Führung neu denken: Designprämissen fluider Führungssysteme
Die steigende Komplexität unserer Welt stellt Unternehmen vor einige Herausforderungen. Megatrends wie Digitalisierung und Globalisierung verlangen ihnen ab, sich ständig zu hinterfragen und neu auszurichten. Führung heißt heute mehr denn je, mit Unsicherheit und ständiger Veränderung umzugehen. Deshalb muss sie neu gedacht werden.
Immer mehr Unternehmen realisieren, dass ihre traditionellen Organisationsmodelle an Grenzen stoßen. Deshalb befassen sie sich mit Alternativen. Nicht selten ließt man in letzter Zeit von agilem Management, responsiven Organisationen und ähnlichen Ansätzen. Diese interdisziplinäre Bewegung, von mir andernorts als #neworg Movement bezeichnet, erprobt aktiv neue Lösungsansätze und entwickelt parallel die relevanten theoretischen Grundlagen. Es ist quasi hands-on Feldforschung mit dem Ziel, dynamischere, produktivere und bessere Organisationen zu entwickeln.
Wer sich mit Unternehmen und Organisationen befasst, weiß: Das ist kein leichtes Unterfangen ist. Denn das System Unternehmen ist komplex. Patentrezepte gibt es kaum. Dennoch kristallisieren sich in der Arbeit des #neworg Movements einige gemeinsame Prinzipien heraus. Verbreitet sind etwa dezentralisierte Autorität, Selbstmanagement und Eigenverantwortung. Mit dem vorliegenden Essay nehme ich mich des Themas Führung in neuen Organisationen an. Zunächst beleuchte ich, was Führung eigentlich ist und welche Probleme klassische Führungsmodelle oft verursachen. Darauf basierend entwickle ich Prämissen für das Design anderer, dynamischerer Führungssysteme.
Es ist eine Binsenweisheit: Unternehmen benötigen Führung. Wo viele Menschen zusammenkommen, um etwas zu schaffen, brauchen sie gemeinsame Ausrichtung und Koordination. Außerdem muss eine Organisation stets entscheidungsfähig sein. Zumindest ab einer gewissen Größenordnung ist es daher unpraktikabel — und vermutlich nie optimal — alle Entscheidungen im Konsens treffen zu wollen. Ohne Führung geht es nicht. Doch wie wir Führung heute in den meisten Unternehmen gestalten, verursacht einige Probleme.
Führung auf den Punkt gebracht
Lassen Sie uns im ersten Schritt einen Blick auf das Wort “Führung” werfen. Denn bei genauerem Hinsehen erweist sich, dass wir de facto eine ganze Menge Dinge meinen, wenn wir den Begriff nutzen. Hier mal eine kurze, keinesfalls vollständige Liste diverser Aufgaben, die sich hinter dem Begriff verbergen:
- Entscheidungen treffen
- Strategie & Ziele formulieren
- Mitarbeiter motivieren und inspirieren
- Mit gutem Beispiel vorangehen
- Eine gemeinsame Vision schaffen
- Eine Umgebung schaffen, in der Menschen wachsen und reüssieren können
Hinzu kommen noch die klassischen Führungsaufgaben, die ab einer gewissen Unternehmensgröße üblicherweise im mittleren Management verortet sind, z.B. Ressourcen- und Budgetplanung, Mitarbeiterbewertungsbögen ausfüllen, etc.
Was sich bislang so bequem in einen einzigen Begriff packen ließ, erweist sich bei näherer Betrachtung als umfangreiches Feld. Und ein heterogenes obendrein, wenn wir uns die unterschiedlichen Skill Sets vor Augen führen, die mit den einzelnen Aufgaben verbunden sind.
Der Status-quo des Designs von Führung
Mit diesem Wissen im Hinterkopf, lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, wie wir Führung in Unternehmen üblicherweise organisieren. Oder anders gesagt: Lassen Sie uns die Designprämissen herausarbeiten, nach denen Führung in den meisten Organisationen gestaltet ist.
1. Wenige Personen besitzen sämtliche Autorität
Führung ist dauerhaft an dedizierte Positionen gekoppelt. Diese wiederum werden fest von einzelnen Personen besetzt. Damit besitzen diese Personen, auch als Führungskräfte bekannt, die in der Organisation verfügbare Autorität und Macht. Der Grad von Macht und Einfluss variiert üblicherweise. Er ist abhängig vom hierarchischen Rang, den eine Führungskraft einnimmt, sowie von ihrem informellen Netzwerk, welches ebenfalls als politisches Kapital bezeichnet wird.
Die Effekte:
Mit diesem Gestaltungsprinzip geht einher, dass die Führung des Unternehmens extrem abhängig von einzelnen Personen ist. An anderer Stelle habe ich das Problem, natürlich mit einem Augenzwinkern, als “the good dictator issue” bezeichnet, zu Deutsch also das Gute-Diktatoren-Problem. Da einzelne Personen sämtliche Autorität besitzen, diese also zentralisiert ist, werden sie zu Schlüsselfiguren für den Erfolg einer Unternehmung.
