“Intuition und Sehnsucht sind Wegweiser”
Intuition, Kreativität und das Potenzial des Bauchgefühls bei der Lösung von Problemen: Im Gespräch mit Kunsttherapeutin und Kunsthistorikerin Nadja Parisi.
Liebe Nadja, welche Bedeutung hat Intuition für dich?
Für mich persönlich ist Intuition ein Gedanke, der nicht vom Kopf herkommt und schon oft durchgekaut worden ist, sondern der spontan auftaucht. Intuition ist Bauchgefühl, hat also ganz viel mit Emotion zu tun und bringt mich ins Spüren. In meinem Berufsfeld ist Intuition etwas sehr Wichtiges. Es geht in der Kunsttherapie darum, intuitiv Dinge hervorzubringen. Vor allem das Problembehaftete, wie Gefühle, Erfahrungen und ihre Auswirkungen, die Menschen als negativ empfinden, sollen in der Kunsttherapie intuitiv befreit werden.
Wie drückt sich Intuition aus?
In Form einer Eingebung, eines Geistesblitzes. Etwas kommt plötzlich, ohne bewusst gesteuert worden zu sein. Einen intuitiven „Gedanken“ erkenne ich daran, dass er sehr viel stärker ist als ein reiner „Kopfgedanke“ — eben, weil auch Emotionen damit verbunden sind. Seit der Aufklärung setzen wir Menschen lieber unseren Verstand ein, nach dem Motto „Cogito ergo sum“. Wir nehmen an, der Verstand mache uns aus, und erhöhen ihn. Denken, Fortschritt, Verbesserung — damit stellen wir uns über das Tierreich, manche sogar über andere Gesellschaften oder Kulturen. Dadurch geht viel Intuition verloren.
Welchen Stellenwert sollte Intuition deiner Meinung nach haben?
Die Balance ist wichtig. Intuition ist ein wertvolles Werkzeug, das mir Richtungen aufzeigen kann. Danach aber sind Verstand und Denken aber natürlich schon wichtig. So entsteht eine Brücke zwischen Kopf und Bauchgefühl: Nach einer intuitiven Eingebung geht es in einen Prozess des Überdenkens und Umsetzens. Es wäre ja dumm, wenn wir unseren Erfahrungsschatz nicht nutzen würden!
Beispielsweise malt eine Person in der Therapie ein Bild mit zwei Blumen, die nah beieinanderstehen. In der Reflexion erkennt die Person in diesen zwei Blumen sich selbst und die Partnerin oder den Partner und nimmt diese dargestellte Nähe dann intuitiv als erdrückend wahr. Im Prozessverlauf tauchen in Folge wichtige Fragen auf, wie zum Beispiel: „Wie viel Abstand brauchen die Blumen auf dem Bild zueinander, um sich wohl zu fühlen?“ Wesentlich ist dann die lösungsorientierte Phase: „Welche Veränderungen kann ich in meinem Alltag herbeiführen, damit sich das Thema leichter anfühlt?“ Der Kopf steht der Lösungsfindung manchmal im Weg. Wenn wir aber ins Spüren gehen, kann das helfen, neue Ansätze zu entwickeln. Die Intuition kann uns in eine neue richtige Richtung lenken, uns leiten und führen.
Führung — klingt ein bisschen nach einer äußeren Gewalt. Denkst du dabei an Gott?
Als spiritueller Mensch bin ich überzeugt, dass wir alle unseren Seelenweg haben. Die Intuition kann uns helfen, diesen zu finden. Sie funktioniert ähnlich wie die Sehnsucht: Beides sind Wegweiser. Sehnsucht nach etwas zu haben, weist auf einen Mangel hin. Nicht immer müssen es die großen Sehnsüchte sein, wie nach einer Fernreise oder einem anderen Menschen. Vielleicht sehne ich mich auch „nur“ nach einer Tasse Tee und fünf Minuten Pause. Das zu erkennen, ist ein Geschenk. Ich darf mir dann die Frage stellen: Was brauche ich? Wie kann ich meinen Weg adjustieren, damit ich diesen Mangel füllen kann? Intuition funktioniert ähnlich, auch sie regt solche Fragen an und leitet uns.
Klappt das immer auf Anhieb?
Manches muss vielleicht öfter passieren, damit es uns bewusst wird. Hier kommt das Prinzip der Verstärkung zum Tragen. Intuition mag oft nur so leicht wie der Flügelschlag eines Schmetterlings erscheinen. Aber wenn ich diese subtilen Wahrnehmungen ständig wegdrücke und mich nicht damit beschäftige, können große Gefühle, wie Frustration, Aggression und Traurigkeit auftauchen. Im schlimmsten Fall ignoriere ich eigene Bedürfnisse so lange, bis sogar psychosomatische Erkrankungen entstehen. Sprichworte bringen das gut zum Ausdruck: Etwas schnürt einem die Kehle zu, etwas geht einem an die Nieren, die ganze Last liegt auf den Schultern — wenn ich in einem Beratungsgespräch solche Sätze höre, werde ich aufmerksam und frage nach. Was ist es denn, was dir an die Nieren geht? Welche Last drückt so sehr, dass Schulterverspannungen und Kopfweh dich plagen? Unser Geist-Körper möchte, dass wir aufmerksam werden und etwas verändern. Wenn wir die feinen Zeichen nicht hören, die intuitiv kommen, sucht er andere Wege, manchmal in Form einer Angina, eines Burnouts oder chronischer Beschwerden.
