Wenn ich tot bin

Nina Roßmann
10 min readAug 17, 2015

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Hier kommt meine Übersetzung von Rafael Zoehler’s wunderbarer Geschichte “When I’m Gone

Der Tod erwischt uns immer kalt. Keiner erwartet ihn. Nicht einmal Patienten im Endstadium einer tödlichen Krankheit denken, dass sie morgen oder übermorgen sterben werden. In einer Woche vielleicht. Aber erst nächste Woche in einer Woche, d. h. frühestens übernächste.

Wir sind nie bereit. Es ist nie der richtige Zeitpunkt. Wenn es soweit ist, wirst du noch nicht all die Dinge gemacht haben, die du machen wolltest, bevor du stirbst. Das Ende kommt immer unerwartet. Es ist ein tränenreicher Moment für Witwen und eine recht langweilige Veranstaltung für Kinder, die (Gott sei Dank) noch nicht wirklich verstehen, was eine Beerdigung ist.

Bei meinem Vater war es nicht anders. Sein Tod kam sogar noch unerwarteter. Er starb mit 27. Ein Alter, das das Leben einiger berühmter Musiker gefordert hat. Er war jung. Viel zu jung. Mein Vater war kein Musiker und auch nicht berühmt. Krebs ist bei der Wahl seiner Opfer nicht wählerisch. Er starb, als ich noch klein war. Durch ihn lernte ich, was eine Beerdigung ist. Ich war achteinhalb, alt genug, um ihn mein Leben lang zu vermissen. Wäre er früher gestorben, hätte ich keine Erinnerungen an ihn. Ich würde keinen Schmerz spüren. Aber ich hätte auch keinen Vater in meinem Leben. Und ich hatte einen Vater.

Ich hatte einen Vater, der sowohl streng als auch lustig war. Die Art von Vater, der einen Witz erzählt, bevor er einem Hausarrest erteilt, und es damit ein bisschen weniger schlimm macht. Jemand, der mich vor dem Einschlafen auf die Stirn küsste. Eine Gewohnheit, die ich bei meinen eigenen Kindern übernommen habe. Jemand, der mich zwang, Fan von der gleichen Football-Mannschaft zu werden wie er und der Dinge besser erklären konnte als meine Mutter. Wissen Sie, was ich meine? Ein Vater, den man vermisst.

Er hat mir nie gesagt, dass er sterben würde. Selbst als er im Krankenhausbett lag, an alle möglichen Schläuche angeschlossen, sagte er kein Wort. Mein Vater machte Pläne fürs nächste Jahr, obwohl er wusste, dass er schon im nächsten Monat nicht mehr hier sein würde. Nächstes Jahr würden wir angeln gehen. Wir würden reisen, neue Orte erkunden, an denen wir noch nie waren. Nächstes Jahr würde ein wunderbares Jahr werden. Wir lebten den gleichen Traum.

Ich glaube — d. h. eigentlich bin ich mir sicher — , dass er dachte, das würde Glück bringen. Er war abergläubisch. Pläne für eine Zukunft zu schmieden, die er nicht hatte, war seine Art, die Hoffnung am Leben zu halten. Der Idiot hat mich bis zum Ende zum Lachen gebracht. Er wusste, dass er sterben würde. Aber er hat es mir nicht gesagt. Er hat mich nicht weinen gesehen.

Und plötzlich war das nächste Jahr zu Ende, bevor es überhaupt angefangen hat.

Meine Mutter holte mich von der Schule ab und wir fuhren ins Krankenhaus. Der Arzt überbrachte uns die Nachricht mit der ganzen Feinfühligkeit, die Ärzte im Lauf der Jahre verlieren. Meine Mutter weinte. Sie hatte immer noch ein kleines bisschen Hoffnung gehabt. Wie ich bereits sagte, jeder hat das … Ich fühlte den Schock. Was bedeutet das? Hatte mein Vater etwa keine normale Krankheit, die Ärzte mit ein paar Spritzen heilen können? Ich hasste dich, Papa. Ich fühlte mich betrogen. Ich schrie meine Wut durch die Flure des Krankenhauses, bis ich verstand, dass mein Vater nicht mehr da war, um mich mit Hausarrest zu bestrafen. Ich weinte.