Natürlich ist mitnichten ausgeschlossen, dass derart gestaltete Organisationen viele Dinge richtig machen. Motivierte Mitarbeiter, große Experimentierfreude, ein tolles Teamplay — all das findet sich in vielen Unternehmen, die mit zentralisierter Autorität arbeiten. Allerdings: Ob sie funktioniert, ist hochgradig abhängig von der jeweiligen Führungskraft und wie diese ihre Rolle ausfüllt. Sie sollte also ein “guter Diktator” sein.
In der Praxis kann man dies bestens beobachten. Unternehmen sprechen heute sehr gerne davon, eine Kultur zu haben. Ab einer gewissen Größe ist die Wahrheit allerdings, dass sie mehrere Kulturen haben. Wer sich in großen Organisationen bewegt, erlebt oft, dass Menschen aus Department A gänzlich anders arbeiten, agieren und kommunizieren als Menschen aus Department B. Sieht man genauer hin, ist der Unterschied zumeist darauf zurückzuführen, wie der jeweilige Leiter seinen Bereich führt.
Ein anderes Beispiel ist zu beobachten, wenn eine hochrangige Führungsposition neu besetzt wird. Nicht selten geht ein Wechsel des CEOs damit einher, dass sich die Unternehmenskultur merklich verändert. Übrigens keine neue Erkenntnis, sagt doch schon der Volksmund: “Der Fisch beginnt vom Kopf zu stinken” — oder positiv gedreht eben zu duften.
Aus systemischer Perspektive ist dies durchaus problematisch. Denn ob Führung so funktioniert wie intendiert, ist somit mehr oder minder zufällig (natürlich gibt es diverse Bemühungen, Führungskräfte zu schulen & incentivieren. So soll sichergestellt werden, dass sie ihre Rolle so ausführen, wie es das jeweilige Unternehmen wünscht. Doch diese Maßnahmen funktionieren, vgl. Beispiel 1, nur bedingt). Bereits eine einzige schlechte Wahl kann einen immensen negativen Einfluss haben, so sie eine entscheidende Funktion betrifft.
Im Zusammenspiel mit dem zweiten Problem, das zentralisierte Führung mit sich bringt, wird es besonders kritisch: Sie schafft ein Einfallstor für politisch motivierte Entscheidungen. Diese resultieren daraus, dass persönliche Interessen — Karrierechancen, Sympathie oder Antipathie, Machtinteressen etc. — nicht identisch mit Unternehmensinteressen sind (dies bezeichne ich als “problem of misalignment”. Ein Thema für sich). Ein plakatives Beispiel sind Entscheidungen, die den eigenen Einflussbereich minimieren würden. Sehr oft (und aus verständlichen Gründen!) entscheiden Machthaber in diesem Fall nach ihrem Eigeninteresse.
Beide Faktoren, das Gute-Diktatoren-Problem sowie Politik werden strukturell dadurch begünstigt, dass Führungsgewalt auf wenige, zentrale Köpfe verteilt ist.
2. Führung ist undifferenziert
Wie oben beschrieben, besteht Führung aus diversen Aufgaben — vom Treffen strategischer Entscheidungen bis zum Personal Coach für die eigenen Mitarbeiter. In den meisten Fällen kommen all diese Führungsaufgaben einem einzigen Manager in Personalunion zu. In der Praxis mögen sich in Teams informell andere Lösungen etablieren, dies geschieht allerdings nicht by design.
Die Effekte:
Die verschiedenen Aufgaben von Leadership erfordern unterschiedliche Skill Sets. Wer exzellenter Stratege ist, muss deshalb noch lange kein empathischer Coach sein. Dennoch können die diversen Aufgaben in einer Organisation mit zentralisierter Führung nur schwer voneinander entkoppelt werden. Von Top-Führungskräften wird erwartet, allen gerecht zu werden. Und selbst wenn sie die einzelnen Aufgaben verteilen wollten, wäre es schon alleine aus psychologischer Sicht so, dass sie letztlich qua ihres Ranges prägend auf ihre Mitarbeiter wirken. Denn wer die letztendliche Entscheidungsgewalt über meine Arbeit und meine Karriere hat, ist in der Regel derjenige, nach dessen Worten und Handeln ich mich ausrichte. Oder wie der Volksmund sagt: “wess’ Brot ich ess’, dess’ Lied ich sing”.
Den zweiten Effekt nenne ich ‘leadership eats talent’. Die meisten Menschen in Führungspositionen sind dort, weil sie in einigen Bereichen ihres Jobs exzellente Ergebnisse erzielt haben. Seien es fachliche Fertigkeiten oder Führungsskills. Sobald sie jedoch sämtliche Führungsaufgaben wahrnehmen müssen, bleibt ihnen automatisch weniger Zeit für andere Themen. Ich kenne viele Führungskräfte, die einen signifikanten Teil ihrer Arbeitszeit auf Themen wie Personaladministration, Ressourcenplanung oder Mitarbeitergespräche verwenden. Gewiss wichtige Aufgaben, doch haben sie wenig mit den heroischen Dingen gemein, an die wir denken, wenn wir von Leadership sprechen. Was auch immer die Kernkompetenz einer Führungskraft ist, dank der sie befördert wurde: Es bleibt ihr weniger Zeit dafür.
