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Digitale Geschäftsfähigkeit

Sandra Staub
Digitale Geriatrie
Published in
7 min readAug 11, 2016

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Als ich ganz neu war in der Stadt, habe ich sie noch nicht gekannt. Erst als ich mich selbstständig gemacht habe und dann auf diverse Netzwerktreffen einsamer, gelangweilter Hausfrauen gegangen bin, habe ich sie mal gesehen, hier und dort. Irgendwann haben wir uns dann mal kennengelernt. Sie hatte sofort verstanden, dass ich als junger Hüpfer wenig Erfahrung hatte und auch noch Zeit hatte für einige ehrenamtliche Runden. Sofort hatte sie verstanden, dass sie mich gut brauchen könnte.

Dann haben wir angefangen miteinander zu arbeiten. Oder sagen wir es so, sie hat mich eingeladen, bei ihrer Initiative mitzumachen. Ich hatte Zeit. Ich hab’s gemacht. Es war eine kuriose Erfahrung, die mir aber wichtige Details des Geschäftslebens heute erleichtern. Heute erkenne ich zum Beispiel binnen weniger Sekunden, ob jemand das Geld hat, meinen Dienstleistung zu bezahlen oder nicht. Bei ihr sehe ich heute auch sofort, dass sie es nicht hat. Typische Vereinsgrattlerei, würde ich heute denken und dann dankend ablehnen.

Damals haben wir uns alle paar Wochen persönlich gesehen und quasi jeden zweiten Tag telefoniert. Waren Mittagessen um Dinge zu besprechen. Haben Geschäftslokale angesehen, die sie gefunden hatte. Dann hatte sie schließlich ein Zuhause für Ihr ehrenamtliches Dauerprojekt gefunden. Fernab vom Schuss, mitten in einer unbekannten Wohngegend, die nur mit einem Bus zu erreichen ist. Schon als wir diesen Raum besichtigt haben, wusste ich: Das ist eventuell nicht die beste Entscheidung. Ich habe ihr das damals auch so gesagt. Ich glaube, ich habe mich einfach für ein anderes, zentraleres Geschäftslokal ausgesprochen. Was ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste: Dieser Laden war der Anfang vom Ende.

Sie zog mit Sack un Pack dort rein. Investierte. Dann, bei einem unserer Treffen, sah ich, wie sie den Laden gestaltet hatte. Ich war mir nicht sicher, ob es ein Kindergarten oder eine Abstellkammer war. Wie ein Geschäft, in dem auch Schulungen hätten stattfinden sollen, sah es jedenfalls nicht aus. Ich kann nur vermuten, dass sie das auch in meinem Gesicht gesehen hat. Denn sie war sehr gekränkt. Aber sorry, nicht jedem muss alles gefallen. Als ich meine Orange-Grün-Phase hatte, muss das schwer gewesen sein für alle in meinem Umfeld. Aber nach knappen 5 Jahren war sie durch. Vielleicht auch 6. Ich habe Klamotten immer wirklich sehr lang.

Foto: Jamie Spaniol via unsplash.com

Einmal bin ich mit einem meiner kleinen Schulungsabende dorthin ausgewichen. Es war schräg. Es war wild. Es war mir irgendwie peinlich. Aber ich bekam die Räumlichkeiten gegen eine kleine Spende. Der Ölofen gab eine eigenartige, stoßweise Wärme ab. Meine Gäste trugen Jacken im Oktober, weil es drinnen kälter war als draußen. In der warmen Jahreszeit wucherten immer tausend verschiedene Blumen vor dem Eingang. Ein hübscher Dschungel. Nicht unbedingt immer einladend, wenn man sich erst an dornenbesetzten Rosen vorbei schlängeln musste. Manche dachten sicher, dass es ein Gärtnerei-Laden sei. Das hätte vermutlich sogar funktioniert. Aber drinnen wollte nichts wachsen. Es war viel zu dunkel. Außerdem war es so bunt, dass jede Pflanze das eigene Chlorophyll verschluckt hätte.

