Demokratie ist nicht Kapitalismus

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Disrupt Democracy
5 min readJan 7, 2017

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Der taumelnde Kapitalismus droht die Demokratie mit in den Abgrund zu reißen — so eng sind die beiden Konzepte miteinander verwoben. Um zu überleben, muss die Demokratie dem digitalen Zeitalter mit einer neuen Gerechtigkeit begegnen.

Ein Debattenbeitrag Georg Diez und Emanuel Heisenberg

Die Krise der Demokratie, die wir gerade erleben, ist direkt verbunden mit der Krise des Kapitalismus. Und wir werden die eine Krise nicht lösen, ohne Antworten auf die andere Krise zu finden.

Tatsache ist: Die Menschen sind verunsichert, genauer gesagt, sie sind verunsichert, ob sie in Zukunft noch gebraucht werden.

In den nächsten 15 Jahren sind laut einer Studie der Universität Oxford 47 Prozent der Arbeitsplätze in den USA durch Automatisierung bedroht. In Deutschland soll der Anteil der Menschen, denen technologisch bedingte Arbeitslosigkeit droht, sogar bei 59 Prozent liegen — das wird die verschiedensten Bereiche betreffen, von Kassiererinnen, LKW-Fahrern und Pflegepersonal bis zu Rechtsanwälten, Journalisten und Ärzten.

Der Kapitalismus, der Sinn an Arbeit koppelt, kann den Menschen kein Versprechen mehr geben. Das verschärft ein existierendes Problem: Schon der heutige Kapitalismus ist emotional tot, und das ist ein Problem für die Demokratie, die so oft in eins gesetzt wird mit dem Kapitalismus.

Die Herausforderung für eine progressive Politik ist es, einen Weg zu finden, Demokratie und Kapitalismus zu trennen, praktisch und theoretisch zu entkoppeln und beides zu reformieren — sonst wird beides scheitern, durch die Ungleichheit, die das System zerstört.

Tatsächlich sollte man, um die herrschende Praxis zu beschreiben, wohl von Oligarchie reden statt von Demokratie und von Finanzfeudalismus statt von Kapitalismus, das gilt etwa für Putins Russland und auch für Trumps Amerika — und der Zug zur autoritären Demokratie ist von Ungarn bis zu den Philippinen zu sehen und wird weiter Fahrt aufnehmen.

Die autoritären Herrscher, so scheint es, sind im Bund mit der Zukunft — während die Demokraten in Theorie und Praxis der Vergangenheit feststecken. Die Politik, so wie sie sich heute darstellt, ist ein Produkt des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Das 21. Jahrhundert erfordert neue Antworten auf neue Fragen und neue Strukturen für eine neue Politik; das 21. Jahrhundert erfordert neue Parteien.

Die Parteien in den westlichen Demokratien, egal ob konservativ oder progressiv, spiegeln nicht mehr die Realitäten wider, weder in ihrem Programm noch in ihrer Praxis: Sie werden dominiert von weißen, alten Männern, das Durchschnittsalter liegt bei 60 Jahren, Frauen sind unterrepräsentiert, zwischen 16 Prozent bei der AfD und 38 Prozent bei den Grünen; und gerade mal sechs Prozent aller Bundestagsabgeordneten haben einen Migrationshintergrund.

Das ist aber nur ein Teil des Problems; die tiefergehende Erklärung für die Schwäche des Parteienspektrums ist: Jeder technologische Sprung hat seine politische Entsprechung.

Die Sozialdemokratie war die Antwort auf die Fragen der Industrialisierung, der Massengesellschaft, des analogen Kapitalismus. Die Grünen und die Umweltbewegung waren die Antwort auf die Fragen des nuklearen Zeitalters, der Verwundbarkeit des Planeten, des Karbon-Kapitalismus.

Für den digitalen Kapitalismus fehlen bislang die demokratischen Antworten; für eine Welt, in der Maschinen vieles von dem tun, was Menschen bislang taten, fehlen die politischen Perspektiven; für die Technologie, deren Wirkung und Einfluss positiv oder negativ sein kann, fehlen die Visionen.

Die Technologie ist dabei der Ausgangspunkt für das Nachdenken über die Gegenwart und die Zukunft; es macht keinen Sinn, sich vor der Technologie zu flüchten und damit vor einer Zukunft, die der Mensch gestalten kann: Jenseits von Techno-Utopismus und Techno-Fatalismus braucht es programmatisch einen dritten Weg, die Technologie des 21. Jahrhunderts zu humanisieren und für alle Menschen gerecht und nutzbar zu machen.

