Wir müssen die Empirie retten

Konrad Lischka
4 min readJul 26, 2016

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„Ist 2016 das schlimmste Jahr des 21. Jahrhunderts?“ Mit diesem Teaser verkauft gerade ein seriöses Nachrichtenmedium online einen klugen Text, der auf diese Frage natürlich keine Antwort gibt. Das geht nicht, nachdem nicht mal 16 Prozent des 21. Jahrhunderts vorbei sind. Davon abgesehen: Wie ist schlimm definiert? Egal. Ist 2016 nun das schlimmste Jahr? Dass so eine überdrehte Erwartung an einen journalistischen Text heute als Leseanreiz über dem Text steht, ist ein Symptom für wachsende Komplexitätsfeindlichkeit. Denke ich an die Reaktionen in Massenmedien und sozialen Netzen auf die Nachrichten der vergangenen Tage, sehe ich eine Krise des Erkenntnisgewinns mit empirischen Methoden. Fünf Gedanken dazu:

1. Menschen haben den Drang, sofort zu wissen, was los ist, bei wem die Schuld dafür liegt und was es bedeutet. Keine Wahrscheinlichkeiten, keine Hypothesen — die WAHRHEIT!

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen bringt diese Beobachtung hier gut auf den Punkt:

„Man weiß nichts Gesichertes, versucht aber, die Katastrophe irgendwie zu bändigen, indem man Anlauf nimmt, Gewissheiten zu präsentieren, die Anzahl der Toten, die Möglichkeit eines Terroranschlags.“

2. Die WAHRHEIT muss sofort nach einem Ereignis verfügbar sein. Dank des Netzes ist sofort heute noch eher.

Die Analyse der Ereignisse und die Debatte über mögliche Schlussfolgerungen läuft mit nahezu derselben Schlagzahl und Oberflächlichkeit. Es fallen binnen weniger Tage viele Schlagworte (Waffengesetz! Spiele! Sozialarbeit! Dunkelnetz!) und damit scheint die Debatte auch schon wieder vorbei zu sein. Wie kommt man hier zu gesicherten Erkenntnissen? Wie findet man zum Beispiel heraus, ob sich an der Verfügbarkeit von Waffen in Deutschland etwas ändert? Und wenn es Hinweise dafür gibt, dass illegale Waffen wirklich leichter zu beschaffen sind: Woran liegt das? Was lässt sich tun, was ist verhältnismäßig? Öffnen einer Packstation nur mit elektronischem Identitätsnachweis per Perso? Scanner in Paketzentren? Das sind zwei Möglichkeiten, die man diskutieren, durchspielen, verwerfen oder verwerten könnte, wenn denn der Versand von Waffen wirklich ein großes Problem ist. Aber so läuft die Debatte über Konsequenzen des Amoklaufs in München. Es läuft eigentlich gar keine Debatte, sondern ein Prozess, der ans Kartenlegen erinnert. Nur haben sich die Beteiligten nicht einmal auf ein Verfahren geeinigt, wie sie feststellen, welche Karte nun was sticht.

3. Dank des Netzes kommen sehr viele Hypothesen als WAHRHEIT daher. Das Angebot ist riesig, weil heute alle Menschen Medien machen.

Wie man zu gesicherten Erkenntnissen über die Welt kommt, haben sich in denen vergangenen Jahrtausenden kluge Menschen wie Aristoteles und Francis Bacon überlegt. Wir fahren mit dem Grundprinzip wissenschaftlicher Erkenntnis ganz gut, dass das Zustandekommen einer Aussage nachprüfbar und nachvollziehbar sein sollte. Eine Methode ist wichtig.

Uns kommt gerade nicht nur eine Methode abhanden, sondern das Verlangen nach einer methodischen Grundlage für Erkenntnis überhaupt.

Dass überhaupt eine Antwort sofort kommt und dass sie vehement vorgebracht wird, wiegt schwerer als ihre methodische Grundlage. Das ist Mist. Wenn sich eine Gesellschaft so verständigt, was zu tun ist, kommt es darauf an, mit welcher Wucht jemand seine Karten auf den Tisch knallt. Was da liegt, wird dann nicht mehr groß weiter diskutiert.

4. Wenn fast alle Menschen Medien machen, müssen viel mehr von ihnen methodisch einer Erkenntnis näherkommen.

Kluger Gedanke von Medienwissenschaftler Pörksen: Er sieht eine gewaltige Bildungsaufgabe — wir müssen den Schritt machen „zu einer Gesellschaft, in der wir alle uns die Frage stellen, die früher, in einer anderen Zeit, Journalisten stellten: Nämlich, was ist eine glaubwürdige, relevante und veröffentlichungsreife Information? Wir brauchen eine Ausweitung der publizistischen Verantwortungs-Zone.“

Das Problem dabei ist: Die Wahrheit ist oft nur das plausibelste, was die Evidenz hergibt, bis sie widerlegt ist. Die WAHRHEIT ist viel attraktiver als die Wahrheit, die sich nur widerlegen, aber nur selten schlussendlich beweisen lässt. Die bewährte Methode zum Erkenntnisgewinn ist harte, langwierige Arbeit und leider oft recht unbefriedigend. Das ist die Herausforderung: Wer empirisch argumentiert, muss oft ohne klare eigene Antworten sehr klare Antworten anderer in Frage stellen und abstrakte Methodik verteidigen.

5. Und wie machen wir das? Ein paar konstruktive Vorschläge.

Die Debatte ging heute früh auf Twitter los und ich war nach den ersten konstruktiven Vorschlägen gleich besser gestimmt. Vielleicht kommen ein paar im Forum oder unter #empirieretten dazu?

  • „Indem man die Verwirrten nicht ausschließt und ihre Sprache spricht. das ist imho der Fehler “hier”. Argumentation ist Arbeit.“ (Christoph Kappes)
  • Christoph Kappes: „Genau diese “redaktionelle Gesellschaft” entwickelt sich gerade. Hier in Social Media. So herum wird 1 Schuh draus.“ Thomas Cloer: „Das können viele Menschen nicht leisten, fürchte ich.“ Christoph Kappes: „Ja, aber das müssen sie ja auch nicht. Es reichen 10%. Ich sehe als Problem eher die Exklusion, Gruppenbildung.“
  • „Ich versuche Leuten zu erklären, dass es wichtig ist Fragen zu stellen, aber sinnlos die Antworten vorwegzunehmen.“ (Torsten Kleinz)
  • „Strebe nicht nach Wahrheit, sondern nach Arbeitshypothesen.“ (Torsten Kleinz)
  • Konrad Lischka: „Aber bei vielen Fragen gibt es keine absoluten Antworten und keine endgültige Gewissheit. Das erschwert’s.“ Torsten Kleinz: „Deshalb muss man sich bewusstmachen, wem man eher vertraut und dass man keine Gewissheit bekommt.“
  • „Bürger als Redaktionen sind langfristig überfordert. Es reicht meines Erachtens pragmatisch, wenn Nicht-Journalisten sich in Hochrisiko-Lagen ‚zurückschalten‘. Gleiches ist aber auch für den Journalismus / semi-prof. Formen DIE Verbesserung i.S. Pörksens: ‚Zurückschalten‘ statt ‚Aufblasen‘.“ (Sandor Ragaly)

Originally published at www.konradlischka.info on July 26, 2016.

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