Das „zufällige“ Treffen an der Haltestelle

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Echoes from Novlet
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17 min readJan 31, 2016

Neben ihm stand sie nun. Wesentlich kleiner als er war sie. Seit einer Weile wusste er, mit welchem Bus und von welcher Haltestelle die Kleine den Rückweg von der Schule antritt. Er wusste auch, dass ihr Schultag an diesem Tag kürzer war als üblich. Um 10.25 endete ihre letzte Stunde. Die Gelegenheit war ideal. Zuvor hatte er einen kleinen, belanglosen Rundgang in einem Kaufhaus mit einem Freund eingelegt. Gegen zwanzig vor elf erreichte er die Haltestelle und traf wie erwartet die Kleine an. Sein mittellanges Haar war einigermaßen durchnässt von dem Regen, der an diesem Herbsttag in der Stadt herrschte. Unter einem orangefarbenen Regenschirm versteckte sich die in eine violette Jacke gekleidete Kleine und stach damit merklich aus dem vorherrschten Grau des Tages hervor. Unter dem Regenschirm, dessen überdimensionierte Ausmaße in keinem Verhältnis zum kleinen Körper seiner Besitzerin standen, sah er nur die zierlichen Beinchen der Kleinen. Wäre sie ihm aufgrund der Farben nicht ins Auge gestochen, hätte er sie locker übersehen können, denn sie befand sich nicht mal annähernd auf Blickhöhe.

Unmut in der Seele

Einen kurzen Moment noch hielt er inne und dachte nach, ob er es tun sollte. Dann aber sprach er sie an: „Hi, alles klar?“ Zuerst sah sie ihn etwas verwundert an, dann aber antwortete sie:„Danke, gut.“ Schweigen. „Habt ihr noch viel verdient auf eurem Fest?“ Wieder sah sie ihn etwas befremdlich an und sagte schließlich: „Ja, viel genug. Danke für deine Spende.“ Wieder Schweigen. Schließlich zerriss der ankommende Bus die Stille. Vor Enttäuschung über diese klägliche Unterhaltung vergaß er ganz, sich eine Fahrkarte zu kaufen und ging einfach so hinterher. Da der Busfahrer dies bemerkte, komplimentierte er ihn sofort wieder aus dem Bus und kassierte 40 € von ihm. Mit hämischen Grinsen und den Worten „Manche lernen es einfach nie!“ stieg der Busfahrer wieder ein und ließ ihn im Regen stehen. Nun war auch noch ein Großteil des Taschengeldes für diese Woche weg. Und er wollte sie doch am Wochenende mit ins Kino nehmen. Betrübt von dieser Tatsache entschloss er, sich zunächst eine Flasche Sambuca zu kaufen, um auch den letzten Rest des Geldes, welches ihm schadenfroh aus dem Geldbeutel entgegenlachte, loszuwerden. Er nahm einen kräftigen Schluck und trat den Weg nach Hause zu Fuß an. Nach einer halbstündigen Ewigkeit, in der er über jene Gestalt in violetter Jacke sinnierte, stand er dann vor seiner Wohnungstür. Schlüssel umdrehen und drinnen. Er steuerte geradewegs auf sein Zimmer zu. Nun brauchte er erst mal seine Ruhe. Schon des angetrunkenen Zustands wegen war es nicht sehr sinnvoll, dass seine Mutter ihn bemerkte. Nachdem er dann endlich in die richtige Tür abgebogen war, fiel er in seinen Sessel vor den Computer. E-Mail — nichts Neues. „Denkt also mal wieder keiner an mich“, redete er vor sich hin in leicht ironischem Ton. Schon gleich öffnete er das Jabber-Chatfenster, um sich mit einem entfernten Freund, welcher momentan die selben Probleme hatte wie er, über die vorherige Situation zu unterhalten. Dieser brachte ihn auf eine Idee.

Eine geniale Idee?