Doch dann war mein Vater doch nochmal ein Vater für mich. Eine Krankenschwester kam, um mich zu trösten. Unter dem Arm trug sie einen Schuhkarton, der voll war mit zugeklebten Briefumschlägen. Anstelle der Adresse war auf jedem Brief ein Satz geschrieben. Ich verstand nicht, was es damit auf sich hatte, bis mir die Schwester einen weiteren Brief überreichte. Den einzigen Brief, der sich nicht in dem Karton befand.

„Dein Vater hat mich gebeten, dir diesen Brief zu geben. Er hat eine ganze Woche damit verbracht, diese Briefe zu schreiben und möchte, dass du sie liest. Sei stark.“ Die Krankenschwester hielt mich im Arm, während ich weinte.

Auf dem Briefumschlag stand: „Wenn ich tot bin“. Ich öffnete ihn.

Mein lieber Sohn,

wenn du das liest, bin ich bereits tot. Es tut mir leid. Ich wusste, dass ich sterben würde.

Ich habe es dir nicht gesagt, weil ich dich nicht weinen sehen wollte. Das ist mir gelungen. Ich finde, ein Mann, der bald sterben wird, darf ein bisschen egoistisch sein.

Wie du siehst, kannst du immer noch viel von mir lernen! Du hast nämlich auch wirklich von Tuten und Blasen keine Ahnung. Deswegen habe ich dir diese Briefe geschrieben. Du darfst sie immer erst vor dem jeweiligen Moment öffnen, OK? Das ist unser Deal.

Ich liebe dich. Kümmer dich um deine Mutter. Du bist ab jetzt der Mann im Haus.

In Liebe, dein Papa.

PS: Deiner Mutter habe ich keine Briefe geschrieben. Sie bekommt mein Auto.

Mit seiner krakeligen Handschrift hatte er es geschafft, dass ich aufhörte zu weinen. Drucken war damals noch nicht so einfach. Seine hässliche Schrift, die ich kaum entziffern konnte, beruhigte mich. Sie brachte mich zum Lächeln. Das war so typisch mein Vater. Wie der Witz vor dem Hausarrest.

Dieser Karton wurde das wichtigste in meinem Leben. Ich sagte meiner Mutter, dass sie ihn nicht öffnen sollte. Diese Briefe gehörten mir und niemand anders durfte sie lesen. Ich kannte all die Sätze auf den Briefen, all die Momente, vor denen ich sie öffnen sollte, auswendig. Aber es dauerte eine ganze Weile, bis es soweit war und diese Momente eintrafen. Und ich vergaß, die Briefe zu öffnen.

Sieben Jahre später, nachdem wir umgezogen waren, hatte ich keine Ahnung, wo ich den Karton hingetan hatte. Ich konnte mich einfach nicht daran erinnern. Und wenn wir uns an etwas nicht erinnern, ist es uns auch meistens nicht so wichtig. Wenn etwas in der Erinnerung verloren geht, heißt das nicht, dass es verloren ist. Es ist einfach nicht mehr da. Wie bei dem Kleingeld in der Hosentasche.

Das ist es, was geschehen ist. Als ich ein Teenager war, geschah, was mein Vater lange Zeit vorher bereits hatte kommen sehen. Der Grund dafür war der Freund meiner Mutter. Sie hatte schon verschiedene Freunde gehabt und ich hatte immer Verständnis dafür. Meine Mutter hat nie wieder geheiratet und ich ch weiß nicht, warum das so war, aber ich möchte gerne glauben, dass mein Vater die Liebe ihres Lebens war. Dieser besagte Freund allerdings war schrecklich. Ich fand, dass sie sich sich selbst demütigte, indem sie mit ihm zusammen war. Er hatte keinen Respekt für sie. Sie hatte weit Besseres verdient, als diesen Typ, den sie „in einer Bar” kennengelernt hatte.

Ich erinnere mich noch gut an die Ohrfeige, die sie mir gab, als ich das Wort „Bar” ausspukte. Ich gebe zu, dass ich es verdient hatte. Das habe ich über die Jahre verstanden. Als meine Wange immer noch firisch von der Ohrfeige brannte, erinnerte ich mich an den Karton mit den Briefen, an einen bestimmten Brief mit dem Schriftzug „WENN DU MIT DEINER MUTTER DEN SCHLIMMSTEN STREIT DER WELT HAST”.