Wenn ich nun verlernt habe intuitiv zu sein, wie kann ich es wieder werden?
Die Intuition wird verstärkt, wenn ich positive Erfahrungen damit mache, sie als Geschenk erkenne und ihr im Alltag mehr Aufmerksamkeit gebe. Der Verstand ist gut darin, vieles gleich wieder herunterzukategorisieren. Wie oft passiert es, dass ich an jemanden denke und plötzlich meldet sich diese Person tatsächlich. Dann sagt der Kopf vielleicht: „Ach, das ist doch nichts!“ Es ist wichtig, dass ich wieder Vertrauen gewinne in die Intuition und hellhörig werde. Kunsttherapie schult uns, spontan Aufploppendes bewusst wahrzunehmen. Das Assoziieren ist dabei eine gute Technik: Beispielsweise werden den Klient*innen Farben vorgelegt und nach Assoziationen mit dieser Farbe gefragt. Wichtig ist, dass die Wörter heraussprudeln dürfen und nicht zu viel darüber nachgedacht wird. Es geht weniger um Übernommenes, wie „Gelb ist die Sonne“, sondern um persönliche Verknüpfungen, die sich spontan ausdrücken und auf Glaubenssätze hinweisen. Diese intuitiven Assoziationen werden genutzt, um tiefer ins Gespräch zu gehen.
In welcher Weise unterstützen Kunsttherapeut*innen diesen Prozess?
Indem wir das Bewusstsein dafür schulen, was passiert — nicht nur unter Anleitung in der Beratung, sondern auch im Alltag. Ein Beispiel: Das Handy läutet, ich sehe nach, wer anruft, und denke mir beim Lesen des Namens spontan: „Oh Gott, bitte nicht!“ Wer sich bewusst ist, welches Geschenk die Intuition ist, wird sich fragen, was hinter diesem Impuls steckt.
In der Prozessbegleitung stellen wir in erster Linie Fragen. Wenn ein*e Klient*in einen Bereich ganz schwarz übermalt hat, steht natürlich die Frage im Raum: „Warum hast du diesen Bereich so gestaltet?“ Das sollte aber völlig ohne Wertung geschehen, denn ein Recht auf Interpretation habe ich als Beraterin nie. Ich kann nicht davon ausgehen, dass diese Person automatisch depressiv ist. Denn vielleicht assoziiert mein Gegenüber mit der Farbe Schwarz etwas ganz anderes als ich. Einzig die Person, die das Bild gemalt hat, hat ein Recht auf Interpretation. Es ist ihre Wahrnehmung, ihr Gefühl, ihre Geschichte. Und schließlich soll ja auch der Lösungsweg ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten entsprechen.
Klappt das immer auf Anhieb, dass die Klient*innen in den kreativen Schaffensfluss kommen?
Ein wichtiger Teil der Anleitung ist es, einen Rahmen zu schaffen, der die Scheu vor dem kreativen Schaffen nimmt. Viele von uns haben im Laufe des Lebens einen Knacks bekommen, weil sie mit einer Bewertung konfrontiert wurden. Sie denken dann von sich selbst: „Ich zeichne wie ein*e Volksschüler*in“ oder „ich bin untalentiert“. Diese Blockaden im Kopf überwinden wir in der Kunsttherapie. Es gibt Methoden, die ich gerne in den ersten Sitzungen einsetze, da die Klient*innen gar nicht mitbekommen, dass sie eigentlich schon intuitiv mitten in ihrem Schaffensprozess sind. Es passiert einfach, der Kopf schaltet sich aus und nicht selten ist dann die Reaktion: „Woah, dieses Bild spiegelt genau meine Situation wider!“ In der Kunsttherapie werden Menschen wieder so spontan und intuitiv, dass der Kopf keine Chance hat, etwas wegzuschieben.
Nach diesen ersten Erfahrungen ist dann bei Folgeterminen schon ganz oft Vorfreude spürbar. Weil alles sein darf und es sehr befreiend ist, alles raus zu lassen.
Künstler*innen wissen ja ganz viel über Bildaufbau und die Wirkung von Farben und Formen. Wie ist das mit dem Genie und der bewussten Steuerung? Wo hört kreatives Schaffen auf und wo beginnt Kunst?