„Es ist doch klar, dass deine Kleine nur sehr einsilbig antwortet, wenn sie damit beschäftigt ist, auf ihren Bus zu warten“, waren die weisen Worte seines Chat-Kollegen. Diese Worte stießen eine Lawine von Gedankenfetzen an, die durch sein Gemüt wälzte, nachdem er sich zum intensiven Nachdenken auf sein Bett geworfen hatte. Gleichermaßen berauscht von der Flasche Sambuca und der mehr oder weniger anregenden, vom Zufallsmodus erwählten Musik malte er sich alle möglichen Ideen aus, wie er eine Begegnung mit der Kleinen arrangieren könne, die den beiden eine angenehmere Gesprächsform ermöglicht. Immer wieder wurden seine Gedanken durch manche Lieder, die aus seinen Lautsprechern krächzten, unterbrochen. Doch plötzlich gebar er einen ebenso simplen wie genialen Gedanken. Mit Halloween stand ein Fest vor der Tür, das die Aktivität in praktisch jedem Kind erweckt. „Ich muss einfach nur ein bisschen ‚Süßes oder Saures‘ mit der Kleinen spielen gehen“, schoss es in ihm hervor. Überwältigt von seinem Einfall drehte er sich auf den Bauch, kreuzte die Beine, wippte mit selbigen passend zur Musik hin und her und philosophierte bis ins kleinste Detail, wie genau sein Halloween wohl aussehen werde. Doch noch ahnte die Kleine ja nichts von dem, was in Form von Gedanken und Tagträumen durch seinen Kopf schwebte.

Halloweenshoppingtour auf Onkel Alfreds Kosten

Ja dachte sie denn überhaupt an ihn? Oder über ihn nach? Seinen kreativen Ergüssen zum Halloweenfest folgend, taten sich einige Gedanken auf die ihn mehr und mehr dazu drängten, etwas zu unternehmen, um sich selbst in ihr Gehirn einzubrennen. Ihn unsterblich für sie zu machen. Aber eins war klar für ihn: Dieses Jahr mussten seine Freude auf ihn an Halloween verzichten. Noch drei Tage. Er freute sich wie auf Weihnachten. Vielleicht sogar etwas mehr. Mit „Calling all skeletons“ stimmte der Mediaplayer bereits seine Aktion ein. Aufgestanden, Bildschirm gesperrt, und los. Player ins Ohr, Lärmbremse für die Straße. Mit einem Ruck flog ihm sein rechter Ohrhörer aus der Position. War das das Resultat eines Experimentes mit einem mannsgroßen Magneten? Nein — seine Mutter. „Das hier soll ich dir von Onkel Alfred geben“, sprach sie und drückte ihm 20 € in die Hand. „Dafür, dass du ihm seinen Computer letzte Woche repariert hast.“ Er war sehr erfreut, denn wie er seinen Spaß finanzieren wolle, das hatte er sich noch gar nicht überlegt. Aber nun: raus aus der Wohnung. Besser jetzt als zu spät einkaufen! Der erste Weg führte ihn in den Supermarkt. Vier Dosen Mandarinen und Vier Dosen Ananas. Sein Standardabendessen, wenn der kreative Geist erwacht war. Außerdem bereicherte er die Haarsprayindustrie um ein paar Euronen für grüne Farbe auf dem Haupt. Um die Kurve zur Kasse fand er dann noch ein Regal, komplett vollgeräumt mit Halloweenartikel aller Art. Nach intensiver Durchforstung fand er ein Paar Teufelshörner, welche sogar blinkten. Eingepackt, ab zur Kasse. Die Kassiererin wunderte sich über diesen seltsamen Einkauf, sagte jedoch nichts. Weiter gings zum Elektrogroßhandel, Infrarotleuchtdioden kaufen. Diese und seine kaputte Digitalkamera ergaben ein prima Nachtsichtgerät, wenn auch nur mit begrenzter Reichweite. Aber die Hauptsache fehlte ja noch. Er machte sich sogleich auf den Weg.

Voll-Zombie, oder was?