3. Diskrepanz zwischen vertikalen und horizontalen Entscheidungen
Eine vertikale Entscheidung ist eine top-down Entscheidungen, die eine Führungskraft im von ihr verantworteten Bereich trifft. Eine horizontale Entscheidung hingegen ist eine funktionsübergreifende Entscheidung, die von verschiedenen Managern gleichen Ranges getroffen wird. Beide folgen unterschiedlichen Logiken.
Vertikale Entscheidungen kann die Führungskraft top-down alleine und in autokratischer Manier treffen. De facto stehen viele Entscheider zwar dennoch mit ihren Mitarbeitern im Austausch und lassen sich von ihnen beeinflussen, jedoch geschieht dies rein informell und nicht qua Design. Positiv ist zumindest, dass vertikale Entscheidungen in der Regel eine klar definierte Struktur besitzen, die in allen Zweifelsfällen und Konfliktsituationen greift.
Im Gegensatz dazu ist die horizontale Entscheidung in vielen Unternehmen ein ganz anderes Thema. Verlässt eine Entscheidung meinen eigenen Einflussbereich, muss ich meine Führungspeers involvieren. In Zeiten steigender Komplexität und zunehmend interdisziplinären Projekten, wird diese Entscheidungstypologie zur Regel. Entscheidungen werden dann in Gremien getroffen, den berühmt-berüchtigten Lenkungs- bzw. Steuerungskreisen, Management Boards etc., in denen dann diverse Abteilungs- oder Bereichsleiter um Entscheidungen ringen.
Von diesen kenne ich zwei Klassen: Die erste hat einen speziellen Mechanismus, um Entscheidungen zu treffen (einfachere Regelungen geben vor, ob eine einfache oder 2/3 Mehrheit benötigt wird, ausgefeiltere erklären auch das Vorgehen). Die zweite Klasse verfügt über keine derartigen Mechanismen, operiert also quasi nach Gutdünken. Was beide Typen von Gremien in der Praxis oft eint: Sie streben nach Konsens. Dies beeinflusst einerseits die Ergebnisse der Entscheidung (wertfrei zu verstehen), vor allem aber die notwendige Zeit, um sie zu treffen.
Die Effekte:
Entscheidungen werden asynchron getroffen, teilweise in intransparenten Verfahren und aus unklaren Motiven. Beides ist aus vielerlei Gründen nicht wünschenswert:
- Mitarbeitern, denen unklar ist, nach welchen Kriterien Entscheidungen getroffen werden — besonders, wenn sie zu ihren Lasten gehen — werden dadurch demotiviert. Im schlimmsten Fall hören sie damit auf, neue Ideen ins Unternehmen einzubringen. Die innere Kündigung lässt grüßen.
- Insbesondere vertikale Entscheidungen haben das Problem, dass der Entscheider keine Rechenschaft schuldig ist. Es mangelt an einem Incentive, über seine Beweggründe zu kommunizieren. Noch gravierender: Es öffnet die Tür für Entscheidungen, die dem persönlichen Vorteil und nicht der Organisation dienen.
- Die bei horizontalen Entscheidungen bestehende Unklarheit darüber, wie Entscheidungen getroffen werden, kostet Zeit und Nerven. Projekte bleiben in den berühmt-berüchtigten Entscheidungsmühlen hängen. Das Unternehmen verliert an Geschwindigkeit. Manch eine Entscheidung wird erst gar nicht getroffen, da die Lage zu verfahren ist.
4. Das Ober-sticht-Unter-Prinzip
In sämtlichen hierarchisch strukturierten Organisationen gilt im Zweifel eine Regel, die dem bayerischen Kartenspieler bestens bekannt ist: Ober sticht Unter.
Zwar reden wir heute immer mehr über Hierarchieabbau, Empowerment & Co., doch der primus inter pares bleibt der primus. Kommt es hart auf hart, hat “Chef” die Macht, sämtliche unter ihm getroffenen Entscheidungen zu revidieren.
Die Effekte:
Das Ober-sticht-Unter-Prinzip führt zu einem wohlbekannten Effekt: Dem notorischen Hang zur Absicherung. Selbst wenn eine Entscheidung in meiner Gewalt liegt, halte ich lieber eine Rücksprache mehr mit meinem Chef (und, je nach Projekt, dieser wiederum mit seinem Vorgesetzten usw.).
Verstehen Sie mich nicht falsch: In vielen Fällen hat dies durchaus seine guten Seiten. Etwa wenn in einer funktionalen Organisation über Themen befunden wird, die bereichsübergreifende Implikationen haben. Denn da Informationsflüsse, besonders abteilungsübergreifende, meist top-down organisiert sind, erhalte ich nur durch diese Abstimmungsketten ein umfassendes Bild. Auch ist auf diese Weise sichergestellt, dass eine gewisse Perspektivvielfalt sowie Erfahrungswissen involviert ist.
Die Schattenseiten des Ober-sticht-Unter-Prinzips liegen jedoch auf der Hand: Entscheidungsprozesse dauern durch diese “Delegation nach oben” merklich länger, die Entscheidungsträger sind mit jeder weiteren Ebene nach oben weiter vom Gegenstand der Entscheidung entfernt und — vielleicht am schwerwiegendsten: Die Bereitschaft Entscheidungen zu treffen nimmt mit jedem Hierarchielevel nach unten ab, selbst wenn die theoretische Legitimation bestünde. Man züchtet brave Lämmer; in etwa das Gegenteil der dynamischen Machertypen, die sich Unternehmen heute wünschen, wenn sie von Intrapreneuren sprechen.
