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Jammern auf einsamen Niveau

Sandra Staub
Digitale Geriatrie
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9 min readJun 10, 2016

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Alle paar Monate ruft er mich an. Als ich seine Nummer am Display sehe, runzle ich die Stirn. Hab ich jetzt spontan eine Stunde Zeit mit ihm zu telefonieren? Nein. Ich muss den Text abgeben. Die Redaktion wartet. Ich drücke ihn weg. Unmittelbar nach dem Klingeln, ruft er nochmal an. Mein Telefon ist stumm geschaltet. Er schreibt mir eine WhatsApp Nachricht. Dann noch eine und noch eine. Ich muss meinen Text abgeben.

Knapp eine Stunde später ist der Text so halbwegs fertig. Ich brauche eine Pause. Mein Telefon läutet wieder stumm. Ich nehme mir ein Herz und drücke auf die grüne Taste.

Jedes unserer Gespräche verläuft gleich. Als wäre jede Konversation mit Bleistift vorgeschrieben.

Erst mal wird darüber gejammert, dass ich so schlecht erreichbar bin und ja so busy sei. Dann, dass auch bei ihm gerade alles schief ginge. Die Rechnung vom Gaswerk ist schon wieder massiv erhöht worden. Aber ohne warmem Wasser, geht es halt einfach nicht.

Der Kollege, der beim letzten Mal noch da war, der ist jetzt weg. Jetzt fehlt natürlich was im Laden. Aber eigentlich ist er froh, denn der hat sich ja auch nur noch aufgeführt, als wäre er der Chef. Und der hatte ja Preise, unverschämt. So geht es ja nicht. Und überhaupt, die Leute sind so respektlos und frech, unfassbar.

Stimmt, denke ich mir. Vor allem mit meiner Zeit. Nach gefühlten 10 Minuten komme ich das erste Mal zu Wort. Die Frage, wie es ihm geht, hat sich mehr als erübrigt. Die Welt ist also böse und er sowieso der Ärmste. Ich erzähle drei Sätze darüber vom Wochenende und das ich in zwei Wochen auf einem Kongress spreche und noch alles vorbereiten muss.

Vorbereiten? Ja, von Vorbereitung hätte meine Generation ja keine Ahnung mehr. Wie ungepflegt die Frauen auch aus dem Haus gehen heute. Keine macht sich mehr eine schöne Frisur. Alle tragen nur noch diesen ideenlosen Dutt und irgendwelche abgerissenen Jeans. Stimmt, denke ich mir, denn ich bin keine Modepuppe und nehme mir wiederholt vor, mich nicht gleich von jedem Satz angegriffen zu fühlen.

Obwohl die neuen Oberteile, die sind ja schon cool, sagt er. Der Trend kommt ja aus New York. Das hätte er ja damals schon gesehen und auch heute wieder auf Instagram. Das hat man schon in den 90ern getragen und jetzt kommt der Look halt wieder. Die Details sind halt jetzt anders.

Es ist schon passiert. Er hat Instagram gesagt. Jetzt kommt’s gleich. Ich hole innerlich Luft und tauche in ein Becken voller Liebe und Mitgefühl. Ja, das hilft mir inzwischen wirklich.

Aber ja, bei diesem Instagram, da hätte ihn ja jetzt jemand aus England und aus Neuseeland gelikt. Das ist ja schon genial. Aber es kommen halt keine Kunden drüber, das ist ja schon komisch. Vielleicht ist ja was falsch eingestellt? Ob ich das wisse. Ich atme tief aus und sage: Oh, das glaube ich nicht. Wir haben das doch gemeinsam perfekt eingestellt. Ich sehe ja, du postest tolle Sachen. Er bedankt sich und erklärt mir, dass ein Kunde, der hätte ja was gepostet, da wäre er auch im Bild gewesen und das wäre dann über 1.200 mal gelikt worden. Innerhalb von nur zwei, drei Stunden. Der wüsste da ja sicher auch, was man da anders einstellen muss. Ob er den mal fragen soll. Aber ja, sage ich. Frag ihn mal, was seine Geheimtipps sind. Sofort die Gegenfrage, ja ich könne ja mal vorbei kommen wenn der wieder einen Termin ausmacht. Mhm, denke ich mir. Sicher nicht, denke ich mir. Sage aber: Du, wenn er wieder mal da ist, schreib mir eine WhatsApp, vielleicht bin ich ja auch in der Stadt und hab grad frei. Dann springe ich vorbei.

