Bericht: Altern im Kreise der Ersatzfamilie

Jemanden haben, auf den man sich verlassen kann und die Freiheit, eigenständige Lebensentscheidungen zu treffen — diese zwei Faktoren macht der von den Vereinten Nationen herausgegebene “World Happiness Report” als essentiell für das Glücksempfinden älterer Menschen aus. Viele Mexikaner finden diese Sicherheit innerhalb der Familie. ‘La Familia’ ersetzt in Mexiko häufig Sozial- und Gesundheitshilfe und ist gleichzeitig die Grundlage für wirtschaftliche Sicherheit. Im Alter wird dieses Solidaritätssystem umso notwendiger. Dann ist es Aufgabe der Jüngeren, sich um ihre Eltern und Großeltern zu kümmern.

Schrumpfende deutsche Familien

Diese Art der Familienverbindlichkeit hat in vielen Gesellschaften während der vergangenen Jahrzehnte immer mehr abgenommen. So auch in Deutschland: Weniger als die Hälfte aller Deutschen lebte laut der statistischen Erhebung Mikrozensus im Jahr 2013 in Familien. Vor 17 Jahren waren es noch 57 Prozent. Auch die Größe der Familien und das Zusammenleben haben sich während der vergangenen Jahre verändert.

Wie das Statistische Bundesamt ermittelte, lebten vor gut hundert Jahren noch durchschnittlich 4,5 Personen in einem Haushalt. Bis zum Jahr 2000 hat sich diese Zahl halbiert. Nicht nur wohnen immer weniger Familienmitglieder gemeinsam unter einem Dach, die Distanz der Kinder zu ihren Eltern hat sich zusätzlich vergrößert, bilanziert der Deutsche Alterssurvey. Junge Menschen leben meist zu weit weg von ihren Eltern und Großeltern, um sich im Alter um sie zu kümmern — ob aus beruflichen Gründen oder schlicht, weil es für sie immer mehr Möglichkeiten gibt, sich selbst zu verwirklichen. Die Realitäten individualisierter Gesellschaften beinhalten darüber hinaus hohe Scheidungs- und niedrige Geburtenraten.

Neue Herausforderungen

Angesichts der sich verändernden Altersstruktur verschärfen sich diese Trends in den kommenden 34 Jahren womöglich weiter. Im Jahr 2050 wird nur etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung im Erwerbsalter sein, der Anteil der über 65-Jährigen von 21 auf 30 Prozent gestiegen und circa 15 Prozent unter 20 Jahre alt sein — so die Prognosen des statistischen Bundesamtes. Laut Alterssurvey werden von den 70- bis 85-Jährigen nur sechs Prozent mit ihren Kindern oder Enkelkindern zusammenleben. Der überwiegende Teil wird voraussichtlich alleine oder mit einem Lebenspartner wohnen.

Je älter die deutsche Gesellschaft wird, desto notwendiger werden Alternativen der Altersbetreuung, der Pflege, des Renten- und Gesundheitssystems — und der Gestaltung des Zusammenlebens. Im Deutschland des Jahres 2050 könnte eine Wahlverwandtschaft aus vielen unterschiedlichen Menschen, die gemeinsam in einem alternativen Wohnprojekt leben, die Funktion der Familie übernehmen, mutmaßen Experten.

“Neue, gemeinschaftliche Wohnweisen”

In einem Interview mit der Zeitschrift sozialmagazin spricht Kathleen Battke, eine der Gründerinnen des Mehrgenerationenhauses in Bonn, über ihre Visionen und Vorstellungen für ein Leben im Jahr 2050. Eine der größten Herausforderungen sei es, Wohnraum zu schaffen, der “die Auflösung traditioneller Familienstrukturen, die Zunahme von Alleinlebenden sowie das Bedürfnis nach neuen, gemeinschaftlichen Wohnweisen berücksichtigt.”

