Bloß eine Frage der Sichtbarkeit — mit Disziplin

Rudolf T. A. Greger
Die Transformation
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2 min readOct 5, 2021

(Logbuch-Eintrag 20211003.0908) — Auch Sonntags beginnt es früh morgens zu denken. Aber das muss ja nicht unangenehm sein. Ich döse noch vor mich hin und überlege, warum man sich als Wissensarbeiter so unter Druck setzt. Man könnte doch fröhlich und entspannt dahin arbeiten.

Aber anders als beim körperlich Arbeitenden ist beim geistig Arbeitenden die Arbeit unsichtbar. Das Ergebnis. Der Bauer sieht das umgeackerte Feld, der Tischler sieht die Späne und riecht das Holz nach dem Hobeln, der Maurer verwandelt einen Stapel Ziegel in eine senkrecht stehende Wand, usw.

Früher stand man dann da, rauchte sich eine Zigarette an und betrachtete, was man geleistet hat. Man sah, warum man müde war. Man war auch ein wenig stolz darauf.

Es geht um die Sichtbarkeit der Arbeit, der Aufgaben, die man erledigt hat.

Ich arbeite viel, schreibe eMails für die ich zuvor tief nachdenken musste und am Abend sehe ich nicht was ich geschaffen habe. Die eMail-Box ist noch immer voll. Einiges ist noch zu lesen (was wohl nie passiert, das sind eNewsletter), anderes wartet und droht auch ein wenig auf Erledigung. Voll gearbeitet, gedacht, getippt, korrigiert, gesendet, weg.

Ich bin frustriert.

Nicht immer. Manchmal spürt man: heute war es großartig, heute ist es gut gelaufen. Ein Hochgefühl. Dann seh ich mich um. Warum eigentlich? Ich sehe nichts. Ok, es ist ein Gefühl — ein gutes. Ich lasse es auf mich wirken.

Das ist eine Wurzel der Prokrastination, denke ich mir. Ich mache lieber jene Aufgaben, deren Ergebnis sichtbar wird — rasch sichtbar wird.

Das ist bei Wissensarbeit ohnehin wenig (im vergleich zum Maurer, der auf die aufgezogene, kerzengerade Wand verweisen kann — eine Kunst).

Wenn das Buchmanuskript vorliegt, dann ist man zufriedener als wenn die eMails abgeschickt sind.

Obwohl, eine leere eMail-Inbox ist auch erfüllend (haha, Wortspiel).

Jedenfalls scheint mir das ein Grund zu sein, warum man manche Arbeiten nicht gleich erledigt. Die eMail ist aufwendig, das Manuskript auch, die Workshop-Vorbereitung sowieso. Einmal sehe ich nichts, beim zweiten drucke ich hundert Blätter aus, beim dritten bin ich einen Tag in Action und erlebe begeisterte, manchnal auch von mir überstrapazierte Zuhörer. Das ist Sichtbarkeit!

Ich muss diese unsichtbaren und doch höchst wichtigen Arbeiten also sichtbar machen.

Die Checkbox und der ToDo-Liste ist es. Dort kann sich der Wissensarbeiter seine Dopamin-Dosis holen; sein persönliches »like«.

Doch Obacht! Zu schnell verleitet das, die einfachen (meist unwichtigeren) Dinge vorzuziehen, nur für den Zweck das Häkchen setzen zu dürfen.

»Sichtbar machen, Ja — Disziplin aufgeben, Nein!« muss also das Credo lauten.

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Rudolf T. A. Greger
Die Transformation

Management Designer and Design Philosopher; a Business-Coach for Design-Thinking & Service Design; a Writer, Facilitator, and Public Speaker in Vienna, Austria