Bewerbung im Gestern

Sandra Staub
Digitale Geriatrie
Published in
9 min readMar 5, 2016
Photo: Jeff Sheldon via unsplash.com

In meinem Lieblingscafé sitzt ein älterer Herr. Er könnte spielend mein Vater sein. Ist er aber nicht. Wir sind verabredet. Er sucht jemanden, der ihn mit diesen Internetsachen unterstützt. Jemand, der ihm zeigt, wie das so geht. Eine Bekannte hatte ihm meine Kontaktdaten weitergegeben. Ich bin grade mal 40 Sekunden zu spät und er hat schon das Telefon in der Hand und sucht meine Nummer um mich anzurufen. Reizender Einstieg. Ich lächle höflich. Er nicht. Erst mal findet er das Café schräg. Es war ja schließlich meine Idee. Ich tue es als Versuch eines Scherzes ab und denke mir, okay, ist halt nervös.

Meine Jacke hängt noch nicht mal, da erklärt er mir schon, dass ich doch im Internet in einem Verein sei und dort mit einer Dame abgebildet bin, die ich wirklich nicht kenne. Er fragt drei und viermal nach. „Aber die Frau L, die ist doch im Internet mit ihnen auf einem Bild.“ — „Ich kenne Frau L. nicht.“ — „Aber die Frau L. die ist doch mit ihnen da in dem gleichen Verein“. — „Ich kenne Frau L. nicht und weiß nicht was sie beruflich macht.“ Noch habe ich nicht bestellt. Ich denke kurz darüber nach, einfach aufzustehen und wieder zu gehen.

Das Gespräch geht endlich auch über Frau L. hinaus und ich frage, woher denn die Empfehlung für ein Treffen mit mir kam. Meine Startfrage. Ja, das sei Frau H. gewesen. Mit der würde er ja schon lange zusammenarbeiten. Einige Minuten lang erzählt er mir von seiner Zusammenarbeit mit ihr. Was da alles passiert sei und sie hätte da etwas verändert ohne seine Zustimmung. Und so könne das ja nicht sein. Und jetzt ist alles schlechter als vorher. Ich habe kurzzeitig keine Ahnung wovon er spricht. Er hat ein Wort verwendet, dass ich noch nie gehört habe. Da ich seit über 10 Jahren jetzt in #neuland arbeite, bin ich ernsthaft verdutzt. Nach einigem Nachfragen kommt heraus, dass er nur einen sehr speziellen Dialekt im Englischen hat und ich es daher nicht verstanden habe.

Er betreibt einen Blog und da würde niemand jemals Kommentare schreiben. Er hätte so gerne Menschen, die mit ihm diskutieren. Sogar Diskussionsregeln mit UNO Menschenrechts-Charta-Verweisen hat er hineingeschrieben. Schon im Vorfeld habe ich mir das Meisterwerk einer Webseite angesehen. Noch selten habe ich so viel einsamen Text in einer Wüste gesehen. Er sagt er „kann mit dem Blog arbeiten“. Nachdem er die Seite auf seinem Tablet öffnet, weiß ich, was er meint: Den Blog besucht er um dort auf Links zu klicken und dann seine Lieblingsnachrichtenseiten über RSS zu erreichen. Mein Kopf langweilt sich. Komm zum Punkt, denk ich mir. Was brauchst Du konkret von mir. Wo ist Dein Problem. Dabei sehe ich es schon vor mir: Ein älterer Herr, der stark technisch orientiert ist und gerne Aufmerksamkeit möchte. Gut, denke ich mir, nicht so anders als all die anderen Menschen da draußen. Nur kommt er halt nicht zum Punkt. Er weiß garnicht, was er von mir braucht.

Dann beginnt er immer mehr von sich und seiner Familie zu erzählen. Seiner Frau. Seiner Schwester. Und das die ja so nahe bei Frau H. wohnt. Ob ich wisse, wo der Hunsrück ist. Ich antworte nicht, frage aber zurück, ob er tatsächlich glaubt, dass das etwas an unserem Thema mit seinem Blog hier verändert. In meinem Kopf regt sich ein Gefühl, dass es sich um einen sehr einsamen Menschen handeln könnte. Vielleicht sitzt er den ganzen Tag zuhause und regt sich über die Welt auf, denke ich mir. Vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall ist er beleidigt, weil ich ihn nicht seine persönliche Story erzählen hab lassen. Erzählt dafür, dass er nicht verstünde, warum eine Frau auf Facebook „Ich heule“ geschrieben hätte. Er würde nicht heulen. Ich entgegne nichts. Ich will endlich wissen, was die Aufgabenstellung ist.