Die Sonne war inzwischen untergegangen und lies die klirrende Kälte des verregneten Oktobertages noch intensiver auf seiner Haut wirken. Erleichtert, dass er endlich die Kälte hinter sich lassen konnte, kam er bei einem Freund an, in dessen kleiner, stickigen Bude er noch irgendwo eine alte Armee-Jacke, die er einmal aus Langeweile auf einem Flohmarkt erstanden hatte, liegen hatte. Der Freund war ein wenig überrascht über den Besuch und fragte, wozu er diese olle Armee-Jacke noch brauchte. Natürlich wäre es ihm unangenehm gewesen, seine Pläne und sein Empfinden für die Kleine zu offenbaren. Also flüchtete er sich in ein monotones „für Halloween eben“. Der Kumpel antwortete mit einem gleichgültigen Schulterzucken und suchte sich kommentarlos mit äußerster Vorsicht einen Weg durch den knöchelhohen Bodenbelag aus CD-Rohlingen und Computerzeitschriften — MOF-Lektüre, wie die Freunde scherzhaft die Fachliteratur nannten — und gelangte schließlich an das alte, lederne Sofa, das schon starke, von der Katze des Kumpels verursachte Gebrauchsspuren zeigte. Er war auf dem kurzen Weg dorthin ins Träumen geraten; seine Blicke verweilten gelegentlich einige Moment auf der falsch herum aufgehängten USA-Flagge, auf einem alten, auf dem Boden liegenden Bildschirm und auf allerlei unidentifizierbaren Elektroteilen. Unerwartet schwungvoll warf sich der Kumpel über das Sofa und fischte geschwind die Jacke hinter dem Sofa hervor. Er nahm sie dankend entgegen und trat, ohne in Smalltalk zu verfallen, den Rückweg an. Erst auf halber Strecke, als er flink die große Treppe im Stadtinnern herunter tippelte , bemerkte er, wie beeindruckend es war, dass der Freund ohne zu überlegen wusste, wo in diesem Chaos die Jacke versteckt war. Zu hause angekommen schnappte er sich rote Textilfarbe, die seit einiger Zeit darauf wartete, endlich wieder verwendet zu werden. In wenigen Augenblicken sah die Armee-Jacke recht blutig aus und das war auch gut so. Mit dieser Jacke, ein wenig bleicher Schminke im Gesicht und den haarspray-grünen Haaren würde er ideal in das an Halloween vorherrschende Bild passen. Er hing die Jacke zum Trocknen weg, stellte die Farbe zurück an ihren Platz und widmete sich seinem aus Mandarinen und Ananas bestehenden Abendessen.

Irgendetwas war da doch…

Dosenöffner drauf, einmal rundherum, Deckel ab, Strohhalm rein. Er spürte die kühle Süße des Ananassaftes auf seiner Zunge. Leer getrunken, rein mit der Gabel, Ananasstückchen essen. Elf Uhr abends war es mittlerweile, morgen ein Schultag. Das alles störte ihn wenig. Vielmehr genoss er die Vorfreude. Eine plötzliche Idee ließ ihn aufschnellen und in seinem Schrank eine Kiste Chinaböller suchen. Damit es förmlich brennt an Halloween. Irgendwie übermannte ihn dann doch die Müdigkeit und er fiel ins Bett — natürlich nicht, ohne sich vorher erneut den Gedanken eines gewissen Verlangens zu widmen. Vollkommen angekleidet sank er ins Traumland, traf dort lila Teufel und wankende, komplett rote Ananasstauden. Ein Hase lief ihm über den Weg. Er machte ein penetrantes Geräusch. Er kannte dieses Geräusch; es machte ihn wütend. Er schlug auf den Hasen ein, bis ihm die Hand weh tat. Als er dann endlich aufgewacht war, bemerkte er, dass er seinen Wecker zertrümmert hatte. Schon wieder! Periodisch schlief er wieder ein und schreckte hoch. Schließlich raffte er sich auf und begab sich, noch ganz benommen von dieser Hasengestalt, deren Gesicht er schon mal irgendwo gesehen hatte, zum Schrank und stellte durch den dort montierten Spiegel fest, dass er ja bereits angezogen war. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm dann auch, dass dieser Umstand ganz günstig war, denn er hatte noch genau 2 Minuten, um zum Bus zu kommen. Einen kurzen Sprint später saß er dann auch schon im Bus — diesmal aber mit gültigem Fahrschein. Allerdings war es der selbe Busfahrer, der ihn am vorigen Tage im Regen stehen ließ. Natürlich hatte der Busfahrer es nicht lassen können, ihm erneut ein schadenfrohes Grinsen zuzusenden. Am liebsten hätte er ihn in Stücke geschlagen, genau wie diesen Hasen. Erst jetzt fiel ihm ein, dass ja heute Englischklausur an stand und er sich nie die Mühe gemacht hatte, etwas über die amerikanische Geschichte aus seinem Englischbuch zu lernen. Er schob so etwas immer gern auf die lange Bank. Doch gestern hatte er einfach zu viel zu tun. Leider wusste er, dass so etwas rein gar nichts half. Er musste diesen Test mitmachen. Noch schlaftrunken und etwas benommen vom Blitzstudium seines Englischtextes im Bus trottete er ins Klassenzimmer, in dem sein Englischkurs stattfand. Was er da auf seinem Platz fand, überraschte ihn sehr.