Da habe ich das erste Mal verstanden, dass ich mit ihr nicht tun kann, was ich möchte. Ich würde immer tun, was notwendig sei. Dann habe ich mich schrittweise von den Projekten zurückgezogen. Mich entschuldigt, dass ich bei Veranstaltungen nicht da sein könne. Teilweise war es sogar wahr. Oft hatte ich einfach keine Lust einen Kindermaltisch zu betreuen. Meine Passionen sehen anders aus. Das vereint zwei Dinge, die ich nicht mag. Welche das sind, kann sich jeder selbst zusammen puzzeln. Irgendwann habe ich dann auch aufgehört, das Thema zu unterstützen. Einfach, weil es nicht mehr zu mir passte und nur meine Zeit auffraß, die ich lieber mit anderen Menschen verbrachte.

Ja, das war jetzt eine lange Einleitung. Aber über diesen Weg kenne ich sie. Und so habe ich eben am Anfang auch viele Digitalpräsenzen für die Initiative aufgebaut. Passwortlisten machten die Runde, damit alle mal ran konnten. Ich verwaltete aber immer die eine große Liste, in der alles steht. Bis zum heutigen Tage.

Eines Tages wurde ich dann von ihr gebeten, ich möge ihr meinen alten Computer leihen. Klar, machte ich gerne. Nach einigen Monaten wollte ich ihn wieder zurück. Das war vielleicht nicht clever von mir, aber damals fing sie an, sich neue Geräte zu kaufen. Erst ein neuer Laptop. Nichts teures, aber solide. Ich hatte erst einige Monate zuvor meinen eigene geleast und ächzte unter den monatlichen Abgaben. Sie sagte noch: Kauf Dir nur Dinge, wenn Du das Geld hast. Ein großartiger Merksatz aus den 1980ern, der leider heute in den 2010ern nicht mehr funktioniert. Dann bekam sie ein Smartphone und bat mich, ich möge da so dieses und jenes mal einstellen. Hab ich gemacht, obwohl das wieder ein komplett anderes System war. Aber ich hatte so die Gelegenheit etwas Neues zu lernen und sie auch mal wieder zu fragen, wie es ihr geht. Sie schien voller Elan und freute sich auf ein neues Projekt. Bat mich im gleichen Atemzug, ihr nochmal mit Kleinigkeiten unter die Arme zu greifen. Für mich eine leichte Übung. Ich sagte zu. Klar doch.

Aber dann nahm es so richtig Fahrt auf. Noch ein Projekt und noch Eines. Für eine Wettbewerbsausschreibung dies und eine Idee für einen Online-Shop. Ich habe zig Stunden in diesen Shop investiert und immer gehofft, dass sie das eines Tages als Hauptberuf machen würde. Unglücklicherweise hatte ich mich grob getäuscht. Es lief einfach nicht. Geld für Werbung? Haben wir nicht. Es muss so laufen. Das läuft nur mit den doofen Kunden anders.

Dann zog ich mich für mein Buch zurück. Eine herbe Enttäuschung für sie, weil ich ja nun keine Zeit mehr für sie hatte. Mein eigenes Projekt hatte. Aber sie schrieb mir wieder. Noch ein Projekt und noch Eines das nichts mehr mit der Initiative zu tun hatten. Die Codeliste war inzwischen schon von hier bis AbuDhabi. Ich wurde immer genervter, wenn sie mich wieder anschrieb, denn eine Marotte hatte sich eingeschlichen:

Egal was nicht mehr funktionierte, ich wurde gefragt. Ich kenne mich ja aus. Nein, tu ich nicht. Ich war ratlos, als das CD-Laufwerk kaputt war und die CD nicht mehr ausspucken wollte. Ich weiß nicht, wie man fiese Viren wieder löscht. Ich weiß auch nicht, wie man in Ihr E-Mail Konto kommt, wenn man den Computer neu aufsetzen muss. Immer wieder fragte sie mich, ob ich ihr die Passworte doch mal geben konnte und ich schickte ihr die Liste.

