20%-Zeit bei Digital Frontiers

Joachim Baumann
Digital Frontiers — Das Blog

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Aktuell ist 20%-Zeit in aller Munde, und es ist für viele Beratungsfirmen interessant zu sagen, dass sie ihren Mitarbeitern ein Arbeitsmodell mit 20%-Zeit bieten. Aber ist den Beteiligten klar, was dies bedeutet?

Was ist die Idee?

Die grundlegende Idee ist sehr einfach. Die Mitarbeiter arbeiten 4 Tage pro Woche für die Projekte der Firma und ein Tag pro Woche ist reserviert für Dinge, die nicht direkt mit dem Alltag der Firma zu tun haben. Dies können interne oder Open-Source-Projekte sein, Weiterbildung, Konferenzteilnahme oder persönliche Entwicklung. Dies soll den Mitarbeitern dazu dienen, sich weiterzubilden und auch außerhalb ihrer unmittelbaren Aufgabe zu entwickeln. Während die Idee der 20%-Zeit in Produktfirmen schwieriger zu realisieren ist, lässt sie sich in Beratungshäusern prinzipiell einfach umsetzen.

Das Positive

Die unmittelbaren Vorteile einer solchen Vorgehensweise sind offensichtlich. Die Mitarbeiter sind motivierter, zufriedener und auch interessierter an neuen Technologien und bringen sich in die Zukunft der Firma stärker ein. Und das sorgt natürlich auch für eine bessere Bindung an die Firma.
Außerdem findet durch Veröffentlichungen und Vorträge, die in dieser 20%-Zeit entstehen können, natürlich Werbung statt sowohl für die Firma als Arbeitgeber als auch für die Firma als Beratungsunternehmen mit Expertenwissen.

Die Herausforderung

Bei der Umsetzung der 20%-Zeit haben wir unter anderem die folgenden Herausforderungen:

  • Inhaltliche Koordination: Wenn jeder nur das macht, wozu er im Moment Lust hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass keine Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitern entsteht. Außerdem sind die Wenigsten in der Lage, selbstständig ihre eigenen Ziele zu kontrollieren.
  • Das Geschäftsmodell der Firma muss die 20%-Zeit sinnvoll erlauben. In einer Firma, die auf Body-leasing setzt (also eine Maximierung der Zeit beim Kunden), macht eine 20%-Zeit keinen Sinn. Die maximale Integration entsteht mit dem Expertenmodell. Hier wirkt die 20%-Zeit selbstverstärkend sowohl nach innen (die Mitarbeiter werden zu besseren Experten) als auch nach außen (die Wahrnehmung als Experten verstärkt sich im Markt).

Wie passt 20%-Zeit zu einer Beratungsfirma?

Natürlich gibt es nicht “das” Beratungsgeschäft, aber im IT-Bereich lassen sich grob drei Geschäftsmodelle differenzieren. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen und vor allem ohne jegliche Wertung:

  • Body-Leasing: Hier wird mit im Vergleich geringen Margen eine große Menge an Beratern zu den Kunden gebracht. Hierbei bleiben alle Projekte in der Verantwortung des Kunden und die Anforderungen an die Berater sind durch eine große Anzahl von Beratern erfüllbar. Die Beratungsfirma liefert damit die Arbeitskraft. Wenn einer der Berater ausfällt, wird er problemlos durch einen anderen ersetzt. Geld wird verdient über eine hohe Anzahl von fakturierten Stunden beim Kunden.
  • Projektgeschäft: Hier werden gesamte Gewerke des Kunden in Verantwortung übernommen. Dies beinhaltet auch eine Übernahme des Risikos. Die Projekte werden mit einer Mischung aus vielen Junioren und wenigen Senioren so zusammengesetzt, dass das Projekt geliefert werden kann. Geld wird verdient über eine gute Behandlung von Risiken und eine gute Mischung der Projektmitarbeiter.
  • Expertenmodell: Hier werden mit hohen Margen Experten zu schwierigen Situationen bei Kunden gebracht. Der Kunde erwartet die Problemlösung und ist dafür auch bereit, höhere Tagessätze zu zahlen. Die Beratungsfirma liefert damit Lösungen für Herausforderungen, und wenn ein Berater ausfällt, dann bedeutet dies ein ernsthaftes Problem für den Kunden. Geld wird verdient über eine vergleichsweise niedrige Anzahl fakturierter Stunden beim Kunden.