Überraschung?

Ein kleiner, präzise zusammengefalteter Zettel lag auf seinem Platz. “Na, nu?”, dachte er, “Post für mich?!”. Neugierig setzte er sich an seinen Platz und nahm das Stück Papier in die Hand. Er wendete den noch immer zusammengefalteten Zettel hin und her und philosophierte während dessen, welche Nachricht man ihm wohl übermitteln wolle. Wer schrieb ihm? Ist es vielleicht nur Unsinn? Vor lauter nachdenken vergaß er völlig die Englisch-Klausur. Noch ehe er realisieren konnte, dass sein Englischlehrer zum Saal herein kam, nahm ihm selbiger auch schon den Zetteln ab mit dem Kommentar “Hier wird nicht gespickt!” und dem selben verdammten, schadenfrohen Grinsen, wie er es vom Busfahrer schon kannte. Waren denn alle gegen ihn? Sichtlich demotiviert begann er dann die Klausur. Seine Gedanken kreisten mehr um den Zettel und seinen Inhalt als um diese doofe amerikanische Geschichte. Lieblos krakelte er ein paar Antworten hin. So sehr er sich auch anstrengte immer wieder zogen die Gedanken über den Zettel seine Aufmerksamkeit an sich und er nahm die Fragen auf dem Aufgabenblatt auch nur noch sporadisch wahr: “Why blablabla Puritans blablabla?”. Mit einem schnöden “why not?!” beantwortete er dir für ihn immer unwichtiger erscheinenden Fragen. Nach einiger Weile war er auch schon bei der letzten Frage angekommen, ohne bislang irgendetwas sinnvolles zu Papier gebracht zu haben. Er tat so als ginge er seine inhaltsfreien Antworten noch einmal konzentriert durch, während er im Geist nur noch bei diesem einen kleinen verdammte Zettel war. Das Läuten der Schulglocke zerfetzte seine Tagträumerei, worauf er lustlos seine Klausur beim Lehrer abgab. Gerade wollte er sich umdrehen, da überraschte ihn sein Lehrer mit einem beinahe unverständlichen Stottern “D.. das.. war ja gar ähm kein Spicker… tu tut mir l. leid..”. Kommentarlos riss er seinem Lehrer, dessen Gesicht hochrot angelaufen war, den Zettel aus der Hand und machte sich auf den Weg zur Bibliothek, wo er seine Freistunde zu verbringen plante. Beim Verlasen des Saals nahm er eine ihm unbekannte, aber erfrischend sauber geschriebene Handschrift auf dem Zettel wahr.

Lyrik der Angst

“Ich kenne dein Begehr,
doch fürchte ich so sehr,
dass bald meine Not,
dich fordert bis zum Tod.

gez. Ignatius”