Ältere Menschen, die länger, gesünder und finanziell abgesichert leben, können ihre letzten Lebensjahre oder gar Jahrzehnte aktiv gestalten. Denn während die Deutschen zwar immer älter werden, fühlen sie sich immer jünger — im Schnitt zehn Jahre, wie eine Generali Altersstudie 2013 darlegte. Die Zeit nach dem Renteneintritt sei ein eigener Lebensabschnitt geworden, der durch die Übernahme sozialer Rollen mit Sinn gefüllt werden müsse, argumentieren Susanne Wurm, Frank Berner und Clemens Tesch-Römer in der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen APuZ. Diesen Gedanken greift Kathleen Battke auf: Es sei nötig, “gesellschaftliche Räume zu schaffen, in denen Älterwerdende und Alte ihre Talente und Bedürfnisse als sinnstiftend erleben”. Solche Räume bestünden bereits heute, betont sie.

Bonner Generationenvertrag

In Bonn leben beispielsweise rund 70 Menschen zusammen in einem Wohnprojekt: ältere Paare, junge Familien, Alleinstehende. Wer dazugehören will, muss ein Bekenntnis zu den “Grundeinstellungen” des Vereins unterschreiben: “Interesse an einer verbindlichen Gemeinschaft”, “Mitgestaltung des Zusammenlebens”, “gegenseitige Hilfe und Unterstützung im Alltag” sowie eine “ökologisch verantwortlichen Lebensweise”. In der Praxis bedeutet das: Einige Bewohner müssen ihre Autos abschaffen, die Wohnungen gehören niemandem. Dazu kommen einige soziale Verpflichtungen, die nirgends festgeschrieben und doch existenziell für das Fortbestehen der Gemeinschaft sind. So kümmern sich etwa Ältere als Patengroßeltern um die Kinder berufstätiger Eltern. Jüngere verbringen einen Teil ihrer Freizeit mit älteren Alleinstehenden. Sie ersetzen Familienmitglieder, die zu weit weg oder gar nicht mehr leben.

Soziologen sprechen bei diesem Phänomen von Wahlverwandtschaft. Feuilletonisten von einem Generationenvertrag im Kleinen. Denn auch für Jüngere kann das Zusammenleben in Mehrgenerationenhäusern gewinnbringend sein. Überfordert von den vielen Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten, sehnen sich bereits heute wieder mehr junge Menschen nach Familienstrukturen.

Wohngemeinschaften, in denen Studenten mit älteren Menschen zusammenleben, verfolgen ein ähnliches Prinzip wie Mehrgenerationenprojekte. Statt Miete zu zahlen, helfen Jüngere im Haushalt, mähen den Rasen oder spielen Karten mit ihren älteren Mitbewohnern. Der Nachteil: Ein solches Zusammenleben ist oft nicht von Dauer. Studenten leben meist nur für kurze Zeit in einer Stadt, oft noch kürzer in ein und derselben Wohnung.

WG der alten Damen

Anders in einer Villa in Göttingen: Hier haben vor über 20 Jahren elf Frauen die Not zur Tugend gemacht und sind in eine selbst organisierte Alten-WG gezogen. Jede der Bewohnerinnen hat eine Aufgabe, muss sich beispielsweise um den Garten kümmern. Inzwischen ist die Göttinger Wohngemeinschaft jedoch gealtert — Aufgabenverteilung und Zusammenleben sind schwieriger geworden. Sogenannte Zwei-Generationenprojekte funktionieren meist nur so lange, wie eine jüngere, körperlich belastbarere Generation nachwächst.

Es ist wahrscheinlich, dass die Möglichkeiten für ein Leben im Jahr 2050 vielfältiger sein werden, als je zuvor. Letztlich wird es für junge wie alte Menschen noch immer darum gehen, in einer Gemeinschaft zu leben, in der sie dich verstanden und gebraucht fühlen — sei es im Kreise einer mexikanischen Familie oder in einem Mehrgenerationenhaus in Deutschland.

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