Das Consulting Manifesto für das 21. Jahrhundert — Einladung Zur Kollaboration

Thomas Euler
Digital Hills
Published in
8 min readMay 12, 2016

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Dies ist die Langfassung unseres Consulting Manifesto für das 21. Jahrhundert. Es beinhaltet neben dem eigentlichen Manifesto eine Einführung und einige Hintergrundinformationen. Wer wenig Zeit hat oder diese Version schon kennt, kann auf die Kurzversionen zurückgreifen. Diese finden Sie hier. Wenn dies Ihr erster Besuch ist, empfehlen wir jedoch die ‚Vollversion‘ zu lesen.

Consulting ist eine durchaus spezielle, heterogene Angelegenheit. Es ist eine Branche für smarte, ambitionierte Menschen. Wir schätzen großartige Frauen und Männer mit messerscharfem Verstand, die analytisch und strategisch denken können und bereit sind, einen großen Teil ihrer Zeit und Energie in ihre Arbeit zu stecken. Gleichzeitig ist Beratung im Kern ein People Business. Folglich spielen Empathie und Social Skills eine ebenso große Rolle für den Erfolg in unserer Branche. Das gilt insbesondere in den seniorigeren Karrierestufen , in denen es die Beziehung zum Kunden zu „managen“ und neues Geschäft zu akquirieren gilt.

Es ist eine Profession, die mit gewissen Schattenseiten einhergeht, doch ebenfalls mit einer Menge Vorteilen. In meinen inzwischen sieben Jahren in der Branche durfte ich mit Dutzenden tollen Klienten arbeiten und konnte wertvolle Beziehungen aufbauen. Mir war es vergönnt, etliche inspirierende Organisationen kennenzulernen. Und wenn ich mit Unternehmen arbeitete, die am straucheln waren, konnte ich eine ganze Menge davon lernen, die Wurzel ihrer Probleme zu identifizieren. Deshalb bin ich heute davon überzeugt, dass meine Arbeit als Berater einen großen Beitrag zu meiner eigenen Entwicklung geleistet hat

Lange Rede kurzer Sinn: Ich liebe den Beruf (zumindest meistens, was für einen Job immer noch ziemlich gut ist, vermute ich ;))

Aber wie es mit geliebten Dingen so ist, sind sie oft Ursache von und Grund für Sorge. Und ich bin besorgt ums Consulting. Es gibt kaum eine Firma, die derzeit nicht über digitale Transformation redet (wir selbst auch!). Eine der populären Kernbotschaften in diesem Kontext ist, dass unsere Kunden (radikal) hinterfragen sollten, wie sie ihr Geschäft betreiben — angefangen von der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle bis zur Neuerfindung ihres Organisationsmodells. Doch unsere Branche selbst ist, zumindest aus meiner Wahrnehmung, im Großen und Ganzen relativ behäbig, wenn es um die Veränderung der eigenen Praktiken und Standards geht.

Warum den Status-quo im Consulting hinterfragen?

Hier sind verschiedene Faktoren im Spiel. Zum einen ist es ziemlich einfach, Berater zu werden. Man drucke den Titel auf eine Visitenkarte und ist fertig (natürlich übertreibe ich ein wenig). Geringe Eintrittsbarrieren — wie könnten wir in einem Stück über die Beratungsbranche ohne Porter auskommen?! — gehen mit einer hohen Varianz an Ansätzen und Qualität einher. Natürlich gibt es viele exzellente Berater da draußen, genauso jedoch auch diejenigen, die den Titel recht leichtfertig nutzen. Während wir also alle das gleiche Label nutzen, variiert die Leistung, die der Kunde bekommt, stark. Was mir besonders aufstößt: Wie freimütig viele Unternehmen die eigentlich Produkte oder Services anbieten ebenfalls „Berater“ beschäftigen. Lehrte uns die Finanzkrise nicht, dass Berater, die gleichzeitig etwas verkaufen, eigentlich Verkäufer sind? Selbiges Prinzip gilt für jede Branche.