Ich durchwühlte mein Zimmer auf der Suche nach dem Brief, wodurch ich mir eine weitere Ohrfeige einfing. Ich fand den Karton schließlich in einem Koffer auf dem Schrank. Natürlich, das Bermudadreieeck meines Zimmers. Ich blätterte durch die Briefe und bemerkte, dass ich vergessen hatte, WENN DU DEINEN ERSTEN KUSS BEKOMMST zu öffnen. Ich hasste mich dafür und beschloss, dass das der nächste Brief werden sollte, den ich lesen würde. WENN DU DEINE JUNGFRÄULICHKEIT VERLIERST war der nächste in der Reihe und ich hoffte, diesen Brief ziemlich bald öffnen zu können. Schließlich fand ich, wonach ich gesucht hatte.

Jetzt entschuldige dich bei ihr.

Ich weiß nicht, warum ihr streitet und ich weiß nicht, wer recht hat. Aber ich kenne deine Mutter. Daher kann ich dir sagen, dass eine ehrlich gemeinte Entschuldigung der beste Weg ist, euren Streit aus der Welt zu schaffen. Runter auf deine Knie und entschuldige dich bei ihr, Kind!

Sie ist deine Mutter! Sie liebt dich mehr als alles andere in dieser Welt. Wusstest du, dass sie sich für eine natürliche Geburt entschieden hat, weil sie gehört hat, dass das das Beste für dich sein würde? Hast du jemals gesehen, wie eine Frau ein Kind geboren hat? Brauchst du einen noch größeren Liebesbeweis?

Geh und entschuldige dich. Sie wird dir vergeben.

In Liebe, dein Papa.

Mein Vater war kein begnadeter Schriftsteller, sondern nur ein Bankangestellter. Aber seine Worte hatten eine starke Wirkung auf mich. Sie enthielten mehr Weisheit als ich in meinem 14-jährigen Leben hatte ansammeln können (auch wenn das nicht besonders schwer zu überbieten war).

Sofort ging ich in das Zimmer meiner Mutter und öffnete die Tür. Ich weinte, als sie sich zu mir umdrehte und mir in die Augen sah. Auch sie weinte. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was sie mir entgegenschleuderte. Wahrscheinlich etwas wie „Was zum Teufel willst du?” Woran ich mich erinnere, ist, dass ich auf sie zu ging, den Brief meines Vaters in der Hand. Ich umarmte sie, während sie das alte Papier in ihren Händen hielt. Sie umarmte mich und wir standen beide schweigend da.

Ein paar Minuten später, brachte der Brief meines Vaters sie zum Lachen. Wir schlossen Frieden und sprachen über ihn. Sie erzählte mir, dass eine seiner exzentrischsten Angewohnheiten war, Salami mit Erdbeeren zu essen. Irgendwie fühle es sich so an, als ob er direkt neben uns sitzen würde. Meine Mutter, ich und irgendwie auch mein Vater, oder zumindest ein Teil von ihm. Ein Stück von ihm, das er uns zurückgelassen hatte. Ein Stück Papier. Es fühlte sich gut an.

Es dauerte nicht lange, bis ich WENN DU DEINE JUNGFRÄULICHKEIT VERLIERST lesen durfte.

Gratuliere, mein Sohn.

Keine Sorge, mit der Zeit wird es besser. Das erste Mal ist nie gut. Meines geschah mit einer wirklich hässlichen Frau … die zufälligerweise auch noch eine Prostituierte war.

Meine schlimmste Angst war, dass du deine Mutter fragen würdest, was Jungfräulichkeit bedeutet, nachdem du gelesen hast, was auch dem Briefumschlag steht. Oder noch schlimmer, dass du liest, was ich gerade geschrieben habe, ohne zu wissen, was sich einen runterholen” bedeutet (du weißt, was das ist, oder?) Aber das geht mich doch eigentlich gar nichts an.

In Liebe, dein Papa.

Mein Vater begleitete mich durch mein gesamtes Leben. Er war immer bei mir, obwohl er nicht in meiner Nähe war. Seine Worte bewirkten, was noch niemand geschafft hatte: Sie gaben mir die Kraft, all die schwierigen Momente in meinem Leben zu meistern. Er würde immer einen Weg finden, ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern, auch wenn gerade alles ziemlich düster aussah oder ich so wütend war, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.