5. Entscheidungs- und Fachkompetenz sind nicht identisch
Diesen Punkt habe ich schon angedeutet, will ihn allerdings noch einmal herausstellen. Die Personen, die Entscheidungen treffen sollen, sind oft nicht diejenigen, die besonders fachkundig sind, was den Gegenstand der Entscheidung anbelangt.
Ich will den Punkt mit einem lebensnahen Beispiel illustrieren. Ein Marketing-Team befasst sich mit der Einführung einer neuen Technologie, beispielsweise einer komplexen Marketing-Automation-Lösung. Das Team hat zeitig erkannt, dass es sich um ein Thema handelt, das diverse Abteilungen im Marketing und sogar im Service und Vertrieb berührt. Deshalb wurde mit Vertretern der einzelnen Teams gesprochen und ein Plan entwickelt, den alle Involvierten auf operativer Ebene für gut befinden. Das Konzept ist fertig ausgearbeitet, es wird dem Verantwortlichen fürs Online-Marketing vorgelegt.
Dieser sieht die Komplexität und will nicht alleine entscheiden. Er schaltet den Marketingleiter ein. Weil dieser ein Kompetenzgerangel mit dem Vertriebsbereich scheut, zögert er die Entscheidung zunächst heraus. Nach einigen Wochen — das Projektteam gibt keine Ruhe — entscheidet er schließlich, dass der Vorstand entscheiden muss. Also kondensiert das Team die Ergebnisse seiner wochenlangen Arbeit auf ein zehnseitiges Chartdeck, das in die monatliche Vorstandssitzung eingebracht werden soll. Nachdem man schließlich zweimal von der Agenda flog, ist das Thema nach drei Monaten endlich im Gremium. Dort wird der Vorschlag nach fünfzehn Minuten Diskussion auf Eis gelegt. Die Entscheidung erscheint zu heikel, der Nutzen zu diffus.
Nun könnte man natürlich argumentieren, die Entscheidung sei nicht gut genug vorbereitet gewesen, das Chartdeck habe den Nutzen nicht klar genug herausgestellt. Doch es gibt noch einen anderen Erklärungsansatz: Gerade in einem technologisch geprägten Fall wie dem skizzierten, sind komplexe Zusammenhänge am Werk, die schlicht nicht in 15 Minuten vermittelt werden können. Eine fundierte Entscheidung hierüber bedingt, sich tief in das Thema einzuarbeiten. Doch wer die Kalender der Top-Manager kennt, weiß: Dafür bleibt kaum Zeit, insbesondere nicht, wenn es sich um ein “kleines” Thema handelt.
Die Effekte:
Das Design des Entscheidungsprozesses führt zwangsläufig dazu, dass die Entscheidungsträger oftmals nicht über fundierte Kenntnisse in den Materien verfügen können, über die sie entscheiden müssen. Dies sorgt dafür, dass nicht die bestmöglichen Entscheidungen getroffen werden.
Neben der reinen Kompetenz kommt noch ein weiterer Faktor hinzu: Entscheidungsträger müssen über Themen entscheiden, die ihnen persönlich schlicht nicht wichtig sind. Dies hat positive Seiten, etwa eine kritische Distanz zum Entscheidungsgegenstand. Aber auch eine große Schattenseite: Ist mir ein Thema nicht wichtig, nehme ich es nicht ernst, widme ihm also weniger Zeit in der Vorbereitung und treffe vielleicht nicht die bestmögliche Entscheidung, da es an wichtigem Kontext mangelt. Ich bin geleitet von meiner subjektiven Wahrnehmung des Themas und nicht von dessen tatsächlicher Relevanz.
Beide Effekte können wir besonders ausgeprägt beobachten, wenn es um neue Themenfelder geht, mit denen die Entscheider in ihrer Vergangenheit kaum Berührungspunkte hatten. Gerade Technologie ist, siehe oben, hier natürlich Paradebeispiel. Fragen Sie nicht, wie viele Führungskräfte ich vor fünf, sechs Jahren getroffen habe, die in Frage stellten, ob “dieses ganze Internetgedöns” relevant sei, nur, weil sie selbst keine Berührungspunkte damit hatten. Sie sind Opfer ihrer selektiven Wahrnehmung.
(Der Umkehrschwung kann natürlich auf dem Fuße folgen. Ich kenne persönlich mehrere Fälle, in denen Topmanager ihr Team aus dem Nichts plötzlich darauf ansetzten, eine “Social Media Strategie” zu entwickeln, weil ihre Kinder ihnen am Wochenende Facebook erklärt hatten. Natürlich ein Fall von — nicht besserem — Aktionismus)
Fassen wir also zusammen, wie Führung heute i.d.R. designet ist:
- Führung ist fest an Funktionen und damit einzelne Personen gebunden
- Führung wird undifferenziert als eine singuläre Aufgabe behandelt, obwohl sie de facto mehrere Dimensionen hat, die unterschiedliche Skills erfordern
- Vertikale Entscheidungen in der eigenen Linie können top-down in autokratischer Manier getroffen werden, wohingegen horizontale, übergreifende Entscheidungen meist konsensorientiert fallen.