Ein ganz neues gefühl kam in ihm auf. Ein Gefühl, dass er so noch nie erlebt hatte. Ein Gefühl der Beklemmung und Angst. Schleichend breitete es sich in seinem Körper aus, dieses Gefühl. Halt. Warum generierte ein solch kleiner Zettel so große Gefühle in ihm? Sollte das denn wirklich eine Morddrohung sein? Es war doch lächerlich. Wer denn sollte zu solch radikalen Mitteln greifen, und vorallem warum? Was hatte er denn verbrochen? Irgendwie hatte er es im Hinterkopf, dass es etwas mit ihr zu tun haben musste. Eine fremde Partei, die sich ins Spiel mischte, und versuchte, die Kontrolle zu übernehmen? Es wusste doch keiner in seinem nahen Umfeld über diese Umstände bescheid. Auch diese Handschrift kam ihm etwas spanisch vor. Es sah aus, wie von einem Mädchen geschrieben, diese sauber und etwas rundlich geführten Buchstaben. Das würde aber absolut nicht ins Gesamtbild passen. Während er so in Gedanken, wie ferngesteuert, die Treppe zur Bibliothek hinaufging, stieß er beinahe mit einer Horde Siebtklässler zusammen. Einer von ihnen, der an der ganzen Schule als Auftreiber und Krawallmacher bekannt war, machte sich lustig darüber und entriss ihm, ehe er sich versah, den Zettel und verschwand damit. Und er wusste: hinterherlaufen bringt nichts. Der Unterstufler war um einiges schneller, und seine Freunde terrorisierten mit seiner Hilfe das komplette Schulpersonal. Den Zettel würde er nie wieder zurückbekommen. “So ein Dreck”, dachte er sich, “jetzt wird aus dem Handschriftenvergleich nichts mehr.” Denn das wäre sein nächster Schritt gewesen. In der Bibliothek in den Verleihlisten die Handschrift vergleichen. Egal, jetzt war es sowieso zu spät. Er versuchte, diese Umstände, so gut es ging, zu ignorieren, schaffte es aber nicht. Immer wieder schossen die Gedanken aus seinem Unterbewusstsein mitten in seine Wahrnehmung hinein. Als er dann schließlich doch die Bibliothek erreichte, loggte er sich zuerst einmal vom dortigen Computer aus zuhause ein, um seine Nachrichten abzurufen. 13 neue. “Hoffentlich finde ich dort schönere Sachen, als gereimte Todesgedichte”, dachte er so bei sich, als er die erste Nachricht öffnete.

Schlimmer geht es nicht… ?

Ein tiefes Aufatmen durchfuhr ihn, nachdem er einen prüfenden Blick auf die erste Nachricht geworfen hatte. Endlich geschah einmal etwas Hilfreiches zu richtigen Zeit in seinem Leben. Kein schadenfroher Busfahrer, kein eiskalter, verregneter Oktobertag, keine plötzlich akut-auftretende Englischarbeit — Nein, es war ein Lebenszeichen vom einzigen Mensch, der ihn in dieser Situation verstehen würde, dem entfernten Freund, der eben (fast) genau die selben Probleme hatte wie er. Für einen Moment vergaß er, dass er noch immer inmitten all der Bücher aus längst vergangenen Tagen saß. Normalerweise gibt es nicht, was ihn diesen Geruch nach alten Büchern in diesem kleinen, schlecht beleuchtetem Raum vergessen lies. Doch jetzt war es ganz anders. Vor Freunde hätte er beinahe an die Tischplatte getreten, doch im letzten Augenblick realisierte er noch, dass dies keine gute Idee gewesen wären. Überglücklich hämmerte er gleich einen Hilferuf wegen des ominösen Zettels in die Tasten. Die übrigen Nachrichten verdrängte er einfach gekonnt. Es interessierte ihn nicht einmal mehr, dass die “Dreizehn” bei “13 neue Nachrichten” eine Unglückszahl ist. Nach einer Weile war er endlich wieder einigermaßen ruhig und konnte sachlich über die eben erhaltene Morddrohung diskutieren. Jedes einzelne Wort — nein, sogar jede einzelne Silbe wendeten die beiden präzise hin und her, bis ihm klar wurde, dass wohl nicht er das größere Problem hatte. “Ignatius” schrieb von seiner Not und davon, dass er sich vor den Folgen fürchte. “Ignatius” war also nicht wirklich der böse Feind, der rachsüchtig Todespläne schmiedete, sondern einfach nur ein Mensch, der auch einer Not ausgesetzt war. Für einen Moment beruhigte ihn diese Erkenntnis, bis ihm aber auffiel, dass es dennoch jemanden weiß, was er vor hatte, obwohl er alles recht streng geheim hielt. Zum Nachdenken loggte er sich erst einmal aus und setzte sich an den Arbeitstisch in der Bibliothek.Seine Blicke schweiften von den “Leiden des Jungen Werther” bis “1984”, doch er nahm nur noch unterbewusst die Titel all dieser Bücher wahr. Sein Geist rotierte immer mehr um diese seltsame Handschrift und die wahre Bedeutung selbiger. Die Pausenglocke holte ihn zurück in die Realität. Er rieb sich kurz die Augen, schüttelte reflexartig den Kopf, schwang die Tasche auf den Rücken und machte sich auf den Weg in seine wohlverdiente Pause.