(Randbemerkung: Die geringen Markteintrittsbarrieren machen es Neuankömmlingen verhältnismäßig leicht, am Status-quo zu rütteln. Noch ein Grund, über neue Ansätze nachzudenken)

Zweitens beeinflusst Technologie schon heute das Geschäft und wird es künftig noch stärker tun. Eine der Kerntätigkeiten von Beratern in den letzten Jahrzehnten war Datenanalyse und das Ableiten von Erkenntnissen. Die mit Abstand meisten abrechenbaren Tage wurden für den Analyseteil verwandt. Wer jedoch ist deutlich effizienter (und besser!) beim Analysieren von Daten als ein Berater? Richtig, Computer bzw. künstliche Intelligenz. Ich bin mir bewusst, dass einige der großen Firmen daher mit Big Data und Automation-Projekten experimentieren und das ist gut so. Allerdings habe ich meine Zweifel daran, dass dies der einzige, geschweige denn beste Weg ist, wie unsere Branche innovieren kann. Solange Menschen Unternehmen führen [footnote]Zugegeben: Die Frage wie lange dies der Fall sein wird, könnte sich durchaus als berechtigt herausstellen, werden sie Bedarf an menschlichen Beratern mit einer neutralen Außenperspektive haben.

Was mich zu meinem dritten — und wichtigsten — Argument führt, warum ich glaube gut daran zu tun, über Veränderung in der Branche nachzudenken: Unserer Kunden Erwartungen und Bedürfnisse verändern sich auf diversen Ebenen. Unternehmensberatung wie wir sie heute kennen entstand zu einer Zeit, als wir über Management und Unternehmertum primär unter den Rahmenbedingungen der industrialisierten Welt nachdachten (vorhersagen & kontrollieren, die Planbarkeit von allem, inklusive der Zukunft etc.). Viele der Praktiken mit denen wir heute arbeiten, wurden von Wirtschaftsprüfungs- und Anwaltskanzleien übernommen. Seither hat sich die Welt allerdings verändert.

Photo by Danny Lopez via Flickr

Die alte & die neue Welt des Consultings

Lassen Sie uns den Beratungsansatz der alten Welt mit unseren Annahmen darüber kontrastieren, wohin sich Consulting entwickeln wird.

Der Beratungsansatz der alten Welt

  1. Top-down Ansatz für Top-down Organisationen
  2. Geschäftsmänner, die wissen wie die Welt funktioniert
  3. Geschäftsmänner, die wissen wohin sich die Welt entwickelt
  4. Geschäftsmänner mit Tabellen und Präsentationen
  5. Geschäftsmänner, die komplizierte Modelle entwickeln und einsetzen können
  6. Geschäftsmänner, die an BWL-Fakultäten wohl trainiert wurden
  7. Geschäftsmänner, die die Sprache von Geschäftsführern sprechen
  8. Geschäftsmänner, die das Schachspiel politischer Entscheidungsprozessen exzellent beherrschen
  9. Geschäftsmänner, die sehr gut darin sind, Verträge rechtzeitig zu erfüllen
  10. Ein Geschäft, das schlecht skaliert

Der Beratungsansatz der neuen Welt

  1. Netzwerk-Ansatz für Netzwerkorganisationen
  2. Menschen, die die Welt genau beobachten und reflektieren
  3. Menschen, die gute Ansätze haben, um mit einer ungewissen Zukunft umzugehen
  4. Menschen mit einer Vielzahl an Methoden, mit denen Wissen umsetzbar gemacht wird
  5. Menschen, die der Komplexität der Realität umgehen können
  6. Menschen, die geübt darin sind, kritisch zu denken
  7. Menschen, die die Sprache von Mitarbeitern aus allen Bereichen der Organisation sprechen
  8. Menschen, die Organisationen dabei helfen, politische Entscheidungsfindungsprozesse hinter sich zu lassen
  9. Menschen, denen der Ausgang ihrer Projekte am Herzen liegt
  10. Ein Geschäft, das skaliert

Basierend auf diesen Annahmen haben wir den ersten Entwurf unseres Consulting Manifestos entwickelt:

Das Consulting Manifesto für das 21. Jahrhundert

1. Consulting sollte kritisches Denken über die Anwendung von Lehrbuchmodellen stellen. Da die Komplexität in der Welt um uns herum ständig zunimmt, wird es essentiell, ständig zu hinterfragen, was wir glauben.