Alle Modelle haben ihre Vor- und Nachteile, und man wird bei kaum einer Firma eines der Modelle in Reinform finden (wir zum Beispiel verwenden eine Mischung aus Experten- und Projektmodell).
Aber, und das ist ein wichtiger Punkt, diese Modelle beeinflussen nicht nur die Berater selbst, sondern in sehr hohem Maß den Vertrieb, der beim Body-Leasing wenig von den Problemen des Kunden verstehen muss, beim Projektgeschäft schon mehr, und beim Expertenmodell sehr genau die Probleme und Lösungsansätze durchdrungen haben muss. Darüber hinaus werden selbst Back-Office-Einheiten beeinflusst, und auch die Ausrichtung der Firma von der Strategie bis zum operativen Management wird sehr stark durch das Modell determiniert. Es wird also die gesamte Firma inklusive ihrer Struktur beeinflusst!
Wenn wir die Modelle im Zusammenhang mit der 20%-Zeit betrachten, dann macht diese nur Sinn beim Projekt- und Expertenmodell, und nur beim Expertenmodell ist sie notwendiger Teil des Geschäftsmodells. Zum einen sorgt diese Kombination dafür, dass die Mitarbeiter zu Experten werden beziehungsweise langfristig bleiben, zum anderen entsteht ein sehr effektives passives Marketing (und damit Vertriebsunterstützung) durch Veröffentlichung und Vorträge. Dies wiederum etabliert die Marke (den “Brand”) und sorgt für zielgerichtete Akquise von interessanten Positionen und Projekten bei Kunden.

Mögliche Implementierung

Die Idee ist gut und insbesondere in einem Beratungsunternehmen, das sich auf das Expertenmodell konzentriert für alle Beteiligten vorteilhaft. Allerdings ist es notwendig, an einigen Stellen Unterstützung anzubieten, da wir alle aus hierarchischen Umgebungen kommen und eine agile Umgebung für uns immer eine kleinere oder größere Herausforderung bedeutet. Betrachten wir einige dieser Punkte.

Themenauswahl

Eine Möglichkeit der inhaltlichen Koordination ist ein regelmäßiges Treffen entweder aller Mitarbeiter oder einer Gruppe seniorer Kollegen, um die für die Firma und den Markt in den nächsten 2 Jahren interessanten Themen zu identifizieren und die aktuell zu verfolgenden Themen anzupassen. Dies bedeutet nicht eine sklavische Festlegung auf eine kleine Untermenge an Themen, sondern eine Entscheidungshilfe, die in den meisten Fällen gerne angenommen wird.
Dies bedeutet insbesondere für die senioren Kollegen auch die Pflicht des “Themen-Scoutings”, bei dem neue, interessante Themen auf die Bedeutung für den Markt und die Firma geprüft werden.

Koordination der 20%-Zeit

Es hat sich als sehr vorteilhaft erwiesen, eine zentrale Stelle zu haben, die die in der 20%-Zeit durchgeführten Projekte und Themen koordiniert. Diese Koordination kann verhindern, dass die 20%-Zeit in reines Kaffeetrinken und administrative Tätigkeiten ausartet. Dies bedeutet: Es gibt jemanden, der Ziele setzt und Erfolgskontrollen durchführt. Diese werden natürlich mit und von den Kollegen definiert, aber auf diese Weise ist es einfacher, den (kaffeetrinkenden) inneren Schweinehund zu überwinden.

Mentoring

Mentoring ist ein Aspekt der Zusammenarbeit, der leider immer wieder ignoriert wird. Erfahrenere Kollegen unterstützen hierbei und vermeiden, dass die Fehler, die sie gemacht haben, wiederholt werden. Wichtig: Erfahrener bedeutet nicht notwendigerweise älter.
Mentoring kann sich auf inhaltliche Themen beziehen, und kann dann mit der Koordinationsrolle zusammengeführt werden. Weit häufiger bezieht es sich aber auf die Kultur der Firma und die Frage, wie interne und externe Herausforderungen gelöst werden. Dies geht von der Vorbereitung eines Vortrags oder dem Schreiben eines Artikels bis zu komplexen Gesprächen in kritischen Projektsituationen.
Damit ist Mentoring keine temporäre, sondern eine dauerhafte Aufgabe mit wechselnden Partnern.