Warten auf das Unbekannte

Zuvor noch geschockt, doch jetzt einigermaßen erleichtert, ging er die Treppe hinunter in die Pausenhalle. Immer das Selbe, alles voller nervigen Kinder aus der Unterstufe. Es kam ihm seltsam vor, so zu denken, wo er doch eine Person genau dieser Größe verehrte. Dieser Mensch war eben etwas besonders. Keines von diesen schreinden, navien, unruhigen und frechen Zwergen, die sich gegenseitig zu Boden streckten, um ihrer noch unkontrollierbaren Kraft etwas Auslauf zu geben. Etwas rabiater als sonst pflügte er sich den Weg zum Vertretungsplan durch, um festzustellen, dass er heute keine Stunden mehr hatte. “Ein Geschenk des Himmels”, dachte er sich, denn jetzt konnte er sein Schlafdefizit etwas nachholen. Oder aber auch noch etwas warten und an einer gewissen Bushaltestellen einen zufälligen Abstecher machen. Allerdings entschied er sich für ersteres, da sein Kopf die Füße schon nicht mehr richtig koordinieren mochte. Auf dem Weg nach draußen traf er den abschäulichen Kerl wieder, der ihm den Zettel abgenommen hatte — doch diesmal alleine. Auch sah er nicht mehr ganz so hämisch und herausfordernd drein wie sonst. Richtig blass wirkte der Unruhestifter. Der Unterstufler meinte mit knappen Worten nur: “I… ich fasse deine Zettel nie wieder an!” und rannte weg. Verdutzt sah er auf den Boden und bemerkte, dass es DER Zettel war, der da nun lag. Allerdings sah das Miniaturschriftstück nun etwas anders aus als vorher. Sehr rot, fast schon…. blutrot! Man sah die feinen Linien der Fingerabdrücke des Krawallkindes sehr deutlich. Anscheinend musste der Terrorist geblutet haben, als er den Zettel in der Hand hielt. Vielleicht war das ein Zeichen, dass diese Nachricht nur ihm galt. Er faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Tasche. Und wieder hatte er diesmal Glück, nun aber mit dem Bus, denn auf dieser Linie fuhr plötzlich ein anderer Busfahrer. Der reguläre vom Vormittag hatte anscheinend einen Unfall und läge im Krankenhaus, wie er den Gesprächen im Bus entnehmen konnte, die einige ältere Personen führten. Er nam sich vor, den Busfahrer im Kranknehaus zu besuchen, und ihn genauso schadenfroh anzugrinsen, wie er es mit ihm am gestrigen Tag gemacht hatte. Dies befriedigte sein Gewissen nur noch mehr, sodass er schon fast vergnügt aus dem Bus ausstieg und sich zuhause aufs Bett fallen ließ, nicht ohne vorher seinen Musikplayer zu starten. Denn das war Teil seines Lebens — Musik. Schließlich dachte er liegenderweise über den Zettel, seine Herkunft und den Autor nach. Die einzig sinnvolle Methode, den Verfasser herauszufinden bestand wohl darin, einfach abzuwarten, bis sich der große Unbekannte wieder melden würde. Und er wusste auch schon, dass er es bald wieder tun würde, wenn es denn um sein heimliches begehren ging. Er klappte seine Augenlider etwas weiter herunter, bis kein Licht mehr in die Augen fiel und döste vor sich hin. Die Mailbenachrichtigung seines Systems schreckte ihn wieder hoch.

Kranke Träume?

