Der fragile alte Mann

Sandra Staub
Digitale Geriatrie
Published in
5 min readNov 13, 2018

Ich habe einen Bekannten besucht. Er ist so alt wie meine Großmutter. Wir hatten uns mal auf einem Flug kennengelernt, und ich dacht mir, biste nett zu dem älteren Herren. Daraus entwickelte sich eine Brieffreundschaft per E-Mail. Immer wieder mal machte er für mich eigenartige Bemerkungen, die ich dann seinem verstaubtem Humor angelastet habe. Ich habe gelernt, auf seine Macho-Bemerkungen aus der Nixon-Zeit nicht zu reagieren und auch nicht sofort hochzugehen. Es bringt einfach nichts, habe ich gelernt. Irgendwann stand mein Crowdfunding auf der Kippe und er gab mir Geld dazu, damit es klappte. Das hat mich sehr gefreut.

Jetzt haben wir uns 10 Jahre nach unserem Kennenlernen, endlich mal wieder getroffen. Und wir waren spazieren und toll essen für viel zu viel Geld. Mein Eindruck, dass er ein netter, älterer und sehr einsamer alter Mann ist, hat sich mit jeder Minute verstärkt.

Abgesehen davon, dass er etwas verlottert daherkommt, mit zerrissenen Hemdkrägen, verschlissenen Schuhen und einem Auto, das mal in den 80ern seiner Tochter gehört hat, muss man sagen, dass der Mann umringt von Millionären in einem Haus lebt, das er völlig alleine wirklich gut in Schuss und sauber hält. Er hat ein mittelgroßes Gin-, Gleichgewichts- und Vergesslichkeitsproblem. Aber bei End-70ern muss ich ehrlich sagen, ist es echt seine Sache, solange er damit keine Anderen oder sich selbst ernsthaft gefährdet. Aber es lässt ihn sehr fragil und verletzlich wirken.

Angegriffen von so viel Offenheit

Mir ist sehr stark in Erinnerung geblieben, dass er fest glaubt, dass keiner seiner 3 Enkelsöhne schwul werden kann, weil die ja auf teure Schulen gehen und auch sonst ein „richtig gutes Elternhaus“ haben. Er fühlt sich “regelrecht angegriffen durch diese immer komplizierter werdenden Moden bei der Sexualität.“ Begriffe wie Bisexualität oder Homosexualität verwendet er, um sie im seine Art von schlechten Witzen einzubauen, ohne sie aber zu verstehen. Er nimmt also das, was die Welt schon seit Jahrzehnten völlig ohne ihn privat in ihren Schlafzimmern macht, hochgradig persönlich.

Abgesehen davon, dass er offenbar schon die 68er nicht mehr mitbekommen bzw. verstanden hat — da war er gerade mal im Arbeitsleben angekommen — hat er auch sonst recht wenig Fähigkeiten entwickelt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Ob das mit ein Grund war, warum seine Frau ihn vor gut 25 Jahren Knall auf Fall verlassen hat? Ich weiß es nicht, aber vorstellen kann ich es mir. Denn er spricht mit ihr kein Wort mehr, weil er „tief verletzt“ ist durch diese Trennung. Sie hätte ihn nur abgezogen, sagte er mehrfach.

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Unsichtbar

Er vertraut grundsätzlich niemandem mit irgendwas. Das macht jetzt für jemandem, der im Militär-Umfeld gearbeitet hat, kein ungewöhnliches Bild. Als er mir dann aber erklärte, er als Wissenschaftler schon in den 90ern herausgefunden habe, dass es gar keinen Klimawandel geben könne, weil da irgendwas mit Wassermolekülen anders sei, als angenommen, wurde es immer wirrer. Er fühlt sich nicht gesehen mit dieser offenbar großartigen Entdeckung, die nur er allein gemacht habe und die niemandem sonst aufgefallen sei, weil ja nur er so supergeheime Militär-Daten gehabt habe. Interessant dachte ich mir: Auf der einen Seite Wissenschaftler sein, logisch-kritisches Denkvermögen besitzen und dann aber vor lauter verletzem Stolz fast an der Nicht-Anerkennung ersticken. Das ist ein interessantes, menschliches Verhalten.