In der Kunsttherapie geht es nicht darum, mir das entstandene Werk später aufzuhängen, sondern darum, eine Situation klar zu sehen und herauszufinden, was mir warum zu schaffen macht. Als Künstler*in hingegen habe ich die Absicht, nach außen zu gehen. Hinter Kunst steckt meist eine Botschaft, vielleicht auch eine Provokation oder eine edukative Absicht. Inszenierung spielt dabei natürlich eine Rolle, Künstler*innen haben den Umgang mit Material, Technik und Bildaufbau gelernt. Aber trotzdem nutzen sicherlich viele Künstler*innen ihre Werke, um persönliche Anteile zu bearbeiten. Ganze Kunstströmungen sind so entstanden, wie zum Beispiel der Expressionismus. Das macht die Werke auch authentisch und besonders — und das spüren Betrachter*innen intuitiv.
Für mich hat jedes Werk einen intuitiven Gedanken als Grundstock: Ich nehme mir vor, irgendetwas zu schaffen. Die Wahl des Themas passiert schon intuitiv. Dann mache ich Skizzen. Ich sehe mir die Skizzen an, entdeckte darin etwas und denke spontan: „Das wird mein Bild.“ Vielleicht sehe ich es sogar schon in Farbe und groß vor mir. Wer hat nicht schon in scheinbar belanglosen Scribbles, die während eines längeren Telefonates entstanden sind, im Anschluss die merkwürdigsten Dinge und vielleicht sogar tiefe Einsichten entdeckt?
Ist so ein Scribble, über das ich nachdenke, also auch Kunst?
Alleine die Frage „Was ist Kunst?“ ist eine, die schwer für alle „richtig“ zu beantworten ist. Das sieht vielleicht ein*e Kunsthistorikerin anders als ein*e Hobbykünstlerin und es ist oft schwierig, da einen Konsens zu finden, der für niemanden abwertend ist. Und dann ist da noch mein persönliches Empfinden in der Betrachtung eines Werkes, das sich völlig unterscheiden kann von deinem. Ein Beispiel aus meiner Tätigkeit als Kunstvermittlerin: Nach einer Führung durch die Ausstellung männlicher Akte eines österreichischen Expressionisten kam im Anschluss eine Frau zu mir und sagte: „Ich finde diese Bilder grauenhaft und abstoßend. Das ist doch nicht Kunst!“ Das ist eine persönliche Interpretation. Im Monolog werde ich hier nicht sehr weit kommen, denn ich finde etwas intuitiv abstoßend und das war‘s. Im Dialog allerdings kann das sehr spannend sein: Was genau steckt denn hinter diesem Gefühl? Ist es die Ästhetik der Bilder, die Tatsache, dass es scheinbar nur krakelige Bleistiftlinien auf Papier sind? Sind es die Männerkörper? Fände ich die Bilder schöner, wenn es Frauenakte wären? Oder finde ich die Nacktheit an sich abstoßend? Am spannendsten ist die Frage nach den eigenen inneren Ansprüchen: Finde ich ein perfekt harmonisches Bild einer Madonna von Raffael ansprechender als ein Schüttbild von Jackson Pollock? Bin ich vielleicht selber auch perfektionistisch und muss in meinem Leben und Alltag alles geordnet und geplant haben oder gehe ich Dinge lieber spontan an und schaue, was dabei rauskommt? Es hängt also sicherlich auch von meinen inneren Ansprüchen und Prägungen ab, ob ich Jackson Pollocks Werke für mich persönlich als Kunst deklarieren kann. Oder vielleicht bewundere ich seine Bilder gerade deshalb, weil ich mir in meinem Leben nicht erlaube, so spritzig zu sein. Hier können spannende und inspirierende Prozesse entstehen, wenn jemand offen dafür ist, in die Selbstreflexion zu gehen.
Kann man Inspiration und Intuition gleichsetzen?
Nicht unbedingt. Aber wenn ich mich von etwas inspiriert fühle, passiert das sicherlich intuitiv. Das kann zum Beispiel ein Social Media Profil sein: Ich sehe einen Beitrag, dessen Bild mich spontan anspricht. Dann sehe ich mir diesen genauer an und merke, dass mich auch der Inhalt anspricht. So kann das auch mit anderen Inspirationsquellen sein, wenn ich mich intuitiv darauf einlasse.
Nadja Parisi ist Kunsttherapeutin (in Ausbildung unter Supervision), Lebens- und Sozialberaterin (in Ausbildung unter Supervision), Kunsthistorikerin und Kinesiologin. Seit März 2019 bietet sie in ihrer Praxis für psychologische Beratung in Tirol Einzel- und Gruppensitzungen sowie Workshops und Seminare. Zudem ist sie immer wieder auch als Kunsthistorikerin in der Kunstvermittlung sowie als Kuratorin von Ausstellungen tätig.