- Entscheidungen werden, strukturell bedingt, gerne “nach oben delegiert”
- Die Entscheidungskompetenz ist nicht identisch mit der Fachkompetenz in der Domäne des Entscheidungsgegenstands
Die Alternative: Fluide Führungssysteme
Es stellt sich also die Frage: Können wir Führung auch anders designen? Denn nochmal: Dass es Führung braucht — oder präziser: die Erfüllung aller Aufgaben, die unter dem Begriff verstanden werden — ist völlig unstrittig. Die Art und Weise, wie sie in der Unternehmenspraxis gestaltet wird, ist jedoch veränderbar. Viele der skizzierten Probleme können behoben oder zumindest deutlich gelindert werden, wenn Führung mit anderen Designprämissen gedacht wird. Hier kommen fluide Führungssysteme ins Spiel.
Fluide Führung im Kontext der #neworg Bewegung
Mit dem Begriff fluide Führung beschreibe ich den Ansatz, Führung in Organisationen nicht statisch und zentral, sondern situativ und dezentral zu organisieren. Dies ist keine neue Idee. Seit geraumer Zeit setzt sich eine ganze Reihe von Menschen und Organisationen mit der Frage auseinander, wie wir Unternehmen und Organisationen besser organisieren können. Die Protagonisten des #neworg Movement arbeiten alle daran, mehr Agilität und Innovation in Organisationen zu ermöglichen und die mit zunehmendem Reifegrad einer Unternehmung wachsende Neophobie einzudämmen, die sich als Beharrungskräfte äußern (“Das haben wir schon immer so gemacht”).
Darunter finden sich Wissenschaftler, Autoren und Praktiker gleichermaßen: Frederic Laloux, Aaron Dignan, Mike Arauz, Niels Pfläging, Brian Robertson, Peter M. Senge, Peter Drucker (als früher Impulsgeber), McChrystal Group, August, Stowe Boyd, HolacracyOne, Bastian Wilkat, The Ready, Mark Kuznicki, uvm.
Und es gibt ebenfalls diverse Organisationen, die auf neue Formen der Organisation setzen, etwa: Buffer, Medium, Zappos, Buurtzorg, Patagonia, Spotify, Valve, Morning Star, u.a.
Mit dem Konzept der fluiden Führung greife ich auf diverse ihrer Arbeiten und Ansätze zurück und abstrahiere diese. Damit will ich zu einem fundierten, präzisen Problemverständnis beitragen. Dies stellt die Grundlage dafür dar, individuelle Organisationsformen zu entwickeln, welche die oben geschilderten, negativen Effekte klassischer Organisation vermeiden oder zumindest reduzieren. Denn das Feld ist noch jung, weshalb alle Lösungen einen experimentellen Status haben. Zudem ist Organisation keine One-Size-Fits-All Angelegenheit. Es ist wenig erfolgsversprechend, schlicht eine Methode oder ein fertiges Betriebssystem vom Schlage eines Holacracy einzuführen und das Problem als gelöst zu deklarieren.
Sinnvoller ist es, dem Gedanken des First Principle Thinkings folgend, die Designprämissen zu identifizieren, auf denen ein Lösungsansatz basieren sollte. Mit diesem gedanklichen Rüstzeug ist es sodann möglich, die Prämissen in Praktiken und Ansätze zu überführen, die in der eigenen Organisation Anwendung finden.
Die Organisation als System
Wenn ich von “Führungssystemen” oder “Designprämissen” spreche, steht dahinter eine systemische Perspektive auf Organisationen. Es hat sich in der aktuellen Literatur über Organisation mittlerweile weitestgehend etabliert, die Organisation nicht länger als mechanistisches Gebilde, sondern als ein komplexes, sich ständig veränderndes System zu betrachten.
Vor diesem Hintergrund kommt den Leitprinzipien, mit deren Hilfe wir das System Organisation koordinieren, um ihm Richtung zu geben, immense Bedeutung zu. Denn sie haben einen großen Einfluss darauf, wie sich die Akteure im System verhalten - also die Menschen, die unsere Organisationen konstituieren. Die Leitprinzipien stellen sozusagen die Spielregeln dar, nach denen operiert wird. Was abstrakt klingt, kann ein Beispiel schnell ins Konkrete überführen: Die meisten Unternehmen nutzen ein Verfahren zur Budgetvergabe. Dessen Ausgestaltung bedingt, wie sich Mitarbeiter verhalten, wenn sie Geld benötigen. Sie fertigen beispielsweise kurz vor Jahresende ihren Budgetplan für das komplette Folgejahr an oder laufen mit einer Idee zum Chef, der ad hoc Gelder freigibt.
Gleichzeitig haben viele Regeln auch Folgen, die wir initial nicht absehen. Im Englischen spricht man von unintended consequences, im Deutschen von unbeabsichtigten Folgen. Bleiben wir bei unserem Beispiel zur Budgetvergabe: Die Organisation setzt auf eine jährliche Budgetvergabe, die sich am tatsächlichen Mitteleinsatz der Unternehmensbereiche im Vorjahr orientiert. In der Praxis führt dies dann dazu, dass die Bereiche vor Jahresende alles unverbrauchte Budget schnell noch ausgeben. Zum Beispiel für tonnenweise Broschüren, die dann im Keller stehen.
