Wie der “Reverse Culture Shock” mich aus dem Hinterhalt packte

Brigitta Buzinszki
7 min readOct 11, 2016

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Kulturschock ist in der Zeit unserer hohen Reisefreude schon lange ein Begriff. Was aber ist mit seinem oft verschwiegenen, ominösen Zwilling — dem “Umgedrehten Kulturschock”?

Nishiyama-Tennôsan, Kyôto — ©Brigitta Buzinszki

Genau ein Jahr verbrachte ich im Land der aufgehenden Sonne. Das Jahr 2014 bleibt mir immer gut und wertvoll in Erinnerung. Nicht, weil jeder Tag ein Zuckerschlecken auf rosa Wolken war — das waren nämlich herzlich wenige; sondern weil ich mich jeden Morgen darauf verlassen konnte, nie zwei Mal dasselbe zu sehen. Jede Situation war neu und anders, kein Moment vorhersehbar.
Auch wenn mich nach den ersten Monaten die Routine einholte, war ich durchgehend in der Fremde und das Fremde wurde mir vertraut.

Bevor ich die Reise antrat, wappnete ich mich für alles Mögliche: die automatischen Toiletten, die nie zuvor probierten Gerichte, die unangenehmen Momente bei Begrüßungen, weil man vor Nervosität plötzlich weder weiß, wer man ist, noch, ob eine Verbeugung oder ein Händedruck das Richtige wären.
Ich bereitete mich in einem Kurs über “Interkulturelle Erfahrungen” auf die mächtigen Unterschiede im Buisness- und Schulleben und den Umgang im alltäglichen Miteinander vor.
Andere Familienwerte, andere Phrasen; das Studium trimmte uns die ersten drei Semester zusätzlich darauf, auf Japanisch zu sprechen und zu denken. Wie ein Navy Seal also, stürzte ich mich auf das neue Terrain, bis zu den Zähnen hinauf scharf bewaffnet.

Die Bahn der Hankyû-Linie, Nishiyama-Tennôsan, Kyôto ©Brigitta Buzinszki

Hier ist alles — normal?

Worauf mich jedoch niemand vorbereitete, waren die Gemeinsamkeiten —
gleich der Zug in den wir nach der Ankunft in Tôkyo stiegen, fuhr im Takt der deutschen Regionalbahn; und genau wie Zuhause ließen sich die Menschen gelangweilt von einem gelegentlichen Ruck durchschütteln.
Ich hatte die letzten Stunden im Flugzeug damit verbracht, mir ein komplettes Jahr in einem Land auszumalen, das ich lediglich von Photos kannte; mein Kopf spielte bis zum Verlassen des Narita-Flughafens fröhlich mit meinen Gefühlen Ping-Pong, indem er ein Horrorszenario nach dem anderen aufwarf. Ich war drauf und dran an der ersten Begrüßungstafel “Welcome to Japan” sofort umzudrehen und in den nächsten Flieger zurück nach Deutschland zu steigen — Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Ein ganzes, verfluchtes Jahr bei wildfremden Leuten… Sayônara Nihon, danke, aber nein danke!
Aber nun sauste der Zug unter uns dahin; und alles war unglaublich geordnet und so herrlich normal. Das war alles, was ich mir denken konnte in dem Moment.
Ich war acht Stunden geflogen, aus Deutschland, Stuttgart bis nach Tôkyo, um in vier Tagen als Passagier auf dem Billig-Shinkansen nach Kyôto zu rasen — und ich merkte nichts von der Distanz.
“Es ist alles wie erwartet”, konnte ich nur im Hostel per Skype meinen Eltern berichten. Nichts fühlte sich seltsam an. Ich war im Ausland, ich war so unglaublich weit, weit im Ausland, aber wie wir es des Öfteren über einem Kaffee mit deutschen Freunden besprechen würden: “Japaner sind fast wie Deutsche” — und dann würden wir uns hassen, weil wir generalisierten. Aber das mussten wir notgedrungen fast ständig.

Tempel in Tôkyo ©Brigitta Buzinszki
Salem-Neufrach, Deutschland ©Brigitta Buzinszki

Und Zuhause ist alles anders

Wie sehr mich meine eigene Wahrnehmung täuschte, merkte ich erst rund ein Jahr später, als ich die Heimreise antrat.
Ich fuhr am Tag vor meines Rückfluges in Begleitung meiner Gastmutter an den Hauptbahnhof in Kyôto.
Ich druckste eine Weile mit dem Ticket in der Hand herum, bevor ich sie das erste — und bislang letzte Mal umarmte.
An dieser Stelle muss ich aufpassen, dass ich das Jahr nicht romantisiere. Wir haben gestritten, Kaffee getrunken, Süßigkeiten geteilt; wir sind ins Kino gegangen, haben heftig über Kleinigkeiten diskutiert und waren Bowlen und im Karaoke; wir haben furchtbar viel erlebt, wie es eben in einer Familie gang und gäbe ist. Und an dem Punkt war Schluss.
Ich stieg in den Billig-Shinkansen und war auch schon fort, sausend Richtung Tôkyo, Narita. Die zwei Bilder an der Seite sind lediglich drei Tage auseinander.
Genau wie der mächtige Unterschied zwischen den Plus fast 18 Grad in Tôkyo und den -2 Grad in Salem, Deutschland, genau so mächtig war auch der Schlag, den mir der Ausstieg aus dem Flieger am Stuttgarter Flughafen verursachte. Mein Auslandsjahr war nun vorbei. Und obwohl ich es noch Monate zuvor nicht geglaubt hätte: hier fingen meine Probleme erst an.