Ungefähr an diesem Punkt denke ich, habe ich das erste Mal über digitale Geschäftsfähigkeit nachgedacht.

Ich konnte es aber noch nicht benennen. Wie nennt man das, wenn sich jemand offenbar nicht mehr so gut erinnert, was wir gemacht haben oder wie bestimmte Vorgänge funktionieren? Woran macht man es fest, dass jemand immer fahriger wird, wenn man so etwas wie Passworte sucht? Vor allem: Wie stellt man fest, ab wann die Person einfach nicht mehr entscheiden sollte, ob jetzt noch ein Projekt aufgemacht wird und noch ein Blog und noch ein Straßenfest?

Flüchtlingsströme kamen und noch zwei Projekte binnen weniger Wochen wurden aufgesetzt. Dieses Mal sogar mit einer Freundin aus meinem Umfeld. Jedes Mal wieder ließ ich mich darauf ein, alles Nötige zu tun. Obwohl wir uns inzwischen schon ein halbes Jahr nicht mehr gesehen hatten, schrieben wir viel öfter miteinander. Sie hatte den Chat entdeckt. Sehr oft schieb sie mir auch, dass es finanziell immer schwieriger wurde für sie. Bald fehlte das Geld für Essen, aber Benzin um für das Projekt etwas zu fahren, das trieb sie immer auf. Es wurde zu eine ständigen Durchschummeln. Vermutlich schon damals, als das mit dem Computer begann.

Erst im letzten Gespräch mit ihr, bei einem sehr langen Spaziergang, habe ich verstanden, wie es wirklich um sie steht. Sie ist noch nicht im Alter für die Rente. Sie wird auch keine bekommen, weil sie zu wenig eingezahlt hat. Es läuft auf Altersarmut hinaus, in der sie eigentlich schon jahrelang lebt. Sie fühlt sich an manchen Tagen heute schon reif für „eine längere Auszeit“ wie sie das so schön sagt. Realistisch hat sie schon seit 20 Jahren keine Job mehr gehabt und hätte auch keinen halten können. Ab einem gewissen Alter kommt eine Eigensinnigkeit dazu, die man als Außenstehender immer schwerer akzeptieren kann. Urlaub gab es mangels Geldmitteln auch in den letzten Jahren nie. Es wurde einfach eine irrrationale Liebhaberei, die zum Zentrum des Seins und zum Lebenssinn wurde. Für mich riecht das nach Burnout. An diesem Punkt hat sie mich abgehängt, weil das bei mir in andere Bahnen geht.

Foto: Jamie Spaniol via unsplash.com

Es scheint so zu sein, dass man seinen Erfolg im Leben vor seinem 50. Geburtstag gehabt haben sollte in unserer Gesellschaft. Zumindest emotional. Wie viele 67jährige erreiche plötzlich die Umsetzung ihres Lebenstraums? Eben.
Aber zurück zum Fall.

Ich weiß nicht, ob ihre digitale Geschäftsfähigkeit noch intakt ist. Ob ich ihr noch Entscheidungen zutrauen möchte. Die strengen sie an. Sie braucht Ruhe. Andererseits: Warum soll man nicht auch jenseits der Lebensmitte noch Neues entdecken? Warum soll man nichts Neues erlernen, nur weil man länger braucht? Warum auf einer gemütlichen Ofenbank sitzen, wenn man lieber unter Menschen ist? Warum soll man immer Dinge tun, die einem widerstreben? Um die eigenen Grenzen zu erweitern? Un etwas zu erleben? Um flexibel zu sein nur um der Flexibilität Willen?

Ich denke, der Körper bestimmt, wann die digitale Geschäftsfähigkeit erlischt: Ab dem Zeitpunkt, wo Flexibilität mehr Hexenschuss verursacht, als man aushalten kann. Und das kann man nur selbst mit großer Ehrlichkeit feststellen und sich dann zum Ofen setzen.

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Sandra Staub
Digitale Geriatrie

💻 Ex-Journalistin, Bloggerin, Autorin 👩‍💻 Social Media Contents & Funnel Marketing 🤓