Genug gebasht, können wir mit der Arbeit anfangen?

Chris Boos
Digitalrat Deutschland
6 min readJan 20, 2020

Wir haben es mit dem größten Umbruch seit der industriellen Revolution zu tun. Das wird nicht nur von den Medien oder den Wirtschaftsinstituten der Digitalisierung zugesprochen. Auch die allgemeine Stimmung spiegelt einen bevorstehenden Umbruch wieder. Angst und Bedenken sind die vorherrschenden Gefühle. Das geht soweit, dass diese sogar zum „deutschen Kulturgut“ erklärt werden.

Fraktal aus der Mandelbrotmenge — Wir bestimmen unser Zukunft, weil alles miteinander vernetzt ist.

Aber wovor haben wir eigentlich Angst? Vor der Zukunft; davor, dass es uns schlechter gehen könnte? Was ich an der Zukunft ganz besonders liebe, ist, dass sie vollkommen unvermeidlich ist. Sie kommt, egal was man tut. Das bedeutet, wir können uns große Sorgen machen, was denn nun die Zukunft für uns bringt. Und diesen Sorgen können wir Luft in Tweets, YouTube Videos, in Aufmärschen oder am Stammtisch machen. Das wäre super, wenn das der Anfang davon wäre miteinander zu sprechen. Es wäre klasse, wenn das der Startschuss dafür wäre, einen Plan zu machen und ihn umzusetzen. Es wäre einsame Spitze, wenn das der Beginn einer Kommunikation wäre, in der wir uns darauf einigen, wie denn die Zukunft aussieht, die wir haben wollen.

Und damit kommen wir zum Kern der Sache. Viel der Angst, die es vor dem Thema Digitalisierung gibt kommt von der Frage, was andere mit uns da anstellen. Oder hat als Antwort, dass irgendjemand anders etwas tun muss, damit dies oder jenes nicht passiert. Sich einfach nur zu beschweren und mehr zu beschweren und lauter zu beschweren ist doch wirklich nicht cool.

Für mich ergibt das keinen Sinn. Die Zukunft kommt, es spricht alles dafür sie zu lieben! Und das absolut beste an der Zukunft ist, dass wir sie beeinflussen können. Nicht irgendjemand, sondern wir alle. Nicht einer alleine, sondern wir zusammen. Mit all unserer Vielfalt mit all unseren Bedürfnissen mit all unseren Meinungen und Zielen.

Das Problem mit der Zukunft ist, dass wenn man sie positiv für sich haben will, man eben nicht warten kann, bis sie ein anderer für uns erledigt. Das bedeutet nicht, dass jeder nun ein Zukunfts- oder Digitalisierungsexperte sein muss. Gerade Europa zeichnet sich dadurch aus, dass wir alle mitnehmen wollen und denen die Unterstützung benötigen zur Seite stehen. Jetzt kommen wir aber zum echten Knackpunkt der Digitalisierung. Wir erforschen sie hier bei uns, wir erfinden sie hier bei uns, aber wir setzen sie nur zu einem ganz ganz kleinen Teil auch hier um. Das betrifft meist nicht das Privatleben, denn wir sind zu einem sehr großen Teil zu Hause vollkommen überdigitalisiert. Das betrifft die Art und Weise, wie und was wir Arbeiten. Wofür die Marke „Made in Germany“ steht und was man mit einem Menschen, der in Deutschland lebt hier und anderswo verbindet.

Damit wir nicht 50.000 Dinge gleichzeitig anpacken und keines davon gut zu Ende bringen, ist ein gemeinsames Ziel wichtig. Ein Ziel, das uns alle betrifft und ein Ziel das manche lieben und manche hassen. Aber eben etwas, worauf man zulaufen kann und unterwegs ganz viele Probleme löst. Mein Lieblingsbeispiel ist Kennedy, der den Amerikanern gesagt hat „In den nächsten zehn Jahren bringen wir jemanden zum Mond und wir tun das nicht, weil es leicht ist, sondern weil es schwierig ist. Andere folgen nur Nationen, die den Mut haben die schwierigen Probleme anzugehen und diese dann auch lösen“. Wir müssen unser eigenes Ziel finden, aber auf dem Weg dorthin werden wir alles lösen, was uns unterwegs begegnet. Das ist wirklich eine Eigenschaft, die man unserem Land zuschreiben kann.