Entstellungen der Idee

Für mich faszinierend sind die Verzerrungen dieser Idee, die man immer wieder beobachten kann. Hier nur zwei Beispiele aus meiner Erfahrung:

  • Bug-Fixing als 20%-Zeit. Hier wird eine normale Arbeit mit einem neuen Namen versehen und damit als Vorteil und Nutzen für den Mitarbeiter verkauft, während dies nur zum direkten Vorteil der Firma gereicht.
  • Auch Berater in den ersten 4 Tagen der Woche 40 Stunden beim Kunden leisten zu lassen, um ihnen dann den 5. Tag als 20%-Zeit zu verkaufen, ist keine Umsetzung der Idee.

Der schnellste Weg, diese Entstellungen zu entlarven, ist Cicero’s Frage “Cui bono?” (“wem nutzt es?”). Falls der einzige Nutznießer die Firma ist, und dies im schlimmsten Fall auch noch auf Kosten des Mitarbeiters, dann ist das keine Umsetzung der 20%-Zeit.

Was sieht es bei Digital Frontiers aus?

Bei Digital Frontiers folgen wir dem Expertenmodell mit Beimischungen von Projektgeschäft. Wir verwenden Mentoring sowohl für die interne Kultur als auch für technische und inhaltliche Unterstützung. Diese fällt aktuell zusammen mit der Koordination der Themen, da wir aktuell noch keine exklusive Rolle für diese Aufgabe definiert haben. Dies ist aber ein fester Teil der Planung im Wachstum und sehr stark in unserer Philosophie verankert.
Wir sind eine agile Organisation ohne dauerhafte Hierarchien, nur mit spezifischen Rollen. Derjenige, der ein Thema am besten beherrscht, übernimmt die Führung, und es gibt nur wenige Aufgaben, die längerfristig an eine Person gebunden sind (Beispiel Geschäftsführung, da diese im Handelsregister eingetragen ist und mit langfristiger Verantwortung verbunden ist).
Dies bedeutet sehr große Freiheit in der Gestaltung der eigenen Arbeit und der Themen, die interessant für das eigene Vorankommen sind, vor allem aber einen großen Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der Firma. Es bedeutet aber auch die Verantwortung, diese Freiheit in der bestmöglichen Weise zu nutzen, um Firma und Mitarbeiter voranzubringen.

Betriebswirtschaftliche Betrachtung

Dummerweise muss eine Beratungsfirma Geld verdienen, um überleben zu können (außer sie ist ein persönliches Hobby des reichen Onkels, den wir nicht haben). Wir kalkulieren aufgrund des Expertenmodells mit einer Auslastung von 80%, was dazu führt, dass unsere Mitarbeiter im Jahr 1.440 Stunden beim Kunden fakturieren müssen. Der Rest der Zeit ist die Zeit, die genutzt werden kann für die 20%-Zeit.
Insbesondere sagen wir nicht, jeder Freitag ist der “+1”-Tag. Wenn ein Kunde unsere Hilfe an einem Freitag braucht, werden wir diese nicht versagen. Eventuell wird dann zum Beispiel eine Woche intensiv an einem Thema genutzt, oder die Zeit zwischen zwei Projekten für die Weiterbildung verwendet.

Zusammenfassung

Das Expertenmodell der Digital Frontiers erfordert zwingend eine hohe Eigenständigkeit der Mitarbeiter und ihren Willen, nicht nur sich selbst und Kollegen weiterzubilden, sondern darüber hinaus ihr Wissen an die Allgemeinheit weiterzugeben. Diese Form das passiven Marketings sorgt für eine Wahrnehmung der Mitarbeiter der Digital Frontiers als Experten. Damit ist die 20%-Zeit ein wesentlicher Teil des Geschäftsmodells.
Wenn wir jetzt auf unsere Eingangsfrage zurückkommen, dann lässt sich klar sagen, dass die sinnvolle Einführung von 20%-Zeit einige Gedankenarbeit erfordert, die in den meisten Fällen nicht gemacht wurde. Eine simple Frage in diesem Zusammenhang, die klar macht, ob die 20%-Zeit in einer Firma aufgesetzt oder echter Teil der Firmenkultur ist, lautet: “Wem nutzt die 20%-Zeit und auf welche Weise?” Eine ähnliche Frage lautet: “Wie sieht Ihre Firmen- und Führungsstruktur aus?”
Die Frage “Gibt es auch Bananen im Fruchtkorb?” hingegen ist nicht so gut geeignet diese Frage zu beantworten. Aber das sollte nach der Lektüre klar sein…

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