Warum wir weniger Hose und mehr Fehler brauchen

Ijad Madisch
Digitalrat Deutschland
7 min readOct 29, 2019

Dass meine kurze Hose eine derart große Welle machen würde, war mir vorher nicht klar. Ich trage immer bequeme Kleidung, erst recht, wenn ich „unbequeme Fragen“ stellen soll. Und das war schließlich meine Aufgabe als Mitglied des neu formierten Digitalrats der Bundesregierung.

Als mein Handy freitags klingelte, war ich überrascht. Für ein „kleines, schlagkräftiges Gremium” mit Frauen und Männern aus der Praxis, “die uns antreiben und unbequeme Fragen stellen”, wünsche sie sich mich, sagte die Kanzlerin. Ich war skeptisch: Will ich mit dem komplexen und trägen System der Regierung arbeiten? Kann ich mit meinem Unternehmerwissen da wirklich helfen? Funktioniert das mit einem zusammen gewürfelten Team von Fachexperten überhaupt? Ich habe die Kanzlerin auf den kommenden Montag vertröstet, um ausreichend Bedenkzeit zu haben (Dass das wohl nicht die erwartete Reaktion auf eine Einladung der Kanzlerin war, dämmerte mir erst später…). Das kurze-Hose-Foto wenige Wochen darauf bildete für mich den Auftakt der nun seit einem Jahr bestehenden Arbeit des Digitalrats.

Ein kleiner Akt, bisweilen sogar unbeabsichtigt wie im Falle des Fotos, kann als Disruption wirken und eine gesellschaftliche Diskussion auslösen. In diesem Fall darüber, ob man in kurzer Hose zur Kanzlerin gehen darf oder nicht.

Ich bin der Meinung, man darf es. Bei ResearchGate trage ich immer Jogginghose und im Sommer Shorts. Einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen es genauso. Veränderungen herbeiführen, Dinge wagen und wirklich kreative, neue Lösungen finden ist anstrengend genug, da sollte das Outfit bequem sein. Wenn wir den Umbruch ins digitale Zeitalter erfolgreich meistern wollen, brauchen wir Disruption. Wir brauchen Impulse — kleinste Wimpernschläge — die sich wie Wellen ausbreiten und neue Ideen weiter tragen. Das führt unweigerlich zu Konflikten und Diskussion. Es ist eben diese Reibung, die Fortschritt ermöglicht.

Ein funktionierendes Team ist hierbei meiner Erfahrung nach der Schlüssel zum Erfolg. Bislang konnte ich stets entscheiden, mit wem ich zusammenarbeite. Im Fall des Digitalrats war das anders: Fachexperten aus der Praxis wurden bunt zusammengewürfelt. Statt blind loszulaufen, haben wir also zunächst definiert, wie wir uns als Team begreifen und in welcher Art und Weise wir zusammenarbeiten, aber auch, was mit unseren Werten nicht vereinbar ist. Daraus haben wir Konsequenzen gezogen. Und ich wurde entgegen meiner ursprünglichen Skepsis eines Besseren belehrt: Es funktioniert (und bereitet viel Freude)!

Folgende Frage begegnet mir immer wieder (und vielleicht stellen Sie sie sich auch): „Digitalisierung in Deutschland, das ist doch eine Mammutaufgabe. Wie wollen Sie das denn schaffen?“ Meine Antwort: „Ich? Gar nicht. Wir als Digitalrat — auch nicht!“ Eine kleine Gruppe von Fachexperten kann Deutschland nicht digitalisieren. Das Team der Bund- und Landesregierungen mit ihren vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Zusammenarbeit mit Wirtschaft und Zivilgesellschaft schon — wenn, sie die richtigen Werkzeuge haben. Ich sehe unsere Arbeit mit dem Digitalrat als Disruption. Die Disruption, die notwendig ist, um nicht nur die aktuelle Regierung „anzutreiben“, sondern eine Veränderungswelle zu starten, die sich über Legislatur-, Partei- und Behördengrenzen hinaus ausbreitet. Denn Digitalisierung betrifft alle Bereiche. Wir sind in Deutschland mit dem Thema Digitalisierung bereits jetzt überfordert und in den nächsten Jahren werden noch weitere digitale Chancen, aber auch Herausforderungen auf uns zukommen — weit größer und diverser, als die, denen wir aktuell gegenüberstehen. Dafür müssen wir uns wappnen. Die “richtigen Antworten” bei der Bewältigung der Digitalisierung sieht auch Kanzlerin Merkel neben dem Klimaschutz als entscheidende Säule zur erfolgreichen Gestaltung unserer “Gesellschaft der Zukunft” (hier ab Minute 24:48 ihre Worte im Rahmen der zuletzt geführten Haushaltsdebatte).