Diese Diskussion, der Streit, das Tun, das Fehlermachen, das Lernen und dann das Bessermachen gehören zu diesem Prozess. Und daran ist nichts falsch, sondern es ist unglaublich bereichernd. Was meine persönliche Erfahrung im Digitalrat ist, ist, dass dort Menschen aufeinandertreffen, die vollkommen unterschiedliche Hintergründe und Meinungen haben. Aber eben auch Menschen, die alle bereit sind, voneinander zu lernen, die sich respektieren und nicht einfach nur möglichst schnell eine Gehirnwäsche beim Gegenüber erzeugen wollen. Als ich angefangen habe, mich in dieses Team einzubringen, war ich sehr skeptisch. Einerseits, weil ich dachte, dass hier eine Sammlung von Einzelhelden aufeinandertrifft, von denen jeder irgendein Lieblingsprojekt durchdrücken will. Andererseits, weil ich eben nicht teil eines Feigenblatts für das „haben wir schon immer so gemacht“ einer etablierten Organisation sein wollte. In beiden Fällen bin ich schnell eines Besseren belehrt worden. Die Menschlichkeit, die ich in diesem Team erfahren habe ist klasse. Wir streiten, probieren, messen, lernen, einigen uns, bringen anderen etwas bei und lernen von anderen. Obwohl das viel Arbeit ist, ist es eine totale Bereicherung. Und dann der Kontakt mit „der Politik“… Ich hätte niemals soviel Offenheit für Veränderung und Bereitwilligkeit zur Umsetzung erwartet. Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen nicht nur die Politiker, sondern auch die vielen Menschen in der Verwaltung erleben könnten, wie wir das vom Digitalrat aus tun. Menschen, die sich um unsere Gemeinschaft bemühen, auch wenn das nicht immer leicht zu sehen ist. Das motiviert mich außerordentlich, denn wenn man in einer so großen Organisation — wie der Bundesrepublik — von oben die Bereitschaft zur Veränderung hat, die Bereitschaft nicht nur digitalen Querköpfen zuzuhören, sondern deren Vorschläge auch ausprobiert und umsetzt, dann bedeutet das für mich, dass sich diese Veränderung langsam aber sicher durch die gesamte Organisation ziehen wird.

Als Digitalrat glauben wir, dass es sich bei der Digitalisierung um die größte Chance handelt, die uns allen präsentiert wird. Aber wie das bei großen Chancen so ist, so bergen sie auch ein gewisses Risiko. Darum ist es uns allen sehr wichtig, dass wir diese Veränderung nicht mit großen Ankündigungen oder den Heldentaten einzelner gefährden. Viel mehr wollen wir den Grundstein für eine für jeden offene Gemeinschaft legen, die Digitalisierung im Sinne aller Bürger begreift und vom Kleinen ins Große umsetzen hilft.

Oft wird beschrieben, dass Europa und Deutschland bereits digital abgehängt seien. Man sagt, dass entweder China mit dem Modell der Schwarmgesellschaft oder die USA mit dem Modell der Profitmaximierung die einzigen Möglichkeiten für die Umsetzung der Digitalisierung sind. Wir glauben fest daran, dass Europa und Deutschland einen dritten Weg bieten könne. Einen Weg, der auf Menschen und Wirtschaft, auf Freiheit und Erfolg, auf Fakten und Identität beruht. Es ist unser Ziel diese Gemeinschaft an Menschen, die nicht nur an einen solchen Weg glauben, sondern ihn auch umsetzen und gestalten wollen ganz unabhängig von einem Gremium zu schaffen, denn diese Gemeinschaft bedeutet mehr als einzelne Personen. Und diese Gemeinschaft bleibt auch weit über das Bestehen eines einzelnen Gremiums hinaus.

Das Zitat „Das Internet ist Neuland“ wurde herzhaft belacht, gerade von Menschen aus der digitalen Community. Wenn wir aber sehen, was für Veränderungen in unseren Gewohnheiten bereits stattgefunden haben und welche Veränderungen unserer Geschäftsmodelle — weg von der Industrie, hin zum Wissen — anstehen, dann war das Gesagte doch viel korrekter als wir uns gerne eingestehen wollen. Aber weil wir hier unser Land nur durch Wissen so erfolgreich gemacht haben — und damit meine ich explizit alle, die dazu beigetragen haben — gibt es absolut keinen Grund sich vor diesem Schritt zu fürchten. Wir haben alles Notwendige, um eine Zukunft zu erreichen, die wir gerne haben wollen und der Weg dorthin führt mit Sicherheit nicht zurück über verstaubte Gewohnheiten oder Verzicht, sondern über Fortschritt und Technologie. Nicht im blinden Vertrauen auf eine technische Lösung, sondern im menschlichen Wissen, dass das gemeinsam zu schaffen ist, was alleine mit Sicherheit nicht geht. In diesem Zusammenhang sollten wir auch darüber nachdenken, dass wir den Besitz solcher Zukunftstechnologien nicht nur anderen Ländern überlassen sollten (zum Beispiel wie Saudi Arabien das über den Visionfund von Softbank tut). Wir dürfen das Selbstbewusstsein haben, selbst in den Besitz von essenziellen Technologien und Modellen zu investieren.

Aus all diesen Gründen freue ich mich, zum Jahresbeginn diesen etwas pathetisch anmutenden Beitrag schreiben zu dürfen. Wir schreiben dieses Blog, in dem wir Erfahrungen; Ideen und Aktionen teilen und zum Handeln auffordern. Nicht, weil wir Meinung diktieren oder machen wollen, sondern weil wir durch Getanes und Gedachtes zum Mitdenken und Mitwirken animieren wollen. Die Zukunft ist viel zu wichtig und viel zu spannend, um nicht alle mitzunehmen.

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Chris Boos
Digitalrat Deutschland

IT automation evangelist; CEO of arago AG, algorithm researcher, passionate climber and horse rider