Ich tauche aus dem fiktiven Becken auf und fühle mich erfrischt. Für wenige Sätze.

Mein Gegenüber versteht nicht, dass ich nicht jede Woche einmal bei ihm bin. Er sei doch so nett und so fürsorglich. Wir können doch mittags essen bei ihm und ich würde endlich mal hinter meinem Bildschirm hervorkommen. Ich erkläre kurz, dass ich im Semester 32 Stunden quasi für den guten Zweck unterrichte und ganz gut unterwegs bin. So alle zwei Wochen mal für einige Tage nicht im eigenen Bett schlafe, weil ich irgendwo anders als daheim arbeite. Aber er hört es nicht.

An seinem Ende ist jemand in den Laden gekommen und “will sich nur mal umsehen”.

Das ist der Euphemismus unserer Zeit, wenn wir einen neuen Mantel suchen, dann einen Tag lang ziel- und zeitvergessen durch die Städte trampen, um am Schluss mit zwei Hosen und neuen Schuhen nach Hause zu fahren. Alles Schnäppchen, wenn möglich. Nix über 25 Euro. Mix and Match. Billig und Bio. Qualitätsteile und Basics. Alle tragen damit individuell das Gleiche. Weltweit. Gerade die Mode macht Globalisierung in Zügen und Hotellobbys sichtbar.

Mein Gegenüber ist zurück. Meint, dass er sich kurz fassen muss. Ich sage, oh, das passt gut. Ich soll ja auch weitermachen.

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Ich höre, wie der Gast im Laden sich verabschiedet. Das charakteristische Windspiel an der Tür. Und damit kommt die Zeit meines Telefonpartners zurück, als hätte man auf die Snooze-Taste gedrückt und könnte sich nochmal 15 Minuten von der Welt stehlen.

Hach, die Dame sei gerade mit einem Dackel da gewesen. Das habe er ja mit Seiner am Schluss gar nimmer machen können. Es sei aber immer noch schwer ohne. Ein Hund ist ja ein Familienmitglied. Und ja, er ist noch sehr traurig. Gerade, wenn wie jetzt, jemand mit Hund in seinen Laden kommt, bricht ihm das Herz fast. Ich sage zum wiederholten Male, wie leid mir sein Verlust tut. Man spürt selbst durch die Telefonleitung, wie schlimm die Einsamkeit geworden ist. Weil er sich allein fühlt auf dem Planeten. Jetzt ist abends niemand mehr da. Niemand braucht mehr Pflege und Aufmerksamkeit. Nur noch wenige hören ihm zu.

Dann kommt der Teil mit dem Geld. Eigentlich wäre der direkt nach der Kundin gekommen, die nichts gekauft hat. Aber die Umstände machen einen Umweg über den Hund notwendig. Das ist nachvollziehbar. Also kommt die Frage, wie so das Geschäft bei mir läuft, wenn ich so viel rumfahre. Ich erzähle von diesem und jenem und bin mir vollkommen bewusst, dass er inhaltlich nicht versteht, womit ich mein Geld verdiene. Statt Online Marketing könnte ich auch Zwergelefanten züchten. Einzig beim Geld kommt schließlich raus, ob es passt.

Wer bis hierher dachte, mein Gegenüber ist ein Familienmitglied, den muss ich enttäuschen. Er ist einer meiner ersten Kunden. Er denkt, wir sind Freunde, dabei bin ich einfach nur höflich und manchmal zu weich. Und er hat noch einige Jahre bis zur Mindestrente, von der er übrigens nicht leben können wird. Virtuelle Dinge sind für ihn E-mails, E-Bay und Instagram. Fast alle, habe ich ihm aufgezwungen.

Den Unterschied zwischen „Keine Internetverbindung“, „Kein Speicherplatz“ und „Passwort falsch“ konnte ich ihm bis heute nicht verständlich machen.