2. Consulting muss seine Ideen, sein Denken und seine Methoden kontinuierlich überdenken, anstatt starr bei einem Konzept zu bleiben, obwohl es Gegenbelege gibt — etwa weil wir Lizenzgebühren damit verdienen.

3. Consulting bedeutet, verständlichen Diskurs mit, Wissenstransfer zum und schließlich Befähigen des Kunden — anstatt ihn mit Fachjargon und (pseudo-)wissenschaftlichen Ansätzen zu überzeugen und überwältigen.

4. Consulting braucht exzellente Theorie, darf dort jedoch nicht stehen bleiben. Unser Anspruch muss sein, Resultate zu liefern, die in der echten Welt funktionieren. Das bedeutet, wir müssen unser Wissen praxistauglich machen, anstatt es bei solider Theorie zu belassen und die Implementierung zu vernachlässigen.

5. Consulting bedeutet, sich wirklich in die Organisation der Kunden einzubetten, anstatt bloß ein Besucher zu sein. Nur wenn wir bei Menschen in der gesamten Organisation Verständnis schaffen und Beziehungen aufbauen, werden unsere Projekte sichtbare Resultate erzielen.

6. Consulting sollte Wert auf Einsatz und Entwicklung von Sprache und Methoden legen, die nicht nur zum Top-Management sondern zu Stakeholdern auf allen Ebenen der Organisation sprechen.

7. Consulting sollte sich als Verbinder und Facilitator in den Organisationen unserer Kunden verstehen. Wir sollten danach streben, das dort liegende, kollektive Wissen zu aktivieren und anzureichern, anstatt uns als Heilsbringer für Unternehmen zu sehen.

8. Consulting muss unabhängig oder zumindest sehr transparent gegenüber Befangenheiten sein, die aus Geschäftsbeziehungen mit Firmen resultieren, die Folgeprodukte verkaufen. Das heißt, Integrität muss an erster Stelle stehen.

9. Consulting muss mit Bedacht den Balanceakt zwischen kopflosem Hype und bedeutsamer Innovation meistern. Wir müssen in den Mittelpunkt stellen, was Wert bei unseren Klienten schafft, statt zu versuchen Kapital aus dem neuesten Buzzword zu schlagen.

10. Consulting sollte sich verantwortlich für die Qualität der Entscheidungen fühlen, die unsere Arbeit nach sich zieht, anstatt einfach irgendeine Entscheidung herbeizuführen, um die Deadline des Kunden einzuhalten.

11. Consulting-Firmen müssen Orte der Inspiration sein, an denen vorausdenkende Menschen zusammenkommen, um ständig neue Ideen und Einsichten zu entwickeln, von denen ihre Kunden profitieren können. Daher sollte die Entwicklung von Menschen wichtiger sein, als eine Up-or-out-Kultur.

12. Consulting wird sich von einer Branche isolierter Unternehmen, die ihr intellektuelles Eigentum schützen, in ein kooperatives, kollaboratives Ökosystem entwickeln. Da sich Wissen schneller und freier verbreitet als jemals zuvor, stammt der von uns geschaffene Wert weniger aus unserem Wissen als vielmehr aus der Fähigkeit, es nützlich zu machen.

13. Consulting muss neue Ansätze für sein Geschäftsmodell finden, statt primär Zeit zu verkaufen. Geschäftsmodelle, die nicht gut skalieren werden künftig im Nachteil sein, etwa wenn es darum geht, die besten Talente zu gewinnen.