Artverwandt sind die sogenannten Second oder Third Order Effects, die Entscheidungen nach sich ziehen (ich nutze die Englische Terminologie, da es im englischen Sprachraum deutlich mehr Literatur zu den Themen gibt). Was heißt das?
- Eine Ursache hat eine (oder mehrere) direkte Wirkung(en) bzw. Folge(n)
- Diese Folge wiederum hat ebenfalls Wirkung(en) und so weiter (gut illustriert in diesem Paper).
Übertragen auf unser Budgetbeispiel führt also die Einführung des besagten Budgetvergabeverfahrens in erster Ordnung dazu, dass am Jahresende Geld für eigentlich nicht benötigtes ausgegeben wird. In zweiter Ordnung führt dies dazu, dass eben jene Mittel nicht anderweitig zur Verfügung stehen. Daher kann im nächsten Jahr ein kleineres F&E-Projekt nicht durchgeführt werden. Wenn sich dann ein anderes Unternehmen kurz darauf erfolgreich mit eben jenem Unterfangen befasst und einen Welthit landet, dann haben wir in dritter Ordnung also eine Menge Geld nicht verdient. Sie merken: Hier wird es schnell komplex. Das liegt in der Natur der Sache: Es ist extrem schwer, 2nd und 3rd Order Effects zu antizipieren; man kann kaum für sie planen und designen.
Vor diesem Hintergrund sind die Designprämissen bewusst beschränkt in ihrer Zahl, quasi auf das Wesentliche reduziert. Gleichzeitig sind sie als Leitplanken zu verstehen, die mit präzise gefassten Methoden und Vorgehen praxistauglich gemacht werden müssen. Diese sollten jedoch stets als veränderbar betrachtet werden. Sie stehen sozusagen dauerhaft auf dem Prüfstand. Rufen sie unbeabsichtigte Folgen hervor oder erfüllen nicht länger ihren Zweck? Dann ist es Zeit, sie pragmatisch zu ersetzen oder modifizieren. Die grundlegende Prämisse hingegen sollte deutlich konstanter sein.
Designprämissen fluider Führungssysteme
1. Führung von Funktionen entkoppeln und somit anlassbezogene Führung ermöglichen
Dies ist der Kern fluide gestalteter Führungssysteme. Statt Führung statisch an eine Funktion (und damit eine Person) zu knüpfen, ist sie in der Organisation sozusagen “frei verfügbar”. Jedes Mitglied der Organisation kann sich situativ passend Führung “nehmen”. Erkennt ein Kollege in der IT, dass es dringend eine Änderung in der Systemlandschaft braucht, dann kann er sich dieses Themas annehmen, ein entsprechendes Projekt initiieren und dieses mit all seiner Initiative (und Passion!) vorantreiben. Außerdem ist er in der Lage, sämtliche mit dem Thema verbundenen Entscheidungen zu treffen.
Er trägt also die Verantwortung für das Thema, da er sie ergriffen hat. In gewisser Weise hat er die Rolle einer Führungskraft inne. Jedoch nur für den einen Anlass. In Organisationen, die Führung fluide organisieren, ist es ohne weiteres möglich, dass Kollege A in einem Projekt eine Führungsrolle innehat und Kollege B ihm zuarbeitet, während in einem anderen Projekt Kollege B die Führung übernimmt und Kollege A ihm zuarbeitet.
Hinter diesem Konzept stecken mehrere Gedanken, die von anderen Vertretern des #neworg Movements bereits artikuliert wurden:
- Menschen sind perfekte Sensoren, um Spannungen in der Organisation zu identifizieren und Handlungsbedarfe zu erkennen. Häufig fehlt es jedoch an einer Möglichkeit, um die identifizierten Bedarfe in Handlung zu überführen. Dies ist eines der Themen, das z.B. Brian Robertson mit Holacracy in den Fokus stellt und einer der Punkte, die ich auf der Habenseite des Systems verorte.
- Führung obliegt im Bestfall den Menschen, die eine Sache intrinsisch motiviert angehen. In den letzten 10 Jahren wurde jede Menge zum Thema Motivation geforscht und es setzt sich klar die Erkenntnis durch, das intrinsische Motivation der extrinsischen deutlich überlegen ist, wenn es darum geht, glückliche und engagierte Mitarbeiter zu haben.
- Führungs- und Fachkompetenz sind deckungsgleich. Ich habe das Problem einer zu großen Diskrepanz zwischen Führungs- und Fachkompetenz weiter oben erklärt. In dem Moment, in dem Mitarbeiter in der Lage sind, selbst Entscheidungen über ihre Themen zu treffen, ist dieses ausgemerzt. Übrigens ist die Notwendigkeit stärker distribuierter Entscheidungen längst nicht nur in progressiven Zirkeln wie dem #neworg Movement erkannt. Gängige Management-Trends wie das (zu kurz greifende) Empowerment basieren ebenfalls darauf.
