Muster der Straße — Der mündige Bürger in Zeiten der Eskalation

Sibylle Kappes
docfilm42
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5 min readJan 17, 2020

Ein Betrachtung zu Ge8en und Hamburger Gitter

Ge8en

“Keine Steine, keine Steine”, skandiert die Menge, die meisten auf dem Boden sitzend. Sie deeskalieren. “And now we fight back, yes?” waren die Worte des schwarz Gekleideten gewesen, die er laut mit belegter Stimme gerufen hatte. Angesichts einer anrückenden Hundertschaft von hinten, Wasserwerfern von vorne und bald anfliegenden Helikoptern ein sensibler Moment. Einer der Altvorderen, Marke Jugendzentrum 80er, redet nun beschwörend auf den wild um sich schlagenden Mann ein. Die Kamera wandert weiter, über die Sitzblockade, einer anrückenden Hundertschaft ‘Robocops’, wie die schwer geschützten Polizeieinheiten scherzhaft in der mit ihr konfrontierten Szene genannt werden, den Lautiwagen mit der sich nun überschlagenden Stimme der Sprecherin, die dafür einen Radiobeitrag über den Kampf um die Straße bei den Worten “…was politisch vielleicht ja so gewollt ist” abwürgt und dann auf die Menschentraube auf dem Acker, in der sich nun der enttarnte Mann befindet. Einer löst sich aus der Menge, kommt auf die Kamera zu: “Bitte, keine Kamera beim Zivibullenouting. Das ist ein Zivibullenouting, man weiß nie, was passieren wird.” Hand vor die Linse. Diskussion. Langsam wandert die Menschentraube auf den Zaun zu, dort wird der schwarz Gekleidete der Polizei übergeben.

©Sibylle Kappes

Die Wasserwerfer ziehen sich zurück. Die Hundertschaft marschiert an der Blockade vorbei, geordnet; keine weiteren Vorfälle. “Habt ihr gehört?”, tuschelt es auf der Blockade. “Da war grade einer…“ Ein besonders großer Helikopter am Himmel, tiefer: `Merkel und Co´, so der Lautsprecher, sind jetzt an ihrem Konferenzort in Heiligendamm gelandet. Dem Grandhotel Kempinski am schönen Ostseestrand — von drei Zaunreihen eingehegt. Hinter der äußersten stehen die Blockierer des 33. Weltgipfels der Großen Acht im Jahre 2007.

Hamburger Gitter

2017 findet das Treffen der G20 in Hamburg statt. 80.000 Demonstranten, 31.400 Polizisten, zwei Tage Gipfel. Die verschiedenen, meist bunten Kund-gebungen ziehen durch die Stadt, wie sonst auch. In einer, der Blauen, be-findet sich der schwarze Block. Bei seinem Zug durch einen Engpass am Hafen, rechts eine hohe Mauer, nach links zwei Meter Absturz hinter einem Gitter, eskaliert die Situation. Steine fliegen, die Polizei greift an und versucht den Schwarzen Block vom Rest der Demonstration abzutrennen. Demonstranten wollen fliehen, kommen nicht raus, das Gitter bricht, Menschen stürzen die Mauer hinab, andere bleiben auf der Straße liegen. Schwere Kopfverletzung, offener Oberschenkelbruch und anderes. Blut und Tränen. Elf Schwerverletzte.

©Hamburger Gitter

Doch was der Öffentlichkeit bleibt, sind die Medienberichte über die folgende Nacht: Im Schanzenviertel keinerlei Polizeipräsenz, die Situation eskaliert. Verbrannte Autos, zertrümmerte Schaufenster, brennende Barrikaden. Schlagzeilen voll Wut und Empörung. Die Chaoten verwüsten das Land.

Mit den bedachten Stimmen von Presse (u.a. Dr. Heribert Prantl, ehem. Chefredaktion Süddeutsche Zeitung), Politikern und Aktivisten (Nils&Julia, Verdi-Jugend Bonn u.a.), Juristen (Gabriele Heinecke, Vorstand Republikanischer Anwaltsverein) und Polizei (u.a. Prof. Rafael Behr, Polizeiwissenschaftler, Soziologe, Akademie der Polizei Hamburg) analysiert nun Hamburger Gitter den Ablauf dieser Ereignisse, von den Hausdurchsuchungen im Vorfeld, über die hastigen, oft verzerrten bis falschen Polizeimeldungen bis zu den Gerichtsverfahren im Nachhinein, bei denen auch ein junger Mann für das Werfen einiger Flaschen mit drei Jahren Haft bestraft wird.