Ich hab ihm geraten, er sollte doch seine Theorie mit allem was er dazu hat, aufschreiben in eine wissenschaftliches Paper packen und dann einfach auf seiner eigenen Website veröffentlichen. Da würde ich ihm sogar wirklich gerne damit helfen. Meine Vermutung ist aber, dass ihm dazu schon die Konzentrationsfähigkeit fehlt. Denn er sprang gefühlt alle 10 Minuten von einer Geschichte zur nächsten, und weiter zur nächsten Anekdote von Menschen, die ich nie gekannt habe. Ich hab irgendwann aufgehört, meine Geschichten zu erzählen, weil er offenbar davon nur wenig aufgreifen konnte. Es waren nur Pausen für ihn, um eine andere Geschichte aus dem Archiv seines Lebens zu kramen.

Sehr kleine Siege

Als strammer Republikaner ist es für ihn schon eine tolle Sache, die Stadtverwaltung hinterrücks zu umgehen, um weniger Steuern zu bezahlen und keine Genehmigungsplan für eine neue Gartengestaltung mit Mauer einholen zu müssen. Das sind seine kleinen Siege: Der Allgemeinheit ein Schnippchen schlagen.

Die Straßenverkehrsordnung hält er auch nur manchmal ein, „ich schaue einfach nur, ob da ein Polizeiauto ist an einer Kreuzung. Wenn nein, fahre ich einfach”. Er fährt, wie es ihm in den Kram passt und schimpft lauthals auf Andere, die seine Gedanken falsch gelesen haben. Dass das nicht sehr angenehm ist als Mitfahrerin, brauche ich nicht zu sagen. Auf Empfehlungen von einem Navigationsgerät hört er prinzipiell nicht. Seine eigene Navigationsfähigkeit oder sagen wir, das Wiedererkennen von Landmarken, ist bei ihm nicht (mehr) so stark da. Wir sind etwa 30 Kilometer durch Los Angeles geirrt, weil er nichts wiedererkannte und meine Navigationsvorschlägen nicht verstand. So kam es schon mal vor, dann wir mit 60 Sachen über die doppelt durchgezogene Mittellinie mit Gegenverkehr gedriftet sind, weil er mit Schauen beschäftigt war. Er lebt übrigens seit 50 Jahren in Los Angeles und hat zwei geladene Waffen im Haus.

Das Leben: Ein Trümmerhaufen

Im Laufe meines Besuches wurden seine Bemerkungen immer schrulliger. Irgendwann habe ich mich dann garnicht mehr wohl gefühlt. „Ich finde dich so super, ich sollte dich einfach hier einsperren.“ finde ich einfach nicht lustig. Und auch bei „Ich verstehe gar nicht, warum man schwul werden soll, wenn man dann gar keine Mädchen mehr abbekommt. Die Mädchen zu jagen ist doch das Beste.“ kann ich nicht so richtig freundlich lächeln. Diese Kommentare sind einfach aus dem falschen Jahrtausend. Das traurige ist, er merkt das auch, sieht sich aber nicht in der Lage, es besser zu machen, weil er denkt, das ist irgendwie witzig übersteigerter Humor.

Für ihn zerbricht Stück für Stück alles, was er als gut, tugendhaft, amerikanisch und richtig gelernt und geglaubt hat. Jede Woche ein neues Stück, das wegbricht. Ich weiß ehrlich nicht, womit er seine Lebenszeit verbringt. Im Haus waren überall Stapel von Steuerunterlagen und ehemaligen Geschäftsunterlagen. Ich denke dass er wohl hin und wieder noch Consulting-Jobs für’s Militär machen wird. Das wollte ich auch explizit nicht von ihm wissen.

Nun…

Er hat mir auch sehr deutlich gesagt, dass er mit Feminismus nicht viel anfangen kann, weil er die Richtigkeit der Sprache untergräbt. Dass seine Tochter nur aufgrund des Feminismus studieren und dann ins Ausland gehen konnte, ist ihm dabei vermutlich nicht aufgefallen. Nun, er hat mein Buch „Facebook für Frauen“ mitfinanziert. Ich wurde wegen der feministischen Ausrichtung mehrfach bedroht. Meist von genau solchen fragilen Männern, die ihre Position in der Welt kaputt gehen sehen.

Jetzt weiß ich, dass er noch eine Fähigkeit nicht besitzt: Er kann nicht so zuhören, dass er es versteht. Das ist für ihn auch völlig egal. Er braucht eigentlich nur jemandem, der ihm zuhört. Denn er ist in seiner Welt aus billigem Gin, dem Deli um die Ecke und „Green Flashes“ über dem Pazifik allein.

Ob ich ihn wieder mal besuche? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

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Sandra Staub
Digitale Geriatrie

💻 Ex-Journalistin, Bloggerin, Autorin 👩‍💻 Social Media Contents & Funnel Marketing 🤓