Etwas verschlafen und insgesamt ziemlich kraftlos schleppte er sich an seinen Computer. Völlig entnervt klickte er die Hand voll Spam-Emails die er bekommmen hatte weg. In einer sehr gereizten Grundstimmung griff er blind zu seinen Lautsprechern, um sie auszuschalten. Noch mal wollte er heute nicht von irgendwelchen osteuropäischen Potenzmittelverkäufern gestört werden. Seinen Status stellte er auf “Nicht Verfügbar”, sperrte den Bildschirm, drehte sich um und dachte für einen Moment: “Noch ein mal will ich nicht bei meinen kranken Träumen gestört werden”. Kurz vor dem Bett stolperte er über seine eigenen Gedanken. “Krank?”, dachte er. Waren das seine Phantasien wirklich? Auf jeden Fall war es ungewöhnlich, dass ein Kerl wie er plötzlich nichts mehr im Kopf hatte als ein kleines Mädchen. Genau genommen war sie einssiebenunddreißig. Eine ihrer Mitschülerinnen, die er durch die Arbeit bei der Schülerzeitung kannte, hatte ihm das erzählt. Was zählen schon Alter und Körpergröße? “Unwichtige Zahlen, die nichts über einen Menschen aussagen!”, dachte er, “Sie ist einfach liebenswürdig”. Er erinnerte sich zurück an den Tag, an dem er sie kennen lernte. In der Schule war Sommerfest und die Einnahmen waren für wohltätige Zwecke bestimmt. Am Stand der kleinen wurden Helium-Luftballons für eine Luftballon-Flugwettbewerb verkauft. In der festen Absicht, Geld für den guten Zweck auszugeben, ging er hin, musste aber enttäuscht feststellen, dass kein Helium mehr übrig war. Die Kleine verhandelte, was er denn für einen Luftballon ohne Helium bezahlen können, doch er konnte sich nicht darauf konzentrieren, denn sie sanften, gleichmäßigen Bewegungen ihrer zarten Lippen kosteten seine ganze Aufmerksamkeit. “Nun gut. Ich habe Geld dabei und ihr braucht welches. Ich werde euch etwas spenden,” sagte er und bückte sich zur Kleinen runter, um in Augenhöhe mit ihr sprechen zu können, “aber weißt du was ich schon immer mal machen wollte?”. Seine Freunde hinter ihm schauten verwundert und kicherten ein wenig, die kleine beantwortete die Frage mit einem fragenden blick und einem zögerlichen Kopfschütteln. “Ich wollte schon immer mal jemand auf den Schultern durch’s Schulhaus tragen!”. Leute auf den Schultern zu tragen verband er mit dem höchsten Gefühl von Vertrauen, da sich beide auf den Gleichgewichtssinn des anderen verlassen müssen um nicht zu stürzen. Sie willigte ein und war mit einem Ruck auf seine Schultern gehoben, denn sie wog nicht viel, was bei ihrer Körpergröße kein Wunder war. “Schneller, schneller!”, befahl sie, nachdem er losgelaufen war. Die beiden wurden sehr verwundert auf dem Weg durch’s Schulhaus angeschaut. Die größte Verwunderung konnte man jedoch von der Gesichtern der Eltern der Kleinen ablesen. Zurück am Luftballonstand setzte er die Kleine wieder ab. Ab dann lächelte sie ihn immer an und begrüßte ihn, wenn sie ihn sah. Das gefiel ihm wirklich sehr. Oft träumte er sogar von ihrem ungetrübten Lächeln und ihrem hübschen Gesicht. Doch immer, wenn er aufwachte, bemerkte er voll Enttäuschung, dass es nur ein Traum war. Er sehnte sich danach die Kleine öfter zuhören, wenn sie mit ihrer klaren Simme teilweise ein wenig umgangssprachlich, fast flapsig sprach und der Klang ihrer Worte von der reinen und wahrhaftigen Lebensfreude zeugte.Das war das einzige was er wollte; es ging ihm nicht um diesen vorpubertären Kinderkörper.
Voller Gedanken lag er nun da auf seinem Bett, phantasierte von der Kleinen und bemerkte nicht, wie er langsam einschlief.