“Ist hier der deutsche Rechtsstaat noch in Balance zu seinen Werten?” wird gefragt.

Auf die enge Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz im Vorfeld des Events wird hingewiesen. Von den persönlichen Verfehlungen Einzelner wird geredet, und davon, dass diese Einordnung längst überschritten ist, dass ein politisches, ein strukturelles Versagen vorliegt, ja, dass vielleicht sogar ein politischer Wille vorhanden ist.

Hamburger Gitter liefert eine akribische Analyse dessen, was sich als Muster zweier Gipfel in den beiden Filmen Ge8en und Hamburger Gitter nachvoll-ziehen lässt, tatsächlich aber die Blaupause vieler Gipfeltreffen war, bei denen es mehrfach zu Toten kam. 2001 in Genua der Student Carlo Giuliani, in Rostock ein überarbeiteter Polizist.

Zehn Jahre zuvor: Die Falschmeldungen von Rostock fallen auf: Clowns spritzen Säure (tatsächlich war es Seifenwasser). Tausend Verletzte bei der Großdemonstration am Samstag vor dem Gipfel (tatsächlich sind es rund hundert): Dazu hunderte Verhaftungen, viele aus fadenscheinigem Anlass (Edding als Brandbeschleuniger), die Dramatisierung eines einzigen bren-nenden Autos. Der Skandal um die Gitterkäfige in der GeSa — Gefangenen-sammelstelle. Der Einsatz von Militär bei Missachtung des Parlaments-vorbehalts.

Schon eine Sicherheitsvorschrift der US-Amerikaner verlangt die Unter-suchung der Unterböden aller Wochen vorher einfahrenden Fahrzeuge. Während des fünftägigen Spektakels muss, wer vom großem Pressezentrum in Kühlungsborn durch den ersten Zaunring in den zweiten, zum kleinen Pressezentrum in Heiligendamm gelangen will, durch einen Gesichtserken-nungsscan. Ein damals neues technisches Verfahren, das getestet wird, so die lapidare Information an dem Eingangstor, ‘Sind Sie einverstanden?´ Das Einverständnis ist obligatorisch für den, der Zugang erhalten will, und so ist wahrscheinlich ein Großteil der politisch interessierten Presse in dieser Woche in einer Datenbank für Gesichtserkennung gelandet. Kommentiert hat das niemand. In den letzten, dritten, inneren Kreis, auf das Gelände des Kempinski, gelangt nur eine Handvoll ausgewählter Journalisten aus den großen Medienhäusern. Sie werden das Bild bestimmen, das dann vom Gipfel durch die Hände ihrer Kollegen um die Welt geht.

Betrachtet man das Umfeld unscharf, findet sich Hamburger Gitters Antagonist Timo Zill, Pressesprecher der Hamburger Polizei, 2016 unter ansonsten explizit Rechtsgesonnenen auf der Rednerliste der Hamburger AfD-Veranstaltung Fraktion im Dialog, zuvor sprach dort schon Verfassungs-schutzchef Torsten Voß. Nimmt man zur Kenntnis, dass in den letzten Jahren in Polizeikreisen mehrfach Rechtsradikale aufgefallen und zum Teil suspendiert worden sind, liest sich die Frage — individuelles, strukturelles oder politisches Versagen? — nochmal anders.

Chorgeist

Nach dem Gipfel, in der deutschen Medienlandschaft herrscht wieder Frieden. Für die lustigen, informativen, geselligen Seiten der Blockaden bleibt wenig Raum. Was von den Bemühungen der Zivilgesellschaft wesentlich im Vordergrund stehen wird, sind die Ausschreitungen, die Vermummten, die Steine, die vermeintlich dramatisch eskalierte Gewalt. Letztere bestimmen das Bild des Gipfelprotests in der Bevölkerung. Die Verletzten sieht keiner.

Im Rückblick sind es die Falschmeldungen, die durch ihr gehäuftes Auftreten ihren Nachrichtenwert bis heute haben. Im Kontext der Proteste stehen sie im eindeutigen politischen Zusammenhang. Die häufigen Fake-News der letzten Jahre sind gestreut, schwer zuzuordnen. Und eine Herausforderung für den mündigen Bürger.

Sibylle Kappes ist Regisseurin von Ge8en

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Ge8en

Hamburger Gitter

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