Wir reden dann tatsächlich nach 17 Minuten das erste Mal darüber, was er eigentlich braucht von mir. Er wabert um das Thema herum. Spricht mit Füllworten und Platzhaltern. Für mich scheint durch, dass er dringend Kontakt mit Menschen sucht. Reibungsfläche. Auch wenn es in einer politischen Diskussion ist. Leider hat er keine Ahnung, wo die Diskussionen stattfinden in diesem Internet. Er möchte die gerne auf seinem Blog. Das ist ein legitimer Wunsch, denke ich mir. Den haben viele. Alleine, es ist keine Frage von Technik oder Settings um Kommunikation herzustellen. Diesen Gedanken hatte er noch nicht. Für Ihn hängt es an der Technik und dem Vorgehen und daran glaubt er ganz fest.

Ich mache mir seit Minute eins Notizen. Schreibe hin und wieder mal Namen und Buzzwords auf, die er nutzt. Erzählt, dass etwas am Theme umgestellt wurde und das hätte sich auf Google Analytics ausgewirkt. Ich denke kurz über Kausalität und Korrelation nach und wie man sie den deppensicher unterscheiden könne. Das würde nur in einer kleinen, eindimensionalen Welt wirklich funktionieren. Ich verwerfe den Gedanken. Mein Gegenüber schwatzt einstweilen wieder über die Inhalte auf seiner Seite und das er nicht versteht, warum manche Buttons zweimal da sind. Ich versuche es ihm zu erklären.

Wir müssen unterbrechen. Die Kaffeemühle macht unerträgliche Geräusche. Er trägt Hörgeräte und ich stelle mir die Sound einfach nur gräßlich vor. 40fach verstärkt im Ohr ist das Folter! Aber dafür haben Kaffeehausbetreiber offenbar immer noch keinen Sinn. Man will sich unterhalten, nicht neben dem Stillzirkel und den 30 anderen Gästen noch über die Mühle aus dem 19. Jhdt brüllen — nur falls es mal einer von denen lesen sollte. Ich denke darüber nach, mir ein neues Lieblingscafé zu suchen. Denn ich hatte noch nichtmal die Gelegenheit etwas zu bestellen und wir sind inzwischen bei Minute 30 im Gespräch angekommen.

Nach der Lärmattacke nehme ich den Faden auf. Versuche strategische Dinge über den Zusammenspiel von Blog und Facebook zu erklären. Er hakt ein und erzählt mir, dass er schon 2011 etwas über Facebook geschrieben hat und jetzt auch wieder was drüber schreiben werde. Hinter meiner Stirn schlage ich die Hände über dem Kopf zusammen. Pausenlos vermischt mein Gegenüber Inhalt und Aussage. Er hört sich gerne reden. Über seine Meinung. Und betont dann immer gleich, dass er ja offen sei für andere Meinungen.

Ich grätsche dazwischen. Sage, dass ich denke, dass wir manche Überschriften und Einleitungen in die Blogartikel optimieren müssen. Dass es spannend bleiben muss, den ganzen Text zu lesen. Im Moment könnte man schon an der Überschrift die Meinung ablesen. Ein Vorspann muss Menschen in den Artikel ziehen und vielleicht sogar auf eine Thesis, ein Thema, ein Fragestellung oder eine Theorie hinweisen. Er steigt aus. Vermutlich habe ich zu schnell gesprochen. Zu viele Worte verwendet, die sich schwer verstehen lassen. Offenbar kann er nicht von den Lippen lesen, wie viele Menschen, die schon länger Probleme beim Hören haben. Es ist also noch neu für ihn.