Künstliche Intelligenz, Algorithmen und Roboter können zu einer Gefahr für den Menschen werden oder zu einer Chance; es liegt an uns, diese Entwicklung zu beeinflussen. Die Frage der Technologie ist eng mit der Frage einer progressiven Politik verbunden; sie ist auch mit dem Überleben der Menschheit verbunden, weil der Klimawandel und die dadurch entstehenden Bevölkerungsverschiebungen das 21. Jahrhundert mehr prägen werden als alles andere.

Die Frage der Flüchtlinge ist deshalb so zentral geworden: Die Antwort des 20. Jahrhunderts auf diese Herausforderung war, dass die Gesellschaften des Westens politisches Asyl gewähren. Die Antwort des 21. Jahrhunderts ist bislang Abschottung. Es braucht deshalb eine andere Asylpraxis, wenn der Westen seinen moralischen Anspruch nicht verlieren will. Auch wer aus Not flüchtet, vor den Auswirkungen des Klimawandels oder von Kriegen, die zum großen Teil aus den Verwerfungen der vom Westen geschaffenen Weltordnung entstehen, hat das Recht, das den Menschen zum Menschen macht: zu überleben, gut und gerecht.

Wie das geht, was das bedeutet, was das erfordert — das herauszufinden ist eines der Ziele, die zentral sind für die Demokratie im 21. Jahrhundert. Schulterzucken wird nicht reichen, das Sterben an den Grenzen und der moralische Druck auf die Gesellschaften der Abschottung werden dazu führen, dass sie entweder im Inneren oder im Äußeren an ihren Widersprüchen zerbrechen.

Die Fliehkräfte sind schon deutlich und stark, Alt gegen Jung, Stadt gegen Land, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie — es ist aber eine fatal falsche Lesart der Gegenwart, die hinter diesen Scheinkonflikten steht, denn im Kern sind es ökonomische Fehlentwicklungen, die auf dem Feld der Kultur und der Identität gespiegelt werden; eine Politik des Ressentiments, wobei viele Menschen zu Nation, Rasse, Autorität flüchten, weg von Demokratie, Freiheit, Menschlichkeit.

Wenn man diese Konflikte aber als Chance betrachtet, wenn man sie studiert und sieht, was etwa in der Stadt an Möglichkeiten der Selbstregierung zu finden ist oder was die Realitäten einer lokalen, dezentralen Demokratie sind — wenn man also konstruktiv und positiv auf die Herausforderungen zugeht, dann wird man auch die alten Frontstellungen überwinden.

Entscheidend ist bei all dem der Gedanke der Gerechtigkeit, ein scheinbar alter Begriff, der in Zukunft aber eine ganz neue Bedeutung bekommt. Er setzt sich an die Stelle der Gleichheit, die eine Chimäre der französischen Revolution blieb, etwas, das man fordern konnte und beschränken, auf ein Land etwa, um die Fremden oder die Flüchtlinge fern zu halten.

Gerechtigkeit dagegen ist umfassender. Sie ist an Empatie gebunden, also an die Fähigkeit des Menschen, sich in andere einzufühlen. An diesem Begriff entscheidet sich, was menschliche Politik im 21. Jahrhundert ist, was eine demokratische Praxis und was nicht. Gerechtigkeit, wenn man es ernst meint, steht dabei noch über Freiheit und Individualismus, weil Gerechtigkeit beides bedingt.

Aus diesen Elementen formt sich eine Politik der Zukunft. Durch neue Technologien wird es immer mehr freie öffentliche Güter geben, Information und Unterhaltung werden universell zugänglich und bezahlbar. Ein sinnvoller Umgang mit Energie, Wasser und anderen Ressourcen könnte in einer intelligenten Kreislaufwirtschaft münden, die viele Generation fortbestehen kann, ohne dass massiv die Konsumbedürfnisse der Menschen eingeschränkt werden müssen.

Die Menschen werden immer weniger arbeiten und, das ist die gute Nachricht, immer weniger stupide Arbeiten verrichten müssen. Die Vereinzelung der Menschen im Informationszeitalter und der Lohndruck könnte nachlassen, die sozialen Silos gesprengt werden. In der neuen Wissensgesellschaft könnten neue Formen der Erziehung und Bildung entstehen –­ Ausbildung als die große Ressource einer automatisierten und digitalen Welt wird ins Zentrum der staatlichen Aufgaben rücken.

In lokal funktionierenden Gemeinschaften wird das zivilgesellschaftliche Engagement sich ausweiten und für neue Formen von Vertrauen zwischen Menschen sorgen. Die Zukunft, wie gesagt, ist längst da; was fehlt, sind in der Politik die Personen und die Parteien, die diese Zukunft erkennen, annehmen und gestalten.

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Die Autoren arbeiten mit einer Gruppe von internationalen Co-Autoren an programmatischen Ideen für Demokratie im 21. Jahrhundert. Die Diskurs-Plattform Disrupt Democracy soll 2017 online gehen.

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