The bluest Blues - und die dauernden Beschwerden

Plötzlich störte mich alles, was mir vorher nicht einmal aufgefallen war: die unfreundlichen Damen und Herren hinter den Verkaufstheken, die zu hohen Kloschüsseln, die nasse Kälte, das viele Grau und auch, dass die Läden am Sonntag geschlossen hatten.
Ich fühlte mich in sozialen Situationen überfordert, weil die Leute nicht mehr daran interessiert waren, wie der Fisch denn schmeckte; wo man die besten Süßigkeiten, den feinsten Kuchen oder den frischesten O-Saft kaufen konnte. Sie wollten nichts von Farben, von Festen wissen; ob die neuen Klamotten in meiner Einkaufstüte denn kawaii waren — oder welche saisonalen Muster mir überhaupt besonders gut gefielen.
Nein, man fragte mich nach seltsamen Erlebnissen, ob China, Japan und Korea denn dasselbe seien und man wollte dann wissen, ob ich die neuen Nachbarn unserer Freunde denn genau so furchtbar fand, wie der Rest der Familie.

Japan ist kein Land, in dem ich dauerhaft leben möchte. Ich mag Deutschland äußerst gerne, danke sehr; mit seinen Ansätzen für Genderequality und generellem Bemühen für eine frauenfreundlichere Arbeitswelt sowie Gesellschaft.
Deswegen verwirrte es mich umso mehr, dass ich mich wie auf kleinen Nadeln fühlte. Wohin ich mich auch setzte, fand ich meinen Platz einfach nicht.
Das Fremde, an das ich mich gewöhnt hatte, das mir ein vertrauter Begleiter geworden war, löste sich auf, und auf einmal stand ich vor der Erwartung, mich zu fügen, weil ich doch zuhause war.

Straße in Kyôto ©Brigitta Buzinszki

Bevor wir nach Deutschland zurückreisten, sprachen wir in den letzten Wochen mit Freunden darüber, dass Japan eine “Blubberblase aus unerwarteten Möglichkeiten” sein konnte.
Meine Blubberblase platzte, als ich in meine neue Wohnung zog und urplötzlich am Morgen an dem kleinen, leeren Frühstückstisch saß; ohne Frühstück, weil es niemand mehr für mich vorbereitete und auch ohne Kaffee, weil die Bohnen nicht von selbst den Knopf an meiner alten Senseomaschine drückten. Ich war alleine in meinem grauen Alltag. Und das war alles, was mir blieb.

Orientierungslosigkeit oder auch: wo zum Teufel bin ich?

Das war eine der großen Fragen, die es nach dem Erlebten zu lösen gab. Wohin mit all dem Wissen, den Erlebnissen, die ich noch verdauen musste?
Und wer war ich nun außerhalb des alten, japanischen Kontextes?
Meine Manieren stimmten nicht mehr, ich wählte meine Worte zu vorsichtig, ich sei zu höflich für unsere Ellenbogengesellschaft, hieß es.
Aber was, wenn ich in Deutschland mein neues Ich, das ich in Japan kreiert hatte, doch irgendwie unterbringen wollte? Ginge das doch gar nicht?

Inzwischen weiß ich, dass es durchaus machbar ist, eine neue Identität in ein altes Umfeld einzufügen. Es braucht allerdings viel Zeit und Geduld — sowohl von der eigenen Seite, als auch von der Seite der Freunde und Familie.
Sie mussten sich alle damit abfinden, dass ich viel über Japan sprach und fremde Kulturen sowie die eigene Kultur mit neuen Augen betrachtete.

Die unter euch, die einen kleinen Ausflug in eine etwas andere Welt unternommen haben, wissen, dass man das eigene Zuhause aus der Fremde besonders unter die Lupe nimmt. Plötzlich wird es klar, wie viele Wege es gibt, die ein und dieselbe Sache zu tun.

Dass der eigene Weg dabei nicht “die eine richtige Art und Weise” ist — und die anderen nicht “seltsam”, sondern schlichtweg nur “anders” sind, ist ein Gedanke, auf den sich meine Eltern bis zum heutigen Tage nicht ganz einlassen können.
Sie können nicht nachvollziehen, wie sich rohes Ei essen lässt. Sie verstehen auch nur schwer, wie ich es für durchaus akzeptabel halten kann, die Bettwäsche seltener zu waschen, wenn man sie dafür jeden Tag raushängt, um sie von der “Sonne säubern zu lassen”.
Am Anfang führte das zu vielen, hitzigen Diskussionen mit Streitpotential.
Inzwischen lache ich und zucke die Schultern. Ich habe meine Meinung, andere haben ihre Meinung und das ist gut so.
In der Hinsicht bin ich ganz zen.

Vorbereitung ist alles

Damit ihr nicht derart den Boden unter den Füßen verliert, könnt ihr eine ganz wichtige Sache machen: wappnet euch.
Genau wie ich — wie ihr euch vor einem längeren Auslandsaufenthalt, mit der fremden Kultur anfreundet und euch auf diese einstellt, genau so muss auch eure Rückkehr gut vorbereitet sein.

Ihr macht einen mächtigen Schritt jeweils in beide Richtungen, weshalb der Schritt zurück ebenso überwältigend sein kann, wie der erste Schritt nach vorne.
Denkt darüber nach, was sich Zuhause verändert hat und verändern wird, sobald ihr wieder über die Türschwelle tretet. Das Essen, die Klamotten, die Natur und die Menschen — das alles kann einzeln oder kombiniert ein Auslöser für einen Kulturschock sein.

Jetzt, wo ihr jedoch wisst, auf was ihr achten müsst, kann euch der “Reverse Culture Shock” nicht mehr so leicht aus dem Hinterhalt erwischen.
Habt eine gute Reise!

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Brigitta Buzinszki

Lehrerin und Mutter // meine Meinung meist mit Humor verfeinert // Writes occasionally in English about Germany, Hungary and Brazil