Für ihn funktioniert es dann halt nicht, ich bin schuld und er macht woanders weiter. Er war auch ganz enttäuscht von mir, dass ich sein Internetradio nicht binnen drei Minuten ohne Anleitung einrichten konnte. „Ihr jungen Leute könnt doch sowas“. Nein, sage ich damals knapp. Ich musste zur Bahn.

Er war ja damals auch todtraurig, dass ich ihm sein Handy nicht umgezogen habe auf ein neueres Modell, das inzwischen so lange bei ihm zuhause herumliegt, dass es auch schon wieder alt ist. Ich habe ihm gesagt, die im Laden machen das für ihn, damit kenne ich mich wirklich nicht aus. Es ist einfach nicht meine Welt.

E-Bay hat er selbst entdeckt. Da bin ich sehr stolz auf ihn. Er verkauft wirklich viele Sachen, die im Laden nicht gehen dort um wenigsten den Einkaufspreis wieder zu verdienen. Irgendwann hat er mir aber auch gestanden, dass er fast genauso viel wieder kauft. Einfach weil es sein Herz berührt und er es haben möchte. Und zwar Sammlergegenstände. Er erzählt mir auch immer gerne, welche Sachen er wieder erstanden hat. Poster. Puppen. Schnitte. Zeitungen aus guten alten Zeiten. Dabei hat er ein Leuchten in den Augen und ich sehe, dass er Freude daran hat. Inzwischen habe ich sicher 5 Minuten des Telefonats verpasst und ich fühle mich schuldig. Vielleicht waren es auch 10. Er fragt aus heiterem Himmel, was sich in meinem Geschäft außerhalb der Termine so tut.

Nach einer kurzen Erzählung, warum meine gewissenhafte Buchhalterin möchte, dass ich alle zwei Jahre ein Gerät lease, und das ich diesem Wunsch jetzt wieder zu entsprechen habe, bricht etwas ab. Die Geduld meines Gegenübers. Es würde ihn ja freuen, dass es so laufe bei mir, aber bei ihm…. viele kämen einmal, wenn es ganz dringend sei zu ihm. Dann noch ein zweites Mal und dann war es das.

An dieser Stelle der Gesprächsautobahn fahren wir endgültig ab auf den Ring der unverständlichen Welt für ihn. Mein Gelaber war quasi das nervende Navi. Ich solle ihm doch sagen, was er besser machen soll. Soll ihm mein Geheimnis verraten, warum es bei mir so abgeht. Aber ich sage ihm nur, ich weiß es nicht. Vielleicht wäre lächeln ein Anfang, wenn man in den Laden kommt. Aber ich kann ihm das nicht so ins Gesicht klatschen. Ich suche noch nach einer sympathischen Umschreibung dafür, dass jemand, der einem Geld dalässt, auch das Gefühl braucht, angenommen zu werden. So wie er das am Telefon braucht. Genau jetzt.

Dann erzählt er mir, dass ja in der Nachbarschaft so viel eingebrochen wird und dass er sich aber auch nicht wundere darüber. Die Leute hätten ja alle fette Leasingautos von der Firma. Dann glauben Einbrecher natürlich, dass es was zu holen gibt. Da seien die Leute schon auch selbst schuld. Er habe ja nur Angst, dass sie eines Tages bei ihm im Laden einbrechen würden. Da sind ja schon Werte drin, sagt er. Und ja, er hat absolut recht mit dem letzten Punkt.

Ich muss kurz daran denken, dass er mir noch beim letzten Mal seine Freude darüber geschildert hat, wie gut sein Oldtimer doch wieder angesprungen sei. Er hätte lediglich zur nächsten Tankstelle fahren müssen mit dem anderen Wagen um etwas Benzin für die Strecke zu holen. Dank des Beckens aus Liebe und Mitgefühl musste ich ihm noch nie sagen, dass er es verdammt gut hat. Er lebt alleine in einer Wohnung, die groß genug für eine kleine Familie wäre und beschwert sich ständig darüber, dass Stuck schön, aber viel Arbeit sei. Eine nette Abwandlung eines Zitates, wie ich finde. Er besitzt ein Auto und einen Oldtimer und beschwert sich darüber, dass andere Menschen einen Leasingwagen von der Firma gestellt bekommen. Wenn die bei der Firma rausfliegen, ist das Auto weg. Sofort. Er jammert auf hohem Niveau.