Gerade wenn wir große Lösungen brauchen, müssen wir klein anfangen. Lean Startup-Methode heißt dieses Prinzip, das aus der Produktentwicklung stammend auf Prozesse und Systeme angewandt werden kann. Es geht von einem MVP (Minimal Viable Product) — einem „minimal überlebensfähigen Produkt“ — aus. Man baut ein MVP, das nur die essentiellen Bestandteile dessen enthält, was das Endprodukt ausmachen soll. Als Mediziner würde ich sagen: die DNA. Das MVP ist nicht perfekt und das ist gut so, denn wir wollen es testen und Feedback einholen. Wir messen, wie nah wir unserem Ziel bereits sind, damit wir — wie in der Wissenschaft — diese Daten nutzen können, um daraus zu lernen und das MVP in der nächsten Runde anzupassen und zu verfeinern. Ich nutze gern das Beispiel des Autobaus in einer Garage: Baue ich ein neues Auto gemäß eines zuvor definierten Lastenheftes bei geschlossenem Garagentor, dann investiere ich viel Zeit und Geld, um das vermeintlich perfekte Endprodukt herzustellen — Alles, um beim Öffnen des Garagentors festzustellen, dass der Kunde eigentlich etwas ganz anderes will (und braucht). Wenn ich hingegen bei offenem Garagentor arbeite und zunächst nur eine Seifenkiste mit vier Rädern hinstelle (das könnten die Minimalanforderungen an einen fahrbaren Untersatz sein), dann habe ich die Möglichkeit sofort Feedback einzuholen: „Was ist Ihnen als Kunde wichtig? Eher ein großer Kofferraum oder eine weitere Sitzreihe?“ Ich kann dann genau diese Änderung mit geringstmöglichem Aufwand umsetzen und schiebe anschließend das Auto gleich wieder aus der Garage. Ist die Reaktion des Kunden: „Nein, das ist nicht das, was ich möchte. Die Sitze sind viel zu eng“, habe ich sofort einen Datenpunkt, den ich nutzen kann, um in die richtige Richtung weiter zu arbeiten. Denn auch diese „negativen“ Datenpunkte sind wichtige Faktoren. Ich würde aus meiner Erfahrung als Wissenschaftler sogar sagen: gerade diese. Alle Resultate sind Resultate und damit wichtige Erkenntnisse — egal ob negativ oder positiv. Wir sollten Dinge, die nicht gelingen, frühzeitig teilen und daraus lernen. Das gilt für vermeintlich unerwünschte Resultate ebenso wie für Fehler. Wir müssen (in Deutschland) offener werden für eine positive Fehlerkultur — egal, ob in Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik.

Ein Bestandteil unseres Engagements im Digitalrat ist die Arbeit mit den Menschen innerhalb der Regierung. Wir haben sie in den Techniken des agilen Arbeitens und der Lean Startup-Methode im Rahmen von Workshops trainiert. Die Kanzlerin hat diese für unsere Regierung neuen Herangehensweisen in einer Generaldebatte des Bundestages (ab Minute 6:51) thematisiert und deutlich gemacht, dass eine Kehrtwende vom bisher üblichen Vorgehen notwendig ist. Wenn agile Arbeitsweisen und das hierfür notwendige Mindset sich durchsetzen, können wir gemeinsam viel mehr erreichen und einzelne Effekte können sich schnell übertragen. Sie breiten sich dann viral aus — wie das kurze-Hose-Foto — und erreichen in kürzester Zeit Millionen.