Diese erste Prämisse kann natürlich nur erfolgreich in den organisatorischen Alltag implementiert werden, wenn ein paar Bedingungen erfüllt sind:
- Es braucht klare, verbindliche und allen Akteuren in der Organisation bekannte Verfahren, wie Entscheidungen getroffen werden. Dieser Punkt ist existentiell, weshalb ich ihn gar nicht genug betonen kann. Sehr häufig sind die Verfahren, wie Organisationen Entscheidungen treffen, nur bedingt definiert. Natürlich gibt es oft gewachsene und damit implizite Vorgehensweisen, doch diese sind für fluide Führungssysteme nicht ausreichend. In hierarchischen Systemen mag der Mangel an Klarheit auch suboptimal sein, doch im Zweifel gibt es immer einen Vorgesetzten, an den man sich wenden kann. In fluiden Systemen fehlt dieser, weshalb dem Prozess eine entscheidende Bedeutung zukommt. Er sorgt dafür, dass alle Akteure ein einheitliches Verständnis davon haben, wie in der Organisation Entscheidungen getroffen werden. Zudem regelt er, wie und in welcher Form weitere Akteure in den Entscheidungsprozess einzubinden sind. Und er stellt sicher, dass sämtliche für die Entscheidung relevanten Perspektiven involviert sind, z.B. der Detailblick ebenso wie das Big Picture. Der Prozess ist also, wenn man so will, der neue Vorgesetzte, der den Akteuren Orientierung gibt. Beispiele, für in der Praxis eingesetzte Konzepte, sind zum Beispiel der von Frederic Laloux beschriebene Advice Process, das SPADE System oder das (nicht auf fluide Führungssysteme beschränkte) Decision Role Model von Paul Konnersmann.
- Ebenfalls von absolut kritischer Bedeutung ist die freie Verfügbarkeit von Information für alle Akteure in der Organisation. Gute Entscheidungen bauen auf einer guten Datenlage. In herkömmlichen Organisationen ist der Zugang zu relevanten Informationen häufig Managern vorenthalten und selbst in deren Fällen oft nur selektiv, abhängig von ihrer hierarchischen Aufhängung und Funktion. Will man Entscheidungsbefugnis und Autorität deutlich stärker dezentralisieren, dann muss dies auch für Informationen und Daten gelten. Andernfalls fehlt schlicht die Grundlage, auf der gute Entscheidungen fußen. Denn ein freier Informationsfluss sorgt für Synchronisierung der einzelnen Akteure und Subsysteme der Organisation. Deshalb setzen Organisationen wie das niederländische Buurtzorg oder die Internet-Company Buffer auf einen extrem hohen Grad an Transparenz. In Buffers Statuten heißt es: “Default to Transparency”.
- Last but not least: Sämtliche Akteure in einem fluiden Führungssystem benötigen ein gemeinsames Verständnis des Purpose der Organisation. Der Purpose-Begriff hat sich in der angelsächsischen Organisationsliteratur in den letzten Jahren durchgesetzt. Er hat diverse Konnotationen, die im Deutschen nur schwer mit einem Wort zu fassen sind. Ich beschreibe ihn immer mit dem Dreiklang aus Aufgabe, Ziel und Berufung der Organisation. Der Purpose gibt den Akteuren in fluiden Führungssystemen Ausrichtung und eine Leitlinie, an der sie ihre Entscheidungen ausrichten können. Im Gegensatz zur klassischen Strategie ist der Purpose weniger konkret und handlungsorientiert. Vielmehr ist er die Essenz dessen, warum die Organisation existiert und was sie in der Welt erreichen will. Mehr zum Thema, inklusive zahlreicher Beispiele, findet man z.B. auf Slashpurpose.org oder in diesem Artikel. Im Kontext von fluiden Führungssystemen kommt dem Purpose die Aufgabe zu, der Organisation eine gemeinsame (wenngleich bewusst grobe!) Richtung zu geben.
2. Führungsaufgaben differenzieren und deren Verteilung auf verschiedene Personen ermöglichen
Die zweite Designprämisse zielt darauf ab, Führung nicht länger als ein undifferenziertes Sammelsurium von Aufgaben zu betrachten. Stattdessen werden die diversen Bestandteile des Begriffs als separate Aufgaben betrachtet. Der besseren Lesbarkeit halber hier nochmal meine Liste von oben:
- Entscheidungen treffen
- Strategie & Ziele formulieren
- Mitarbeiter motivieren und inspirieren
- Mit gutem Beispiel vorangehen
- Eine gemeinsame Vision schaffen
- Eine Umgebung schaffen, in der Menschen wachsen und reüssieren können
Statt universell alle Aufgaben einer Person zu übertragen, sind diese in fluiden Führungssystemen auf mehrere Köpfe verteilt beziehungsweise werden teils von (kollektiven) Prozessen und speziellen Instrumenten übernommen. Da ich in diesem Artikel bewusst nicht allzu viel über konkrete Lösungen sprechen will (und weil dies den Rahmen vollends sprengen würde), nur eine kurze Illustration:
Entscheidungen zu treffen steht in fluiden Führungssystemen jedem Akteur stets als Option zur Verfügung. Die formale Grundlage einer “gemeinsamen Vision” — die essentiell ist, um der Organisation einen Rahmen zu schaffen und Ausrichtung zu bieten — stellt das Purpose Statement dar. Dieses tagtäglich mit Leben zu füllen ist die Aufgabe jedes einzelnen Mitglieds der Organisation. Mitarbeiter zu motivieren und inspirieren übernimmt teils das System (indem es Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten bietet) und ist ansonsten, etwa auf der Ebene einzelner Teams, eine Aufgabe, die von jedem Teammitglied übernommen werden kann.