Die Stimmung ändert sich. Er ist der Meinung, das geschäftliche sei damit besprochen. Er müsse mich jetzt als Person kennenlernen. Damit wir uns „aufeinander einschwingen“ können. Ich denke kurz, ich weiß seit Sekunde 30 unsere Treffens, dass wir nie miteinander arbeiten werden. Was soll das? Was soll das jetzt? Er fragt, was ich denn für eine Ausbildung habe. Woher ich sei. Wie lange ich in München sei. Ich stelle eine schnelle Gegenfrage, wie lange er denn schon hier ist. 50 Jahre sagt er da und beschwert sich, dass niemand mehr Dialekt spricht. Pfft, denke ich mir. Du Zuagroaster würdest nicht ein Wort in einem ernsthaft bayrischen Satz verstehen. Es ist gemein. Ich würde es verstehen. Meine Muttersprache ist näher dran. Er will wissen, in welche Stadt ich geboren bin.

Jetzt wird’s mir langsam zu bunt. Was ist das hier? Ein Bewerbungsgespräch bei dem sich das Gegenüber nichtmal die Unterlagen angesehen hat? Ich gehe in die Offensive. Schleudere ihm einige Daten über den Tisch. Sage, dass ich spielend seine Tochter sein könnte. Erzähle ihm Dinge über meine Familie, mein Umfeld und Co, die ihn eigentlich einen feuchten Kehricht anzugehen haben. Ich bewerbe mich doch nicht auf eine Azubi-Stelle bei ihm. Für wen hält er sich? Gute Frage. Er hält sich immer noch für den Geschäftsführer, der er irgendwann mal war. Dann fängt er an aus seiner Zeit zu erzählen. Irgendwas von VWL und Geschäftsführerei, seiner Ehe und seinem Studium. Minutenlang lässt er sich darüber aus, wie falsch es sei, dass Eltern ihren Kindern vorschreiben, dass sie zu studieren haben und dann aber gleich mit Promovation. Er selbst trauert auch darüber, dass er nie den Doktor für die persönliche Anerkennung gemacht hat, obwohl es ja so leicht gegangen wäre.

Minute 43. Vermutlich hat er es in meinem Gesicht gelesen, dass ich ihm die letzten Minuten nicht zugehört habe. Ich finde es immer noch unerhört, wie er sich über mein Privatleben hermacht. Sich dafür interessiert, ob ich mit meinem Freund Kinder will oder nicht. Ich hatte ja immer gedacht, dass ich in solche Situationen einfach schnell was erfinden würde. Aber ich bin so in Rage, dass ich es echt nicht getan habe. Ist er nicht aus der Generation, die nichtmal angeben wollten zu wievielt sie in einer Wohnung leben? Nein, ist er nicht. Er erzählt von einem Vater, der ihn geschlagen hat, wenn er frech war. Hm, denke ich. Mir egal. Du bist jetzt groß. Gilt nicht mehr. Er lädt den ganzen Krampf seiner zwei Ehen am Kaffeetisch ab. Ich denke kurz darüber nach, was eigentlich eine Stunde bei der Psychoanalyse kostet und ob es günstiger ist als Psychotherapie. Ich glaube, die sind in etwa gleich teuer. Muss echt mal nachfragen was man wofür besser einsetzen sollte.

Jetzt geht es an die Krankheiten. Als hätte ich nicht schon bemerkt, dass er Probleme beim hören und verstehen hat. Das sind nämlich zwei unterschiedliche Dinge. Genau wie Inhalt und Aussage. Ich wüsste gerne, ob er das weiß. Gebildet ist er ja. Aber immer noch gibt er hier den Arbeitgeberpräsidenten. Ich fasse mich und erkläre ihm kurz, dass ich eine eigene Firma habe und nur gelegentlich mit Privatpersonen zusammen arbeite. Dass ich Kurse an den Volkshochschulen gebe und werde unterbrochen. Das war offenbar der falsche Satz. Es geht zurück zu Frau H., die ihm auch schon gesagt hätte, dass er an die Volkshochschule gehen solle. Aber er mache so etwas nicht. Dafür hätte er keine Zeit. Nein, die hast Du wirklich nicht, denke ich mir.

