und Wirtschaftsverflechtungen in die deutsch-amerikanischen Beziehungen reinmischte. Doch ich schweife ab.

Vielleicht liege ich also mit der Einschätzung von oben ganz falsch. Das wäre möglicherweise nicht das Schlechteste. Bevor man sich fangen lässt, in dieser absurden Situation, in der Redaktionsräume vom Guardian durchsucht werden, Whistleblower verfolgt, Nazis Flüchtlingsunterkünfte anzünden und sich plötzlich ein Blog dem Landesverratsvorwurf entgegen stellen muss.

Manchmal denkt man, man kann nur noch Witze darüber machen. Wenn es nicht so traurig wäre.

(Das dürft ihr ruhig als Aufforderung lesen, euch zu äußern, hier, im Netz, auf der Straße, mit Briefen an Abgeordnete, eure Lokalzeitung oder mit Flugblättern, vollkommen egal. Nutzt die Mittel, die euch in einer Demokratie in Deutschland zur Verfügung stehen. Ganz egal, auf welcher Seite ihr steht.)

PS: Wie schnell zu merken ist, bin ich kein Jurist. Deshalb entschuldige ich mich

  1. bei allen Juristen, die jetzt den Kopf schütteln
  2. bei allen anderen, die sich über merkwürdige Einschätzungen ohne richtige Handlungsempfehlungen wundern.

Der Text ist ein Versuch, zu einer sich entwickelnden Diskussion etwas beizutragen. Stattdessen könnt ihr auch einfach die Rede lesen, das lohnt sich wirklich!

➤➤ Folge Medium auf Deutsch auf Twitter | Facebook | RSS. Du möchtest selbst auf Medium schreiben? Klicke hier, um mehr zu Medium Deutsch und dem Schreiben auf Medium zu erfahren!

--

--

Jonas Jansen

Wirtschaftsjournalist und Netzstöberer. Mag seinen Mac und gute Geschichten. Redakteur bei der F.A.Z. (@faznet). Threema: KPC5HPPZ. Auch bloß Primat hier.