Im ada Fellowship Programm erfahren Führungskräfte der Bundesministerien und des Bundeskanzleramtes jetzt erstmalig die aktuellen Entwicklungen und Fertigkeiten der digitalen Welt aus erster Hand. Eine solche Fortbildungsmöglichkeit gab es bislang nicht. Das Regierungsteam, dass die Digitalisierung in Deutschland voranbringen soll, muss Expertise aufbauen. Es muss eigene Erfahrungen mit Veränderungen im Rahmen der Digitalisierung machen und sich selbst verändern. Wer Deutschland digital machen will, muss selbst digital werden. Auch dafür haben wir uns eingesetzt: Ab kommendem Jahr wird innerhalb der Bundesregierung da, wo es gesetzlich möglich ist, hoffentlich rein elektronisch kommuniziert. Kein Papier mehr. Keine Briefe. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ministerien erleben, welche Dinge bei der Abkehr von der Schriftformerfordernis (eine über 100 Jahre alte gesetzliche Vorgabe, die heutzutage Papierberge und unnötig komplizierte Kommunikationswege produziert — Ich konnte es kaum glauben!) gut klappen. Und es werden Fehler passieren. Aus diesen Fehlern können sie lernen — für die erfolgreiche Digitalisierung Deutschlands.

Lernen — und zwar “Vernetztes Lernen” im digitalen Zeitalter — stand auch im Fokus des aktuellen Meetings von Kanzlerin Merkel, den Ministerinnen und Ministern und dem Digitalrat. Wir alle können und müssen lernen — ein Leben lang. Die Digitalisierung stellt uns vor neue Herausforderungen und macht es notwendig bislang unbekannte Kompetenzfelder zu entdecken. Gleichzeitig bieten sie die einmalige Chance Bildung komplett neu zu denken. “Vernetztes Lernen” ist eine Gestaltungsaufgabe, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt. Die Politik sollte die Voraussetzungen hierfür schaffen. Unser Digitalratsteam wird Sie — auch auf diesem Blog — auf dem Laufenden halten.

Als die Kanzlerin mich vor einem Jahr anrief, war ich skeptisch. Ich habe mich gefragt, ob ich als Wissenschaftler und Unternehmer der Regierung überhaupt helfen kann. So denke ich jetzt darüber:

Es gibt Dinge, die ich nicht verändern kann oder bei denen ich mir schnellere Umsetzungserfolge wünschen würde, doch ist es immer einfacher zu kritisieren, als selbst mit anzupacken und neue Lösungen voranzutreiben. Und es gibt Dinge, die ich in den letzten Jahren gelernt habe — viele davon durch Fehler, die ich selbst gemacht habe — und diese Erfahrungen teile ich nun im Digitalrat und mit der Bundesregierung. Eine in einem diversen Team offen gelebte Fehlerkultur und ein positives Mindset gepaart mit agilen Arbeitsweisen sind, davon bin ich überzeugt, die Werkzeuge zum Erfolg — auch zu Deutschlands Erfolg! Und deshalb möchten wir Sie einladen Teil dieses Teams zu sein — Teil des Teams, das Deutschland zum digitalen Gewinner macht. Geben Sie Feedback, diskutieren Sie mit uns, bringen sie Ihre Vorschläge ein. Das Garagentor ist offen. Lassen Sie uns gemeinsam Deutschlands digitale Zukunft gestalten!

Ihr

Ijad Madisch

https://twitter.com/IjadMadisch

P.S.: Ich wurde oft gefragt, was die Kanzlerin über mein Outfit dachte. Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Wir haben darüber nie gesprochen. Auf dem Foto schmunzelt sie allerdings — vielleicht ja auch wegen meiner kurzen Hose :)

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