Angezettelt…

Ein paar Stunden später erwachte er. Er war schweißgebadet und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Leider konnte er sich nicht mehr an den Traum erinnern, den er hatte. Wie spät war es? Ist das die Morgendämmerung oder die Abenddämmerung, die das Zimmer so seicht beleuchtete? Es war die Abenddämmerung. Also hatte er nur den Nachmittag verschlafen. Die Nacht würde nun ihm gehören, um seinen Gedanken und Träumen etwas Luft zu geben. Kurzerhand griff er zu seinem Mobiltelefon und schrieb eine Nachricht an das einzige Mädchen seines Alters, in das er je Vertrauen gehabt hatte. Katharina. Irgendwie musste er es herauslassen. Alles. Zuvor aber setzte er sich noch an seinen Rechner und erfuhr durch eine e-Mail seines etwas weiter entfernten Freundes, dass dieser beabsichtigte, ihn zu besuchen. Dies freute ihn sehr und er sagte sofort für das kommende Wochenende zu. Kaum hatte er geantwortet, hörte er schon Bibi Blocksberg “Hex Hex” sagen — eine neue SMS, das konnte nur Katharina sein. Aber er wurde enttäuscht. Was für in komischer Absender. “12345”. Und dann erst die Nachricht — sie bestand nur aus einem einzigen Wort: “Blutsrache”. Nun setzte es endgültig bei ihm aus. Hektisch wählte er Katharinas Nummer, denn da ihre Eltern sehr wohlhabend waren, war ihr Haus entsprechend gesichert. Nach zwei Klingelzeichen hörte er auch schon ihre Stimme, und hektisch lud er sich zu ihr nach Hause ein. Sie war überrascht, aber fragte nicht nach den Details. Die öffentlichen Verkehrsmittel erschienen ihm nun zu unsicher. Er packte den Autoschlüssel seiner Eltern und stürmte aus der Wohnung. Nach vier Minuten Autofahrt kam er schließlich vor dem großen Tor an, welches gleich bei der Ankunft geöffnet wurde. Langsam glitt es auch. Zu langsam für seinen Geschmack. Ein bisschen stellten sich seine Nackenhaare auf, so eingesperrt in diesem Auto. Endlich war der Weg frei und er setzte seinen Weg fort. Er parkte das Auto auf dem Besucherparkplatz und sprintete zur Tür, an der seine beste Freundin auch schon wartete. Sie packte ihn und schleifte ihn in ihr Zimmer. Wusste sie schon irgendetwas, dass sie so rabiat mit ihm umging? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. “Hey, hör mal, was trägst du da für Sachen durch die Schule? Gut, es war nur der Bruder von Nicole, aber trotzdem — Körperverletzung als Streich ist ja wohl doch etwas übertrieben!”. Sie meinte den Zettel. anscheinend hätte sie davon gehört. “Tut mir leid”, sagte er, “ich weiß selbst nicht wo der Zettel herkam, und was er mit anderen Menschen außer mir macht. Ich hab ihn auf meinem Tisch in der Schule gefunden — hast du ne Ahnung, wer sowas da hinlegt?”. “Nein, aber lass das Ding mal sehen!”. Er zeigte es ihr. Sie wollte den Zettel in die Hand nehmen, doch das schien keine gute Idee gewesen zu sein. Er hörte nämlich einen kurzen Kreischlaut an seiner rechten Seite. “Aaaaaghrrr, das Ding hat mir nen Schlag versetzt!”. “So ein Blödsinn. Ist doch nur n Zettel!”, sagte er, nicht ohne einen etwas mulmigen Unterton. “Ich glaube, den fasst du lieber nicht mehr an. Vielleicht ist das Ding ja verflucht oder so. Du, ich glaub, ich muss dir etwas erzählen.”, begann er, und erzählte er die ganze Geschichte über sein Verlangen und die seltsamen Nachrichten. Da seine Kumpeline sehr offen war, hatte sie auch kein Problem mit seiner Zuneigung gegenüber dieser zarten Gestalt. Aber nun schien auch sie etwas Ratlos über diese Botschaft. “Ignatius — irgendwo hab ich diesen Namen schonmal gehört. Das bedeutet irgendwas.”, meinte sie nachdenklich und verschwand aus dem Zimmer.

Story by Funatiker (Martin Köhler), JayL (Daniel Fischaleck) · November 2008 –August 2009 · Originally published on novlet.com

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