Einen Moment bin ich richtig traurig. Weil er weiß, dass es für ihn schwieriger ist zu verstehen ist, trifft er sich mit mir und geht nicht zur Volkshochschule. Trifft sich in einer Umgebung, die absolut nicht gut ist für ihn. Hätten wir uns in meinem Büro getroffen, wäre es einfacher gewesen für ihn. Aber er hat kein Wort gesagt, dass er ein Thema mit dem Hören hat oder sich eine ruhige Umgebung wünscht. Er bekommt meine Gedanken nicht mit, spricht von einem seinen politischen Themen aus dem Blog. Es ist jetzt Minute 67 unseres Gesprächs. Ich versuche eine Rechnung zu bekommen. Die Bedienung habe ich schon seit etwa 30 Minuten nicht mehr gesehen. Alle scheinen verschwunden.

Dafür lärmt ein gelangweiltes Kind am Boden und verhält ich wie ein Schimpanse. Tolles Erziehungskonzept, denke ich mir. Kann mir ein kurzes „Halt die Klappe“ nicht verkneifen. Der zweijährige Bub sieht mich mit leuchtenden Augen an und lächelt. Er wurde heute vermutlich das erste Mal direkt angesprochen, seitdem ihn seine Mutter vom stillen runter gelassen hat. Er läuft zu Mama und schmiegt sich an sie. Sie ist noch beschäftigt seine kleine Schwester zu — sagen wir wie es ist — zu säugen. Mein Gegenüber erzählt einstweilen etwas davon, dass keine Deutschen mehr Kinder machen wollen. Ob ihm auffällt, dass ich ihm dreimal gesagt habe, dass ich Österreicherin bin, weiß ich nicht. Damit bin ich auch Ausländerin. Auch wenn in seinen Augen, Ausländerin erster Klasse, weil er offenbar hier ein Klassensystem einen Kastensystem vorzieht. Dann schießt es wohl doch durch seinen frontalen Cortex und erzählt etwas von „Ihr Österreicher macht das super da mit dem Kongress“.

Ich denke schon wieder darüber kurz darüber nach, einfach zu gehen. Ohne zu bezahlen. Wie kann jemand nicht merken, dass ich diese Art des Gespräches nicht im Ansatz gut finde? Mein Gesicht kommuniziert seit Minuten schon die gelangweilte Angespanntheit, die er mit seinen Themen verbreitet. Ich will nicht über mein Land oder Politik diskutieren. Es geht mir freundlich gesprochen am Arsch vorbei. Meinungen von anderen doppelt. Beim Smalltalk soll es um leichte, sympathische Themen gehen, hab ich gehört. Nicht darum auf welchem Ohr wer in meiner Familie schlechter hört und wer welche Ausbildung bei welchem Professor gemacht hat. Es hat auch nichts mit dem Auftrag zu tun. Und dafür treffe ich mich ja hier schließlich. Wenn es eine Gesprächstherapie wäre, hätte ich sicher nicht zugesagt.

Derselbe Mann, der seine Sorge darüber ausbreitet, dass Firmen mehr Daten haben über Menschen als Staaten, der will von mir wissen, ob ich plane mich fortzupflanzen, in welcher Stadt ich geboren bin oder für welche Kunden ich gearbeitet habe. Wenn der Status meiner Geschlechtsteile oder meine Herkunft mit meinen Aufträgen korrelieren, dann bin ich raus.

Beim rausgehen, sagt er mir noch, dass ich kratzbürstig rüberkomme, aber er vermutet, dass ich ein sehr sensibles Wesen habe. Danke, aber es ist mir egal. Ich will mich einfach nicht für Ihn arbeiten. Er meinte vorhin auch, dass mein Preis „schon recht hoch“ sei für einen Rentner. Vielleicht regelt der Markt es ja von selbst. Ich zögere noch, ihm gleich heute eine E-Mail zu schreiben in dem ich ihm sage, dass ich mich für das Getränk bedanke, aber dass die Chemie zwischen uns nicht so war, dass ich hier gerne weiter arbeiten möchte. Ich werde nochmal drüber schlafen.

Wie würdest Du dich entscheiden?

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Sandra Staub
Digitale Geriatrie

💻 Ex-Journalistin, Bloggerin, Autorin 👩‍💻 Social Media Contents & Funnel Marketing 🤓