Iteration durch Dialog

Dies ist die erste Iteration. Da unsere Branche eine Menge smarter Menschen beschäftigt, bin ich sicher, dass wir brillantes Feedback zu Fehlern, Punkten die wir übersehen haben etc. erhalten werden. Zudem bin ich mir bewusst, dass längst nicht jedes Beratungsunternehmen allen Problemen anheimfällt auf die wir im Manifesto deuten. Ich spreche mit einer Menge Personen diverser Beratungen, von kleiner Boutique bis zu den Big Four, daher bin ich mir bewusst, dass zahlreiche Unternehmen einige oder gar die meisten der Punkte angehen. Dennoch bezweifle ich, dass irgendwer die Gleichung schon vollständig gelöst hat. Daher erscheint es mir sinnvoll, einen Dialog zu lancieren.

Formale Anmerkungen & Wie es weiter geht

Ein paar abschließende, technische Notizen: Das Manifesto wird basierend auf dem Input der „Crowd“, unserem Denken sowie neuen Entwicklungen in der Welt regelmäßig angepasst werden. Dies geschieht in den Kurzversionen, die ausschließlich das Manifesto beinhalten (DEU, ENG). Die Version hier wird nicht geupdatet, da sie als Referenzpunkt dienen soll.

Es handelt sich um ein Living Document. Wir veröffentlichen es unter einer Creative Commons Lizenz. Die Idee ist simpel: Wir wollen eine Diskussion über den gegenwärtigen und zukünftigen Stand der Zunft anregen. Daher wollen wir alle daran Interessierten dazu einladen, Input zu geben, das Dokument weiterzuentwickeln und es sich zu eigen zu machen — solange sie der Kernidee treu bleiben und es unter den gleichen Bedingungen zugänglich machen. Sie können es sogar gerne auf Ihrer eigenen Website einsetzen, wenn Sie den Aussagen zustimmen. Natürlich haben wir kein Qualitätsmanagement, daher sind Sie selbst verantwortlich, dem Manifesto gerecht zu werden. Ihren Input zum Manifesto können Sie direkt in Google Docs geben — alle Mitwirkenden werden natürlich bei der Veröffentlichung der nächsten Iteration in unsere Hall of Collaboration aufgenommen!

Das führt mich zu einem weiteren, wichtigen Punkt: Das Manifesto drückt ein Mindset aus, muss aber natürlich mit Praktiken unterfüttert werden, um aus der Theorie Realität zu machen. In den kommenden Wochen werden wir daher eine Ressource schaffen, in der wir Ideen sammeln, wie jeder Aspekt im Unternehmen manifestiert werden kann. Wir haben bei Eck Consulting Praktiken für die meisten eingeführt, jedoch nicht für alle. Und das ist Teil der Idee: Eine Sammlung zu entwickeln, die allen offen steht, denen die Profession wichtig ist. Jeder ist eingeladen beizutragen, so dass wir kollektiv besser werden können. Das beinhaltet selbstverständlich auch Vertreter der Kundenseite. Immerhin sind Sie im Mittelpunkt der Mission unserer Profession. Daher mag Ihre Perspektive gar die wertvollste sein! Falls Sie schon Ideen oder Methoden mit uns teilen wollen, bevor besagtes Dokument online ist, nutzen Sie einfach die Kommentarfunktion hier oder schreiben Sie uns eine Nachricht.

Nun mögen Sie sich fragen: Warum das Ganze? Immerhin handelt es sich quasi um das Gegenteil der Prinzipien, um die unsere Branche aufgebaut ist: Kreieren und verkaufen von geistigem Eigentum. Das stimmt. Doch heutzutage ist es kaum mehr möglich, Wissen überhaupt zu schützen. Außerdem sind wir Verfechter der Idee von Open Collaboration und glauben, dass jegliches Wissen nur wertvoll ist, wenn es in gute Praxis überführt wird. Deshalb ist es schlicht natürlich für uns.

Hier gelangen Sie zur Consulting Manifesto Übersichtsseite mit allen relevanten Inhalten.

Originally published at www.digital-hills.de on May 12, 2016.

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