WENN DU HEIRATEST bewegte mich sehr, jedoch nicht so sehr wie WENN DU VATER WIRST.

Jetzt wirst du verstehen, was wahre Liebe ist, mein Sohn. Dir wird klar werden, wie sehr du deine Frau liebst, aber wahre Liebe ist, was du für diese kleine Bündel empfinden wirst. Ich weiß nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Ich bin ja auch nur eine Leiche, kein Hellseher.

Genieß es. Es ist toll. Die Zeit wird vergehen wie im Flug, d. h. sieh zu, dass du nichts verpasst. Verpasse keinen Moment mit deinem Kind, die verlorene Zeit wirst du nie nachholen können. Wechsel Windeln, bade das Baby, sei ein Vorbild für dieses Kind! Ich glaube, du hast das Zeug dazu, ein richtig toller Vater zu werden. Genau wie ich.

Der traurigste Brief, den ich je gelesen hatte, war auch der kürzeste Brief, den mein Vater schrieb. Als er diese vier Wörter schrieb muss er genauso gelitten haben wie ich, als ich diesen Moment durchlebte. Es dauerte eine Weile, aber eines Tages musste ich den Brief WENN DEINE MUTTER GESTORBEN IST öffnen.

Sie gehört jetzt mir.

Ein Witz. Ein trauriger Clown, der seine Traurigkeit hinter seinem Make-up verbirgt. Das war der einzige Brief, bei dem ich nicht lächelte, als ich ihn las, aber ich verstand, warum er ihn geschrieben hatte.

Ich hatte mich immer an die Vereinbarung mit meinem Vater gehalten. Ich las die Briefe nie, bevor der jeweilige Moment gekommen war. Mit einer Ausnahme: WENN DU MERKST, DASS DU SCHWUL BIST. Da ich mir ziemlich sicher war, dass ich diesen Brief nie würde öffnen müssen, beschloss ich, ihn zu lesen. Es war übrigens der witzigste aller Briefe.

Was soll ich sagen? Ich bin froh, dass ich tot bin.

Witz beiseite. Halb tot zu sein hat den Vorteil, dass man versteht, wie viel wir uns über Dinge aufregen, die überhaupt nicht wichtig sind. Denkst du wirklich, das ändert irgendwas, mein Sohn?

Du spinnst doch. Sei einfach glücklich.

Immer wartete ich auf den nächsten wichtigen Moment, den nächsten Brief. Die nächste Lektion, die mir mein Vater erteilen würde. Es ist erstaunlich, wie ein 27 Jahre alter Mann einem 85 Jahre alten Sack wie mir noch so viel beibringen kann.

Jetzt, da ich in einem Krankenhausbett liege, mit Schläuchen, die in meiner Nase und meinem Hals stecken, dank dieses verfluchten Krebses, blättere ich mit meinen Fingern durch verblasstes Papier auf der Suche nach dem einzigen Brief, den ich noch nicht geöffnet habe. Der Satz WENN DEINE ZEIT GEKOMMEN IST auf dem Umschlag ist fast verblichen.

Ich möchte ihn nicht öffnen. Ich habe Angst. Ich kann nicht glauben, dass meine Zeit hier abgelaufen sein soll. Es geht um die Hoffnung. Sie erinnern sich? Niemand will glauben, dass er sterben wird.

Ich nehme einen tiefen Atemzug und öffne den Briefumschlag.

Hallo Sohn, ich hoffe, du bist jetzt ein alter Mann.

Dieser Brief war der einfachste von allen. Und der erste, den ich geschrieben habe. Es war der Brief, der mich von dem Schmerz befreite, den ich ich fühlte. Den Schmerz darüber, dich zu verlieren. Ich glaube, wenn das Ende naht, wird der Geist klarer. Es ist leichter, darüber zu sprechen.

In meinen letzten Tagen dachte ich über das Leben nach, das ich gehabt habe. Ich hatte ein kurzes, aber glückliches Leben. Ich war dein Vater und der Mann deiner Mutter. Was wollte ich mehr? Durch diese Gewissheit fand ich innere Ruhe. Tu es mir nach.

Mein Rat an dich: Du musst keine Angst haben!

PS: Du fehlst mir.

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