Den Teil des Gesprächs über die unverschämte Nachbarin hab ich jetzt verpasst. Aber es dürfte wieder die Blumen-gießen-wenn-er-mit-Kunden-darunter-steht-Nummer sein. Sie ist ihm da in Bösartigkeiten fast ebenbürtig.

Er hat mit der Nachbarin noch nie nett gesprochen und auch nicht über sie. Die anderen Nachbarn mögen ihn gern. Er nimmt ihre Pakete an, wenn sie arbeiten. Sie loben ihn auch immer für die tolle Musik im Laden. Die ist echt super. So beschwingt und leicht. Im Viertel kennen ihn einige als der Typ der so selten im Laden ist. Andere als der, der immer so gestresst schaut. Aber das weiß er nicht. Wenn ich ihm das sage, bin ich unsicher, wie er drauf reagieren würde. Ich denke, es würde ihn nur verletzen. Das ist unnötig.

Aber warum ist er eigentlich so drauf?

Weil ihm das einfachste auf der Welt fehlt, fürchte ich. Eine Handvoll Freunde, die abends mit ihm auf eine Pizza gehen und sich sein Leben anhören. Ein Partner im Leben, der einen geerdet hält und mit einem lacht. Nun, ich kenne einige sehr glückliche Singles. Die haben halt einen Freundeskreis und schauen sich die Welt an. Aber er hat nichts mehr nachdem der Hund gestorben ist, obwohl es ihm an nichts Materiellem mangelt.

Einsamkeit ist bitter und man versucht sie immer auszuspucken. Geht aber nicht.

Ich wünschte, er könnte mein Becken aus Liebe und Mitgefühl sehen. Darin baden. Mal eine meinungsfreie zweite Perspektive sehen. Feststellen, dass er nicht mehr haben wird, nur weil jemand anders weniger hat. Und, dass auch sein Reichtum nicht abnimmt, wenn jemand anderes in der Straße ein wertvolleres Auto fährt. Oder, dass die Kreationen seines Kollegen nicht besser sind, nur weil sie teurer sind. Und auch nicht umgekehrt.

Ein kurzer Blick auf die Uhr an der Wand verrät, dass er jetzt schon relativ lange über den neuen Laden nebenan spricht. Der hätte ja so Zulauf, obwohl da niemand drin kauft. Es ist ja ein Showroom. Aber so toll seien die Sachen dort auch nicht. Er würde da nix kaufen. Ich etwa? Ich? frage ich nach. Noch verdiene ich nicht so gut, dass ich mir solche Luxusdinge kaufen würde. Da würde ich mich ja lieber auf den nächsten Urlaub freuen. Oder einen Thermentag. Ja, ich habe da keine großen Ziele. Ich mag ja Freizeit mit diesem auf Knopfdruck entspannen nicht so gerne, wenn ich ehrlich bin mit mir selbst.

Mein Handy piept den Stundenton. Den habe ich mir vor geraumer Zeit mal installiert, damit mein Gegenüber dann auch nachfragt, was denn das gewesen sei. Ich sage, wie schon so oft, oh, das war der Ton, dass wir schon eine Stunde telefonieren und ich jetzt weitermachen sollte. Jedes Mal wieder versuche ich es leicht und fröhlich klingen zu lassen. Ist es aber nicht. Denn ich werde ihn jetzt aus der Leitung komplimentieren. Ihm noch einen tollen Tag wünschen und zum Abschied sagen „Lass uns bald mal wieder treffen.“ Es ist eine dumme Lüge. Ich sollte mir dringend etwas Neues überlegen und bin offen für Vorschläge.

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Sandra Staub
Digitale Geriatrie

💻 Ex-Journalistin, Bloggerin, Autorin 👩‍💻 Social Media Contents & Funnel Marketing 🤓