Die Grundlage ist auch hier, die unterschiedlichen Bestandteile zunächst einmal explizit zu machen. Es fängt also, wie so oft, mit der Sprache und einem gemeinsamen Verständnis an. Ist dieses hergestellt, können die einzelnen Aufgaben auf diverse Mitglieder eines Teams verteilt werden. Wobei auch hier das Prinzip der Selbstselektion angewandt wird.
So schließen etwa beim US-Marktführer für verarbeitete Tomatenprodukte, Morning Star, alle Mitarbeiter zu Jahresbeginn einen Vertrag mit ihren Kollegen, in dem sie u.a. definieren, welche Aufgaben sie im nächsten Jahr übernehmen wollen. Das Organisationssystem Holacracy wiederum arbeitet mit klaren Rollendefinitionen; jeder Mitarbeiter kann mehrere Rollen ausfüllen, doch ihm kann keine zugeteilt werden — er muss sich aktiv für sie entscheiden.
Ich werde an anderer Stelle nochmal genauer darauf eingehen, welche Ansätze es gibt, um die einzelnen Führungsaufgaben in fluiden Führungssystemen zu organisieren. Eine spannende Frage, die ich nicht allgemeingültig beantworten kann, ist, wie stark die einzelnen Komponenten jeweils formalisiert werden sollten. Tendenziell erscheint es zumindest sinnvoll, ein sehr hohes Maß an Klarheit und Transparenz zu schaffen.
3. Fluide Führung ist um Teams gebaut
Fluide Führungssysteme haben nicht das Ziel, Einzelkämpfer zu Entscheidern zu machen, die dann im eigenen Interesse agieren. Im Gegenteil. Es ist wenig verwunderlich, dass alle Ansätze von dezentralisierten Führungs- und Machtstrukturen in einer Zeit entstehen, in der es zunehmend Teams, nicht Individuen sind, die über die Leistungsfähigkeit einer Organisation entscheiden. In seinem sehr lesenswert Forbes-Artikel schreibt Greg Satell:
“In fact, almost everywhere you look there is evidence that belies the central premise of the “war for talent” approach that McKinsey promoted and that so many organizations have adopted. What’s increasingly becoming clear is the focus on individual performance was misguided. We need to shift our focus from individuals to teams.”
Daher ist es vermutlich kein Zufall, dass sämtliche Organisationen, die mit fluiden Führungssystemen arbeiten, einen großen Fokus darauf legen, starke Teams zu entwickeln. Dies macht auch aus Gründen des Systemdesigns durchaus Sinn.
Teams, als kleinste Zelle der Organisation, sind letztlich die Orte, an denen die tatsächliche Arbeit geschieht. Wertschöpfung erfolgt in Teams, nicht in Gremien. Deshalb verfolgen diverse Ansätze das Ziel, auch die Entscheidungsbefugnis dorthin zu delegieren. Einige der eingangs genannten fluiden Organisationen gehen soweit, ihre Teams als quasi autarke (jedoch vernetzte!) Zellen der Gesamtorganisation zu verstehen. Die Idee ist also, die Organisation nicht in herkömmlicher Manier top-down zu designen und Kästchen zu malen, sondern den Anfang dort zu machen, wo die Wertschöpfung geschieht. Mehr dazu z.B. hier bei Niels Pfläging.
Von der Prämisse zur Praxis
Eine Organisation, die Führung auf Basis der genannten Designprämissen gestaltet, behebt viele der im ersten Teil behandelten Probleme heutiger Führungsmodelle. Die hier vorgestellten Überlegungen stellen dabei jedoch nur den ersten Schritt dar. Zum einen müssen sie in konkrete Prozesse, Tools und Routinen überführt werden, um zum Leben erweckt zu werden. Dazu finden sich — etwa bei den eingangs genannten Protagonisten des #neworg Movements — zahlreiche praktische Ideen. Patentrezepte gibt es nicht. Doch ein fundiertes Verständnis dessen, was man erreichen will, ist die Grundlage für selbstständiges Experimentieren. Platt gesprochen: Die Entwicklung eines fluiden Führungssystems ist kein Sprint, sie ist ein Marathon.
Außerdem will ich nicht verschweigen, dass es auch darüber hinaus Hindernisse gibt, die es zu bedenken gilt. Etwa ist es im heutigen Unternehmensrecht so, das Verantwortung und damit Haftung in der Regel einzelnen Personen obliegt. Es gibt keine Rechtsform, die im Detail auf diese neuen Ansätze der Organisation zugeschnitten ist. Auch Aufwand und Tragweite, die mit der Entwicklung eines fluiden Führungssystems verbunden sind, sollte man nicht unterschätzen. Konsequent zu Ende gedacht, beeinflusst es die Gestaltung fast aller Managementpraktiken und Verfahren eines Unternehmens. Von der Art und Weise, wie Budgets vergeben werden über Einstellungsverfahren, Kompensationsmodelle bis hin zu Meetingroutinen.
Nichtsdestoweniger: Immer mehr Organisationen lassen sich davon nicht abhalten, nach neuen Wegen zu suchen. Anscheinend befinden sie, dass der mögliche Nutzen überwiegt. Wenn Sie mich fragen: Ich stimme ihnen zu.
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